11 Uhr 35. Castel Gandolfo

63

Sie waren sogar besser durchgekommen, als Varotto prophezeit hatte. Obwohl die Fahrt sicher die rasanteste seines Lebens gewesen war, hatte Matthias während der ganzen Zeit keinen Laut von sich gegeben und lediglich den Haltegriff mit seiner rechten Hand so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Blick war starr auf die Windschutzscheibe gerichtet gewesen, die waghalsigen Manöver, die Varotto an manchen Stellen vollführte, hatte er jedoch nicht wahrgenommen.

Etwas war zurückgekommen. Etwas, das nicht gut war. Eine Leere, die so vollkommen war, dass Matthias den Eindruck hatte, selbst die Gedanken würden in seinem Inneren als Echo zurückgeworfen. Wie ein schwarzes Loch hatte diese Leere jegliches Gefühl geschluckt. Damals, als er sie zum ersten Mal gespürt hatte, während er auf dem Dach der Bernini-Kolonnaden gelegen und das Gesicht des Frischgewählten durch das Zielfernrohr ins Visier genommen hatte, damals war ihm der Gedanke gekommen, dass vielleicht mehr von seinem Vater in ihm steckte, als er wahrhaben wollte. Und nachdem er den tödlichen Schuss abgegeben hatte, war ihm bewusst geworden, dass dieser ihn darauf konditioniert hatte, in Extremsituationen unbewusst alle Gefühle komplett abzuschalten, die gewisse Handlungen hätten gefährden oder gar verhindern können. Mitleid, Schuld, Gewissen … Bedeutungslos. In den Jahren danach, in der Einsamkeit des Klosters an den Hängen des Ätna, war ihm aufgegangen, dass es ein Schutzmechanismus seines Unterbewusstseins war, ohne den er seine schreckliche Tat nie überlebt hätte. Und nun, in diesem Moment? War diese Leere wieder ein Schutz? Und wenn ja, wovor? Vor dem, was du vielleicht bald sehen wirst, erklärte er sich selbst.

Varotto war dicht an die Sommerresidenz des Papstes herangefahren, die auf einem Hügel über dem Albaner See thronte und den Papstpalast, die Villa Cybo, den Palazzo Barberini, die Gärten des Belvedere und einen kleinen Gutshof umfasste.

Mindestens dreißig Polizei-und Zivilfahrzeuge parkten schon auf beiden Seiten der Zufahrtsstraße, auf der unzählige Polizisten, die meisten von ihnen in Uniform, herumstanden. Einer der Männer in Zivil, der eher wie ein Buchhalter als wie ein Polizist wirkte, kam mit schnellen Schritten auf den BMW zu und beugte sich zu Varotto herunter, der die Scheibe geöffnet hatte. Als er die langen blonden Haare des Beifahrers sah, stutzte er, fing sich aber gleich wieder und sah Varotto an.

»Commissario Varotto?«

»Ja, der bin ich.«

»Commissario Di Manelli. Gott sei Dank sind Sie endlich da. Fast gleichzeitig mit der Meldung, dass der Heilige Vater entführt worden ist, hat die Questura uns darüber informiert, dass er hier irgendwo festgehalten wird. Und dass die Drahtzieher dieser Kreuzwegmorde dahinterstecken könnten und Sie uns vor Ort Instruktionen geben. Also: Wo und vor allem wonach genau sollen wir suchen?«

Während Varotto seinem Kollegen von ihren Vermutungen berichtete und den Einsatzplan erklärte, stieg Matthias aus, sah sich kurz um und bahnte sich seinen Weg dann durch das Gebüsch, das an dieser Stelle die Straße säumte. Nach wenigen Metern hatte er eine Stelle erreicht, die ihm freie Sicht hinunter auf den Albaner See erlaubte. Er verglich die Fotografie mit dem Blick auf den See, während hinter ihm schwere Motoren zu hören waren.

»Hier sind wir falsch«, rief er laut, während er die letzten Zweige vor sich zur Seite bog.

Sowohl Varotto als auch Di Manelli sahen ihn fragend an. Matthias hielt die Fotografie hoch.

»Die Stelle, die auf dem Bild dargestellt ist, muss ein gutes Stück weiter nördlich liegen. Die Häuser am Bildrand sind noch nicht zu sehen. Schnell, die Zeit rennt uns davon.«

Mittlerweile waren die Wagen herangefahren, die Matthias gehört hatte. Es waren Limousinen aus dem Vatikan, die im Konvoi auf sie zukamen. Das erste der Fahrzeuge, ein schwarzer Alpha Romeo, kam mit quietschenden Reifen direkt hinter Varottos BMW zum Stehen. Die Türen flogen auf und vier Männer sprangen heraus.

»Commissario Varotto?«, fragte einer von ihnen, ein etwa 45-jähriger drahtiger Mann, der ein Stück kleiner war als Varotto. Die kurzen, fast völlig ergrauten Haare standen ihm wie eine Bürste vom Kopf ab. Als Varotto nickte, sagte der Mann: »Oberst Gunther Mähler, Kommandant der Schweizergarde. Können Sie mir bitte einen Lagebericht geben?«

Varotto zögerte einen Moment, und Matthias wollte dem Oberst schon erklären, dass dies die falsche Stelle war und sie schnellstens weitersuchen mussten, als das Mobiltelefon in seiner Hosentasche zu vibrieren begann. Eine Entschuldigung murmelnd wandte er sich ab und zog das Gerät heraus.

Schon beim ersten Wort des Anrufers gefror ihm das Blut in den Adern.

»Matthias?«

Noch bevor Matthias sich von seinem Schock erholen konnte, fuhr Kardinal Voigt mit fremder, monotoner Stimme fort:

»Der Papst ist hier bei mir, und sein Leben hängt im Moment einzig und allein davon ab, ob Sie sich genau so verhalten, wie ich es Ihnen jetzt sage. Wenn Sie das verstanden haben, antworten Sie mit ›Ja‹. Dann gehen Sie unverzüglich und unauffällig so weit von Commissario Varotto und allen anderen weg, dass wir unser Telefonat ungestört fortsetzen können.«

Ohne Zögern sagte Matthias »Ja«, während er spürte, wie sich das, was sich auf der Fahrt als Ahnung angedeutet hatte, nun über sein Innerstes senkte wie ein Käfig, der seinen Verstand gegen alle Emotionen abschirmte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sowohl Varotto als auch der Oberst der Schweizergarde ihn beobachteten, und schüttelte den Kopf, als Zeichen, dass der Anruf keine Neuigkeiten brachte. Dann drehte er sich weg und schlenderte, das Telefon am Ohr, betont gelassen die Straße hinunter.

»Es kann mich niemand mehr hören«, sagte er schließlich leise.

Voigts Antwort kam mit einer Verzögerung von zwei Sekunden. »Dann hören Sie gut zu: Ich bin im Vatikan, und wie ich schon sagte, der Papst ist bei mir. Das heißt, er ist nicht dort, wo Sie im Moment sind.«

»Und die anderen Männer? Die damals entführten Jungen?«, fragte Matthias mit ruhiger Stimme.

Der Kardinalpräfekt zögerte lange, wobei Matthias das deutliche Gefühl hatte, dass der Telefonhörer zugehalten wurde.

»Sie sind nicht hier«, erklärte Voigt nach einigen Sekunden. »Das Leben Seiner Heiligkeit hängt wirklich an einem dünnen Faden, und wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, muss ich das Telefonat sofort beenden. Haben Sie das verstanden?«

»In Ordnung«, antwortete Matthias ohne erkennbare Regung.

»Gut. Dann kommen Sie jetzt sofort hierher. An der Porta di Sant’Anna erhalten Sie weitere Instruktionen. Kommen Sie unbedingt allein und verraten Sie vor allem niemandem, wohin Sie fahren. Lassen Sie sich etwas einfallen, was Ihr Verschwinden erklärt. Ich warne Sie: Wenn Sie sich nicht daran halten, wird man hier davon erfahren, bevor sie Castel Gandolfo verlassen haben. Die Konsequenzen können Sie sich sicher vorstellen. Sie haben genau 45 Minuten Zeit.«

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