Sizilien
11
Langsam ließ Matthias den Brief, der dem Sekretär der päpstlichen Bibelkommission am Morgen übergeben worden war, auf den Stapel Zeitungen sinken, die der Kardinal ihm ebenfalls mitgebracht hatte.
»Jesaja, Kapitel 53«, murmelte er. »Der letzte Vers. Die Weissagung über die Kreuzigung Jesu …«
In sich zusammengesunken saß er mehrere Minuten da und schien angestrengt nachzudenken, bis er den Oberkörper aufrichtete und dem Kardinal in die Augen blickte.
»Fassen wir zusammen: In Rom passieren mehrere Morde. So wie die Leichen in Szene gesetzt sind, inszeniert der Täter mit ihnen Stationen des Leidensweges unseres Herrn. Gleichzeitig erhält der Vatikan diesen Brief mit Jesajas Weissagung über den Tod Christi. Damit ist klar, dass der Täter mit den Opfern den gesamten Kreuzweg nachzustellen gedenkt. So weit, so gut. Doch wieso soll da eine obskure Bruderschaft dahinterstecken? Meiner Ansicht nach ist hier ein Geistesgestörter am Werk, der in dem Wahn lebt, er müsse Jesus Christus noch einmal töten. Ein wie auch immer gearteter religiöser Geheimbund verfolgt weitreichendere Ziele. Und zudem bringt er nicht seine eigenen Mitglieder um.« Er stand auf und ging die zwei Schritte bis zur Tür. »Eure Eminenz, Sie brauchen keinen Experten für Sekten, sondern einen Profiler.«
Auch Voigt erhob sich. Er hatte alle Mühe, seine würdevolle Haltung zu bewahren. »Soll das heißen … Sie kommen nicht mit?«
Matthias hatte bereits die Klinke hinuntergedrückt und hielt ihm nun die Tür auf.
»Eure Eminenz, es tut mir leid, dass Sie den Weg hierher umsonst gemacht haben.«
Voigt war perplex. Er hatte damit gerechnet, dass Matthias zögern würde, nach all den Jahren im Kloster in die Welt zurückzukehren. Ein so kategorisches Nein hatte er jedoch nicht erwartet.
Einige Sekunden lang standen die Männer sich stumm gegenüber, dann riss sich der Kardinal zusammen.
»Bitte, Matthias, denken Sie noch einmal in Ruhe darüber nach. Der Justizminister ist fest davon überzeugt, dass dies die Gelegenheit ist, Ihren und unseren Teil der damaligen Abmachung zu erfüllen. Man wird Ihnen eine Menge Schwierigkeiten bereiten, wenn Sie sich weigern. Vergessen Sie nicht, dass man Ihren Fall jederzeit wieder aufrollen kann …«
Matthias antwortete nicht, wandte nur mit ausdrucksloser Miene den Kopf in Richtung Flur, so dass dem Kardinal nichts anderes übrigblieb, als zu gehen.
Kaum hatte sich die Tür hinter Voigt geschlossen, ließ der Deutsche mit den langen blonden Haaren sich langsam auf den Stuhl sinken, legte die Unterarme auf den Tisch und vergrub sein Gesicht darin.
Eine Viertelstunde später wurde nach einem kurzen Klopfen die Tür zur Zelle erneut aufgerissen. Verwirrt blickte Matthias auf.
Hatte Siegfried Kardinal Voigt kurz zuvor noch die Contenance gewahrt, so trat er nun hektisch an den Deutschen heran und packte ihn an der Schulter.
»Es ist etwas geschehen, das Ihre Entscheidung ändern wird. Diese schreckliche Mordserie hat eine neue, ungeahnte Dimension angenommen.«
Noch immer sah Matthias den Kardinal stumm und regungslos an. Aus Voigt sprudelte es jetzt nur so heraus: »Ich hatte gerade ein längeres Gespräch mit dem Justizminister. Es ist ein weiteres Opfer entdeckt worden. Diesmal ist es die vierte Station. Eine Witwe hat ihren Sohn tot aufgefunden. Bei sich im Wohnzimmer.« Der Kardinal beugte sich nach vorn, so dass ihrer beider Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. »Er hat die gleiche Tätowierung wie alle bisherigen Opfer. Und er ist als Kind entführt worden … vor zwanzig Jahren … er war damals acht.«
Stille. Nur der Atem der beiden Männer war zu hören. Bis Matthias nach einer halben Ewigkeit murmelte: »Acht. So alt wie mein kleiner Bruder Franz, als …«
Als sein Mobiltelefon auf der Rückfahrt zum Flughafen wieder ein Netz anzeigte, führte Siegfried Kardinal Voigt ein Telefonat, das nur aus zwei Sätzen bestand.
»Er wird kommen. Gebe Gott, dass wir das Richtige tun.«