Rom. Via Michele Pironti

15

Varotto schreckte hoch und erstarrte mitten in der Bewegung. Wo war er? Die Orientierungslosigkeit dauerte jedoch nur einen kurzen Moment. Erleichtert sank er in die Kissen zurück. Er befand sich in seinem Bett. Über die Laken hinweg blickte er auf den Kleiderschrank, über den kleine, verschwommene Rechtecke aus Licht huschten. Durch das gekippte Fenster wehte ein sanftes Lüftchen herein, das die grob gemusterten Vorhänge leicht hin und her bewegte. Offenbar hatte der Regen endlich aufgehört. Er reckte und streckte sich und warf dann einen Blick auf den alten Wecker auf seinem Nachttisch, ein Flohmarktgeschenk von Francesca. Es war kurz vor neun. Wann hatte er zum letzten Mal so lange und so tief geschlafen?

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Fluchend schwang Varotto die Beine aus dem Bett und öffnete.

»Du?«, stieß er überrascht aus, als er die Frau erkannte.

Alicia Egostina breitete die Arme aus. »Ja, Daniele, ich. Einen guten Morgen wünsche ich dir. Darf ich reinkommen, oder lässt du alte Freunde neuerdings vor der Tür stehen?«

Noch immer sprachlos trat er zur Seite, damit sie an ihm vorbeikonnte. Lächelnd küsste sie ihn auf beide Wangen.

»Schön, dich zu sehen, Daniele, wenn auch zu einer offensichtlich unpassenden Zeit«, sagte sie mit einem verschmitzten Blick auf seinen nackten Oberkörper und die Schlafanzughose.

Varotto sah an sich herunter und kratzte sich verlegen den Kopf. »Ich bin die letzten Tage immer furchtbar spät ins Bett gekommen. Ich zieh mir schnell etwas an. Bin gespannt, was dich so früh zu mir führt.«

 

Als er knapp fünf Minuten später in die geräumige, modern eingerichtete Küche kam, gurgelte die große Espressomaschine gerade Kaffee in die Tassen. Alicia saß auf einem der hohen, lederbezogenen Barhocker, die um eine Theke gruppiert waren, an der Francesca und er sich abends bei einem Glas Wein immer die Ereignisse des Tages erzählt hatten. Vor sich hatte sie einen Aschenbecher stehen, in dem sie nun ihre Zigarette ausdrückte.

»Du kennst dich hier noch gut aus«, sagte er und deutete missbilligend auf die Kippe. »Du weißt, dass ich das hasse.«

»Ah, ich erkenne den alten Daniele wieder!«, entgegnete sie grinsend. »Und du weißt, dass ich es liebe, also sei nett und gönn mir mein kleines Laster. Der Aschenbecher stand übrigens noch an derselben Stelle, an der er immer gestanden hat.«

Wortlos holte er die zwei Tassen mit dem dampfenden Espresso und setzte sich auf den Hocker ihr gegenüber.

Er hatte Alicia durch Francesca kennengelernt, da sie ebenfalls beim ›Cortanero‹ arbeitete, wenn auch in einer anderen Redaktion: Die Journalistin schrieb über den Vatikan, wo sie aufgrund ihrer fairen und objektiven Berichterstattung gerne gesehen war. Sie verfügte über hervorragende Kontakte zur Römischen Kurie und traf sich regelmäßig mit den Direktoren des Presseamts und der vatikaneigenen Zeitung ›Osservatore Romano‹ zum Mittagessen.

»Alicia, ich freue mich ehrlich über deinen Besuch. Aber wie du sicher verstehen wirst, wundere ich mich doch ein bisschen, weshalb du an diesem gewöhnlichen Dienstagmorgen bei mir aufkreuzst«, sagte er schmunzelnd und sah ihr dabei in die Augen. »Soweit ich mich erinnere, bist du eigentlich nie so früh unterwegs; Francesca meinte mal, vor elf bekäme man dich nie zu Gesicht. Also, wieso bist du hier?«

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Ich bin hier wegen dieser schrecklichen Mordfälle, über die wir gestern berichtet haben.«

»Natürlich, die Morde!«, brauste Varotto auf und schlug mit der Hand auf die Theke. »Ich hätte es mir ja denken können. Dir geht’s gar nicht um mich; nicht die Sehnsucht nach mir hat dich nicht länger schlafen lassen, nein, die gewiefte Reporterin nutzt nur ihre persönlichen Kontakte, um als Erste an die neuesten Informationen ranzukommen.«

Vor Staunen war Alicia der Mund offen stehengeblieben. Nun verfinsterte sich ihre Miene. »Du sollst ein zynischer Stinkstiefel gewesen sein, Daniele, bevor Francesca einen umgänglichen Menschen aus dir gemacht hat. Ich konnte das nie glauben. Als ich dich kennenlernte, hatte sie dich ja auch schon unter ihre Fittiche genommen. Jetzt allerdings bekomme ich eine Ahnung davon, wie du davor warst und nun offenbar wieder geworden bist. Ja, ich bin Reporterin. Und natürlich wende ich mich an den ermittelnden Beamten, wenn es um eine Mordserie mit religiösem Hintergrund geht. Das fällt in mein Ressort. Was aber meine persönlichen Kontakte betrifft, so warst du es doch, der Abstand wollte! Du hast mir damals auf der Beerdigung gesagt, du möchtest die Menschen vorerst nicht mehr sehen, mit denen ihr beide befreundet gewesen seid. Ich habe das respektiert. Was aber nicht heißt, dass ich nicht oft an dich gedacht habe; mehr als einmal habe ich überlegt, ob ich dich anrufen soll, und mich dann nicht getraut.«

Wortlos hatte Varotto Alicias Zornausbruch über sich ergehen lassen und dabei einmal mehr festgestellt, dass die 36-jährige zierliche Halbspanierin eine wirklich sehr schöne Frau und ein wahres Energiebündel war. Die durch das Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen ließen ihr langes dunkles Haar rötlich schimmern, ein Erbe ihres Vaters, der aus Galicien stammte, wie sie Francesca und ihm vor langer Zeit einmal bei einem Abendessen erzählt hatte.

»Tut mir leid, Alicia«, sagte er mit schuldbewusster Miene. »Du hast ja recht; ich dachte, ich könnte es nicht ertragen, und wollte mich deshalb von allen abkapseln. Bitte entschuldige … Also, was möchtest du wissen?«

Alicia schmunzelte. »Ganz einfach: Was hast du in Erfahrung bringen können, was meine Kollegen noch nicht wissen?«

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