Rom. Questura, Via San Vitale 15
8
»Was soll diese Geheimniskrämerei, Francesco? Warum wolltest du mir am Telefon nicht sagen, was es mit dem neuen Fall auf sich hat?«
Francesco Tissone blickte von seinem Computermonitor auf. Wie unglaublich müde er aussieht, dachte er kurz, als er seinen Vorgesetzten auf sich zustürmen sah, und deutete auf den im rechten Winkel zum Schreibtisch stehenden Besucherstuhl.
»Erst einmal buongiorno, Daniele.«
»Buongiorno. Ich hoffe, du hattest einen schönen Urlaub«, grummelte Varotto, während er sich auf den Stuhl fallen ließ. »Ich möchte wissen, wie freundlich du noch wärst, wenn du vier Tage kreuz und quer durch Rom gehetzt wärst und jede Nacht höchstens eine Mütze voll Schlaf abbekommen hättest, weil man dich im Morgengrauen schon wieder mit der nächsten Hiobsbotschaft geweckt hat.«
Tissone verzog das schmale Gesicht mit der ausgeprägt römischen Nase zu einem breiten Grinsen. »Bestimmt freundlicher, denn ich bin gut zehn Jahre jünger als du und kann bedeutend mehr wegstecken.« Noch während er die letzten Worte sprach, bereute er sie auch schon. Schnell fügte er hinzu: »Entschuldige bitte, Daniele, das war gedankenlos von mir. Ich weiß ja, dass du …«
»Das gehört nicht hierher«, fiel Varotto ihm barsch ins Wort. »Also, was ist passiert?«
Tissone zog ein Blatt aus seiner Schreibtischschublade und legte es vor Varotto auf den Tisch, auf dem kein Krümel zu sehen war. Varotto hasste Tissones Ordnungswahn, aber er kannte seinen Kollegen lange genug, um zu wissen, dass dagegen kein Kraut gewachsen war. Er beugte sich über den Computerausdruck. Es war das vergrößerte Foto eines Toten. Der Mann saß aufrecht in einem Sessel, den Möbeln nach zu schließen, in einem Wohnzimmer. Um seinen Hals hing eine Kette mit einem kleinen Holzkreuz. Eine Verletzung war nicht erkennbar. Das Alter passte, er hatte lange blonde Haare, trug eine beige Kutte und einen geflochtenen Kranz aus Dornenzweigen.
»Hat man sonst noch was gefunden?«, fragte Varotto, ohne den Blick von dem Foto zu wenden. »Was ist mit der Tätowierung?«
»An der gleichen Stelle wie bei den anderen.«
Varotto sah auf. »Ich habe keine Ahnung, welche Station des Kreuzweges das darstellen soll. Hast du deshalb vorhin gesagt, dass das Ganze immer bizarrer wird?«
Tissone strich sich selbstgefällig über die kurzen schwarzen Locken. »Nein, das kommt noch«, verkündete er in der Gewissheit, eine große Überraschung präsentieren zu können. »Die Frau, die ihn so vorgefunden hat, ist seine Mutter.«
Varotto runzelte die Stirn. »Es ist wirklich furchtbar, dass ihr Sohn ermordet wurde, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hat, Franco, aber ist das bizarr?«
»Nein, das allein nicht, das stimmt. Es ist ein großes Haus, Signora Costali schläft im obersten Stock und nimmt zudem ein Schlafmittel. Aber dass ihr Sohn als Achtjähriger entführt wurde und bis zum heutigen Tag verschollen war, das ist schon absonderlich, oder nicht?«
Varotto stutzte. »Moment! Du sagst, er wurde als Kind entführt, und heute, fast zwanzig Jahre später, ist er wiederaufgetaucht? In ihrem Haus? Als mittlerweile erwachsener, aber leider auch toter Mann? Habe ich das richtig verstanden?«
Tissone nickte ernst.
Varotto ließ sich gegen die Rückenlehne des Stuhls fallen. Eine ganze Weile sagte er kein Wort.
»Das kann nicht sein«, brummte er schließlich. »Das glaube ich einfach nicht. Wie will die Frau ihn denn wiedererkannt haben? Sie hat ihn als Achtjährigen zum letzten Mal gesehen!«
Tissone zuckte die Achseln. »Sie sagte, sie sei sich absolut sicher, dass der Tote ihr Stefano sei. Ich habe natürlich eine DNA-Analyse angeordnet … aber ich kann mir schon vorstellen, dass eine Mutter sich bei so was nicht täuscht.«
Nun endlich, da Tissone zum zweiten Mal das Wort »Mutter« aussprach, dämmerte es Varotto. Er stöhnte auf.
»Er ist ihr Sohn«, sagte er, erhob sich schwerfällig, ging mit hängendem Kopf zum Fenster und blickte hinunter auf den Bürgersteig.
»Wieso glaubst du jetzt auf einmal doch, dass er’s ist? Woher dieser plötzliche Sinneswandel?«, wollte Tissone verwundert wissen.
»Der Kreuzweg, Franco«, sagte Varotto ernst, während er sich wieder zu seinem Kollegen umdrehte. »Die vierte Station: Jesus begegnet seiner Mutter.«
Tissone starrte ihn an, als könnte sein Verstand die Worte nicht verarbeiten, die er gerade gehört hatte. Sekundenlang saß er so da.
»Mein Gott«, sagte er schließlich, »und wir dachten, dass der Täter die Kreuzwegstationen einfach willkürlich auswählt. Wir hielten es für die achte. Als Jesus auf die weinenden Frauen trifft. Denn geweint hat die Signora, das kann ich dir versichern.«
»Aber es war nur eine Frau«, erklärte Varotto. »Wer immer sich diesen Wahnsinn ausgedacht hat, ist ein Perfektionist. Und er will uns jede einzelne Station präsentieren. Wenn du dir die Bilder vom Waldstück mit der fünften Station angesehen hättest, statt hier alles bis zum letzten Bleistift im rechten Winkel auszurichten, wärst du selbst darauf gekommen … Na ja, vielleicht ja auch nicht.«
Tissone schnappte nach Luft, entgegnete aber nichts. So war Varotto eben. So war er früher schon gewesen, bevor er Francesca kennengelernt hatte, und so war er wieder geworden, seit …
Varotto deutete jetzt auf das Foto des Opfers, das noch immer auf dem Schreibtisch lag. »Das ist jedenfalls die vierte Station. Ist die Mutter vernehmungsfähig?«
»Nein, auf keinen Fall!« Tissone hob abwehrend die Hand, als müsste er Signora Costali vor Varotto beschützen. »Sie hat einen schweren Schock erlitten und ist in stationärer Behandlung. Wenn man sich das vorstellt: Sie findet ihren …«
»Und der Vater?«, fiel Varotto ihm ungeduldig ins Wort.
Tissone zog bedauernd die Schultern hoch. »Der ist seinerzeit mit der Entführung nicht fertig geworden. Er hat angefangen zu trinken und ist ein halbes Jahr nach Stefanos Verschwinden von einer Brücke gesprungen.« Er tippte auf einen dicken Ordner, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Steht alles hier drin. Das ist die Akte von damals.«
Varotto begann wütend im Büro umherzugehen. »Die arme Frau … Erst wird ihr kleiner Sohn entführt und bleibt zwanzig Jahre spurlos verschwunden. Und dann bringt man ihn um, weil der Mörder einen weiteren Hauptdarsteller für sein makabres Passionsspiel braucht. Das ist doch der reinste Irrsinn!« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. »Aber … aber das würde ja bedeuten, dass … dass dieser Mord schon vor zwanzig Jahren geplant worden ist!«