Rom. Via Michele Pironti
36
Wortlos trat Varotto zur Seite und ließ Alicia und Matthias eintreten. Er wirkte müde und ausgelaugt, und Matthias fragte sich, ob die Ringe unter seinen Augen auch am Tag zuvor schon so dunkel gewesen waren.
Kaum dass sie im Wohnzimmer Platz genommen hatten, sah er Alicia an. Er gab sich keinerlei Mühe, freundlich zu wirken.
»Hast du von dem Artikel gewusst?«
Sie hob die Schultern und sagte: »Ja. Ich habe dir gestern gesagt, dass in der heutigen Ausgabe ein Artikel erscheint, der dir nicht gefallen wird. Erinnerst du dich?«
»Der mir nicht gefallen wird?«, fuhr Varotto sie an. »Man bezeichnet mich als unfähigen, psychisch labilen Menschen. Mit vollem Namen. Ich muss wohl noch dankbar sein, dass ihr nicht auch noch meine Telefonnummer angegeben habt, damit die Leute mich gleich selbst beschimpfen können. Das hat nichts mit einem Artikel zu tun, der mir nicht gefallen wird, meine Liebe. Das ist Rufmord!«
»Commissario, lassen Sie uns doch …«, wollte Matthias ihn beschwichtigen, doch Varotto brachte ihn mit einem zornigen Blick zum Schweigen.
»Es reicht wohl noch nicht, dass ich meine Frau verloren habe. Jetzt bin ich auch noch meinen Job los. Vielen Dank!«
Schnaubend ließ er sich in den Sessel fallen und starrte vor sich hin wie ein trotziges Kind.
Alicia wartete eine Weile, bevor sie in ruhigem, aber bestimmtem Ton antwortete. »Daniele, ich kann gut verstehen, dass du stinkwütend bist, aber du musst mir glauben, ich habe nicht gewusst, was der Chefredakteur schreibt. Dass sie diese Geschichte mit deiner Krankheit machen würden, habe ich nicht gewusst und ich möchte wetten, dass Azzani das gestern Nachmittag selbst noch nicht wusste. Er hätte es mir gesagt, da bin ich sicher. Irgendetwas muss da passiert sein. Wahrscheinlich eine politische Geschichte. Ich werde versuchen, das herauszubekommen. Aber was auch immer es war – ich habe nichts davon gewusst, und ich hoffe sehr, dass du mir glaubst.« Alicias Stimme wurde leiser. »Ich weiß, wie sehr dich das quält, Daniele, aber es war nicht nur deine Frau, die gestorben ist. Ich habe auch meine beste Freundin verloren.«
Lange sagten sie nichts mehr. Alicia und Varotto saßen einfach nur da; jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Matthias betrachtete sie abwechselnd. Er überlegte, wie er das Gespräch am sinnvollsten wieder in Gang bringen konnte, als Varotto unvermittelt sagte: »Nun erzählen Sie mir endlich, was Sie herausgefunden haben. Ich bin zwar beurlaubt, aber trotzdem noch Commissario. Also …?«
Matthias nickte erleichtert und bemerkte dabei aus den Augenwinkeln, dass auch Alicia ihn ansah. Beginnend mit Alicias Idee, sich die Zeitung vom 4. März 1981 anzusehen, erzählte er dem Commissario von ihrer Suche und davon, wie sie schon aufgegeben hatten und ihm nur durch Alicias resignierten Ausspruch über die Sternenkonstellation die Verbindung aufgefallen war. Varotto hörte gebannt zu. Als Matthias erklärte, was seiner Meinung nach die Tätowierung zu bedeuten hatte, zog er die Brauen hoch und formte mit dem Mund ein lautloses »Oh«, hörte aber weiter zu und unterbrach ihn kein einziges Mal, bis zu der Stelle, an der Matthias sagte: »Deshalb glaube ich, dass jemand schon lange vor diesem 4. März 1981 davon überzeugt war, dass sich an dem Tag die Geschichte wiederholt und Gott seinen Sohn ein zweites Mal auf die Erde schickt. Und …«
Abrupt hob Varotto die Hand. »Moment!« Traurigkeit und Schmerz waren aus seinem Gesicht gewichen und hatten Ärger Platz gemacht. »Sie wollen mir ernsthaft erzählen, dass Gott seinen zweiten Sohn auf die Erde geschickt hat, weil zwei Planeten unseres Sonnensystems sich ein wenig näher gekommen sind? Entschuldigen Sie, aber … sind Sie nicht ganz bei Trost?«
Matthias runzelte die Stirn, schluckte die Beleidigung aber hinunter. »Sie sollten mir besser zuhören, Commissario Varotto. Ich sprach nicht von seinem zweiten Sohn, sondern davon, dass er seinen Sohn wieder auf die Erde geschickt hat. Und zweitens – und das ist der wirklich bedeutende Unterschied – war keine Rede davon, dass ich glaube, dass Gottes Sohn wiedergeboren wurde. Ich sprach davon, dass irgendwer das glaubt.« Er wartete, ob Varotto dazu etwas sagen wollte. Als der ihn nur weiter ansah, fuhr er fort. »Es gibt dabei aber auch noch vieles, das ich nicht verstehe. Wir müssen es noch genau prüfen, aber offensichtlich wurden nur italienische Kinder entführt. Warum? Wohin sind diese entführten Jungen damals gebracht worden? Wo sind sie aufgewachsen? Warum werden gerade jetzt diese mittlerweile erwachsenen Jungen umgebracht? Wir haben meines Wissens weder ein aus religiöser Sicht besonders relevantes Jahr, noch gibt es in diesen Tagen irgendein Datum, das mir auch nur im Entferntesten etwas sagen würde.«
»Und spätestens an diesem Punkt wird die ganze Theorie endgültig ad absurdum geführt«, erklärte Varotto und stieß ein kurzes humorloses Lachen aus. »Das ist lächerlich! Ich darf Ihnen vielleicht ein paar demographische Fakten zu Italien nennen, die Sie als Deutscher möglicherweise nicht kennen. In Italien werden etwa 1300 bis 1400 Kinder am Tag geboren. Wenn wir davon ausgehen, dass sich Jungen und Mädchen die Waage halten, kommen wir auf etwa siebenhundert Jungen am Tag. Wenn nun diese Verrückten tatsächlich denken, Gottes Sohn ist an dem Tag geboren worden, hätten sie doch alle Jungen entführen müssen, die am 4. März 1981 zur Welt kamen, um sicher zu sein, dass der richtige dabei ist. Wie, bitte, soll es aber jemand schaffen, innerhalb von wenigen Jahren siebenhundert Jungen zu entführen und so unterzubringen, dass niemand etwas bemerkt? Von der Frage der Aufsicht, der Ernährung und so weiter einmal ganz abgesehen. Aber selbst, wenn wir das alles außer Acht lassen, muss Ihnen doch eins auch klar sein: Es wäre schlicht ein Ding der Unmöglichkeit, alle siebenhundert infrage kommenden Jungen zu entführen, ohne dass diese Gemeinsamkeit der Polizei aufgefallen wäre. Man kann ja von der italienischen Polizei halten, was man möchte«, er warf einen vorwurfsvollen Blick auf Alicia, »aber das wäre jemandem aufgefallen.«
Matthias nickte. »Ja, wenn es so wäre, wie Sie es geschildert haben, würde ich Ihnen sicherlich recht geben. Aber so ist es nicht. Ich hatte Ihren Kollegen Commissario Tissone heute Vormittag gebeten, die Datenbank nach Jungen zu durchsuchen, die am 4. März 1981 geboren sind und irgendwann in den Jahren danach spurlos verschwanden. Die Suche hat insgesamt 49 Treffer ergeben. Fakt ist, dass das der Polizei nicht aufgefallen ist, Commissario Varotto.« Die Gesichtszüge des Commissario verhärteten sich, Matthias redete aber unbeeindruckt weiter. »Wir müssen diese Fälle miteinander vergleichen. Da wir einen Ansatzpunkt haben, dürften wir relativ zügig herausfinden, was gerade diese 49 Fälle außerdem miteinander verbindet, den anderen 651 zu Ihren geschätzten siebenhundert aber fehlt.«
In diesem Moment klingelte sein Mobiltelefon. Als Kardinal Voigt sich meldete, suchte Matthias im Wohnzimmer des Commissario instinktiv nach einer Uhr, konnte aber keine entdecken. Aber seine Befürchtungen, ihm wäre jegliches Zeitgefühl abhandengekommen und er hätte seinen Termin um 15 Uhr verpasst, wurden von Voigt gleich zerstreut.
»Wo stecken Sie?«
»Bei Commissario Varotto. Er ist …«
»Ja, ich weiß. Sie müssen sofort kommen. Der Heilige Vater möchte Sie sehen.«
Der Papst! Ohne Zögern antwortete Matthias: »Ich mache mich sofort auf den Weg«, und legte auf.
»Das war Kardinal Voigt«, erklärte er. »Ich muss sofort in den Vatikan. Rufen Sie mir bitte ein Taxi?«
»Ich kann Sie doch fahren«, erklärte Alicia, doch Matthias schüttelte den Kopf.
»Nein, bitte bleiben Sie hier.« Dann wandte er sich an Varotto. »Commissario, was werden Sie jetzt tun?«
»Möchten Sie wissen, ob ich jetzt den Rentner spiele? Nein, das sicher nicht. Man hat mir den Fall offiziell zwar entzogen, aber das heißt nicht, dass ich hier nun Däumchen drehen werde.«
Matthias nickte. »Das habe ich gehofft. Wenn Sie Commissario Tissone bitten, Signorina Alicia Kopien sämtlicher Unterlagen über die 49 entführten Jungen zu geben, würde er das tun? Was meinen Sie?«
Varotto nickte grimmig. »Ich würde es Francesco dringend raten.«
»Gut. Dann schlage ich vor, Sie besorgen einstweilen diese Unterlagen, und wir treffen uns anschließend wieder hier. Bis später.«
Als sich die Wohnungstür hinter Matthias geschlossen hatte, sagte Varotto zu Alicia: »Ich weiß wirklich nicht, was ich von ihm halten soll. Kaum bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass man ihn wirklich brauchen kann und er eine Hilfe ist, kommt er mit irgendwelchen Bibelgeschichten an. Und wenn ich dann denke, es sei wohl doch besser, die Sache alleine durchzuziehen, zaubert er eine geniale Eingebung aus dem Hut, die uns einen Schritt weiterbringt. Sag, was denkst du über ihn, Alicia?«
»Ich denke, du solltest Gott – oh, entschuldige –, du solltest dem Schicksal danken, dass man ihn geschickt hat, und deine Wut auf alles, was mit Gott zu tun hat, nicht auf ihn projizieren. Er kennt sich in vielen Dingen aus, die für diese Mordserie sehr wichtig sein können, von denen ein Polizist keine Ahnung hat.«
»Du hast wahrscheinlich recht …«, brummte Varotto und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie eine höchst attraktive Frau war. Ihre Augen funkelten, wenn sie von dem Deutschen sprach. Plötzlich platzte aus ihm heraus, was ihm schon seit Tagen auf der Seele brannte. »Und was hältst du von ihm als … Mann?«
»Das geht dich nichts an, Daniele.«
»Na, entschuldige, du gehörst ja quasi zur Familie, Alicia, da werde ich dich doch fragen dürfen, was du …«
»Zur Familie?«, unterbrach sie ihn barsch. »Francesca war meine Freundin, was aber nicht bedeutet, dass ich dir meine intimsten Gedanken anvertraue.« Sie stockte und biss sich auf die Lippen.
Varotto sah sie stumm an. Sie hatte ihm gerade ziemlich deutlich gesagt, was sie über den athletisch gebauten Deutschen mit den hellblonden Haaren dachte. Warum störte ihn das nur?