Rom. Via Michele Pironti

47

Noch während sie die letzten Stufen im Treppenhaus nahmen, wurde oben schon die Wohnungstür aufgerissen.

»O Gott, was ist passiert? Ich hab mir solche Sorgen gemacht, Daniele, als du ohne ein Wort aus der Wohnung gestürzt bist!«, rief sie mit einem entsetzten Blick auf Matthias’ Oberarm, den ein weißer Verband zierte.

»Es war nur ein Streifschuss«, erklärte Matthias schnell. »Ansonsten geht’s mir gut.«

»Ein Streifschuss? Aber wie …?«

»Lass uns erst einmal reingehen«, sagte Varotto und schob Alicia sanft vor sich her.

Im Wohnzimmer wollte sich Bertoni mühsam von der Couch erheben, in deren weichem Polster er tief eingesunken war. Matthias bedeutete ihm mit der Hand, sitzen zu bleiben.

»Monsignore Bertoni! Danke, dass Sie gekommen sind.«

Er machte ihn mit Varotto bekannt und ließ sich dann vorsichtig in dem Sessel nieder, vor dem er gerade stand.

»Was ist geschehen?«, fragte Bertoni und deutete auf den verbundenen Arm. Er wirkte sehr angespannt.

Matthias wechselte einen schnellen Blick mit Varotto, und als der nickte, begann er vom Anruf des angeblichen Kardinals zu erzählen.

»Mein Gott, das wird ja immer verrückter«, sagte Alicia, als er knappe zehn Minuten später mit der Feststellung des Arztes endete, dass seine Verletzung nur oberflächlich war. »Hast du deine Kollegen schon benachrichtigt, Daniele?«

Varotto schüttelte den Kopf. »Nein, damit handeln wir uns nur Ärger ein. Wenn ich Barberi jetzt informiere, macht er mir die Hölle heiß. Außerdem müssten wir in die Questura, um das Ganze zu Protokoll zu geben und uns verschiedene Stimmaufnahmen anzuhören, um den Anrufer zu identifizieren. Das kostet uns zu viel Zeit.«

»Hm …«, machte die Journalistin und senkte den Kopf. Ganz überzeugt schien sie nicht.

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich einmische, aber ich muss Ihnen etwas sagen, das mir sehr wichtig erscheint.«

Bertoni, der bisher nur reglos dagesessen und zugehört hatte, rutschte auf der Couch etwas weiter nach vorne und richtete sich auf, so weit es die Polster zuließen.

»Kurz bevor ich hierhergefahren bin, habe ich auch einen sehr merkwürdigen Anruf erhalten. Von einem Mann, der behauptete, mich im Auftrag eines alten Freundes anzurufen.«

»Eines alten Freundes? Etwa im Auftrag von Niccolò Gatto?«, wollte Matthias wissen und sprang auf.

»Wer zum Teufel ist Niccolò Gatto?«, fuhr Varotto dazwischen.

»Ein Mann, den Monsignore Bertoni schon als Kind gekannt hat«, erklärte Matthias. »Es kann sein, dass er etwas mit den Morden zu tun hat.«

Varotto sah Matthias aufgebracht an. »Aha. Das ist ja sehr interessant. Es kann also sein, dass ein alter Freund von Monsignore Bertoni mit der Sache zu tun hat. Ein Freund, von dem du offensichtlich schon länger weißt. Und da wir uns vor nicht allzu langer Zeit ausgiebig darüber unterhalten haben, dass wir uns vertrauen müssen, wirst du mir bestimmt von diesem Gallo oder Gatto erzählt haben.« Seine Augen verengten sich. »Zu dumm nur, dass ich mich nicht daran erinnern kann.« Er sah Matthias tief in die Augen, wandte den Blick aber ab, bevor dieser dazu kam, etwas zu entgegnen. »Ist das deine Art von Vertrauen?«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Commissario, aber ich glaube, es wäre wichtig, dass ich Ihnen zuerst von dem Anruf erzähle. Vielleicht könnten Sie die Klärung dieser Sache zwischen Ihnen und Signore Matthias verschieben?«

Bertonis Einwand kam zaghaft, nichtsdestotrotz hob Varotto beide Hände und senkte den Kopf zum Zeichen, dass er nichts mehr sagen würde.

»Wie schon erwähnt, behauptete der Fremde, im Auftrag eines alten Bekannten von mir anzurufen. Ich habe natürlich gefragt, welcher Bekannte. Aber der Mann sagte nur, ich wisse schon, wer, und solle keine Fragen stellen.«

Bertoni griff nach dem Wasserglas, das vor ihm auf dem Tisch stand, und trank einen großen Schluck. Seine Hand zitterte so sehr, dass er das Wasser fast verschüttete.

»Er sagte, die Zeit sei gekommen, dass sich die Prophezeiung erfülle und der Gottessohn seiner Bestimmung entgegengehe. Genau wie vor rund zweitausend Jahren schon einmal. Dieses Mal werde er jedoch nicht für die Sünden der Menschen büßen, sondern für die seines Vaters. Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

»O mein Gott, was sind das nur für Wahnsinnige!«, stöhnte Alicia auf.

»Auge um Auge …«, überlegte Matthias laut. »Hatte das nicht auch Niccolò Gatto gesagt, damals, Sie wissen schon?«

Bertoni nickte bedrückt. »Ja, das hat er. Am Ende sagte der Anrufer aber noch etwas, das vielleicht wichtig sein könnte: ›Seine Burg wird sein neues Golgatha sein. Es ist so falsch wie die Güte seines Vaters.‹«

Eine Zeitlang schwiegen alle, bis Varotto sagte: »Sie geben uns Rätsel auf.«

»Du weißt, dass Jesus auf dem Hügel Golgatha gekreuzigt wurde, oder? Dort steht bis heute die Grabeskirche«, sagte Matthias.

Als Varotto genervt nickte, erklärte Bertoni: »Golgatha lag damals außerhalb der Stadtmauern Jerusalems. Vielleicht hat es etwas damit zu tun?«

»Aber der Mann hat doch von einem neuen Golgatha gesprochen«, warf Alicia ein.

Matthias strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Stimmt. Wahrscheinlich hat der Anrufer uns einen Hinweis auf den Ort gegeben, an dem die zwölfte Kreuzwegstation inszeniert werden soll. Und das … passt einfach nicht.«

»Was passt daran nicht? Dass diese Irren nun auch noch Spielchen mit uns spielen?«

Matthias schüttelte den Kopf. »Nein, dieser ganze Aufwand damals, um die Kinder zu finden, dann die Entführungen überall in ganz Italien. Perfekt geplant und über Jahre hinweg ausgeführt, so dass es der kurzsichtigen Polizia di Stato nie auffiel, dass all die Jungen am gleichen Tag geboren waren.« Matthias merkte, dass Varotto aufbrausen wollte, ließ sich davon aber nicht beirren. »Über zwanzig Jahre haben die Täter die Jungen versteckt gehalten, was eine Menge Geld gekostet haben muss, wenn man bedenkt, dass sie nie entdeckt worden sind. Da steckt ein findiger Kopf dahinter. Und jetzt, wo das Ziel so nahe ist, gibt man uns Hinweise, die dazu führen könnten, dass wir sie kurz vor dem Ende noch erwischen und damit zwanzig Jahre minutiöser Planung zunichte machen? Nein, das passt nicht.«

Varotto wiegte zweifelnd den Kopf. »Grundsätzlich gebe ich dir recht, Matthias. Aber es könnte sich bei dem Anrufer doch auch um einen Aussteiger handeln, der sich an der Organisation rächen möchte.«

»Aber wenn sich jemand wirklich rächen möchte, warum sollte er dann das Risiko eingehen, dass wir seinen Hinweis nicht entschlüsseln können und so unnötig viel Zeit verlieren?«, warf Alicia ein. »Warum sagt er nicht, wo genau das Verbrechen begangen werden soll?«

»Ich sehe es im Grunde genauso«, stimmte Varotto zu. »Deshalb denke ich, die Erklärung ist viel einfacher. Hier sind Psychopathen am Werk. Da kann man unsere Logik nicht als Messlatte anlegen. Wer weiß, vielleicht gibt es denen erst den richtigen Kick, mit einem Hinweis zwanzig Jahre aufs Spiel zu setzen. Vielleicht wollen sie es einfach noch einmal richtig spannend machen.«

Matthias schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Mangels anderer Spuren sollten wir aber auf jeden Fall versuchen, diese Burg zu finden, von der der Anrufer gesprochen hat. Und zwar vor dem 24. Oktober.«

Eine Weile herrschte Stille. Die auf der Straße vorbeifahrenden Autos waren durch die gut isolierenden Fenster kaum zu hören. Matthias sah Bertoni an, der auf den Couchtisch starrte und offensichtlich angestrengt nachdachte.

»Monsignore, Sie erwähnten in unserem Gespräch, dass Niccolò Gatto Ihnen damals gesagt hatte, er lebe in einem Kloster, etwas mehr als hundert Kilometer von Rom entfernt.«

Der alte Mann nickte stumm, woraufhin Matthias sich an Varotto wandte.

»Hast du eine Landkarte von der Region Latium? In einem Maßstab, bei dem man auch kleinere Orte finden kann?«

Der Commissario stand auf. »Ja, sicher. Sie reicht im Norden bis zur Toskana und im Süden bis Kampanien. Da ist auf jeden Fall alles im Umkreis von hundert Kilometern drauf.«

Er ging zu der Kommode aus hellem Holz, die gleich neben der Tür stand, zog die oberste Schublade auf und nahm eine Karte heraus.

Als er die Karte auf dem Tisch ausbreitete, rutschten Matthias, Bertoni und Alicia ein Stück nach vorne, um besser sehen zu können. Matthias’ Augen suchten den Rand der Karte ab, bis er rechts oben die Angabe des Maßstabs entdeckte.

»Hast du auch noch einen Zirkel für mich?«

Varotto überlegte kurz. »Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen. Aber das geht vielleicht auch anders.«

Er verließ das Wohnzimmer und kehrte kurz darauf mit einem roten Stift und einer Nadel zurück, an die er eine dünne Schnur band. Über die Karte gebeugt, setzte er dann die Nadelspitze an den Anfang der Maßstabslinie und markierte die Schnur an der Hundert-Kilometer-Marke mit dem Stift. Dann reichte er die Konstruktion an den Deutschen weiter.

»Das sind hundert Kilometer. Wenn du den Kreis rund um Rom gezogen hast, machen wir das Gleiche noch einmal mit neunzig und mit hundertzehn Kilometern.«

Matthias nickte wortlos und pikte die Nadel ins Zentrum von Rom. Vorsichtig zog er mit dem Stift einen Kreis, der im Nordwesten Montalto di Castro und im Südosten Terracina und Sperlonga an der Mittelmeerküste streifte. Zwei Minuten später waren auch der zweite und der dritte Kreis gezogen.

»Nun müssen wir alle Burgen und Klöster in diesem Gebiet markieren und …«, setzte Matthias an.

». .. und sicher gibt uns dein Gott dann ein Zeichen, welches dieser Klöster das richtige ist«, ergänzte Varotto.

Matthias warf ihm einen leicht zu deutenden Blick zu, woraufhin der Commissario einmal mehr zerknirscht einlenkte.

»Okay, okay, ich hör schon auf.«

»Danke. Also: Wie gehen wir am besten vor?«

»Vielleicht ist es gar nicht so schwer, wie es auf den ersten Blick scheint«, murmelte Bertoni und sah auf seine Hände, die gefaltet in seinem Schoß lagen. Es schien fast, als redete er mit sich selbst. »Wenn Niccolò tatsächlich in einer Art Sekte lebt, kann es sich nicht um ein Kloster handeln, das von einem christlichen Orden betrieben wird. Wir sollten also nach einem Gebäude suchen, das …«

». .. einmal ein Kloster war!«, rief Alicia.

Als Bertoni zustimmend nickte, wandte der Commissario sich an Matthias. »Wie wäre es, wenn du mir als Erstes etwas über diesen Niccolò Gatto erzählst, damit ich endlich auch erfahre, nach wem wir eigentlich suchen?«

Bevor Matthias antworten konnte, sagte Bertoni: »Ich schlage vor, dass ich Ihnen von Niccolò erzähle.«

Der Commissario zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Hauptsache, ich erfahre endlich, wer er ist.«

»Ich könnte währenddessen mit Matthias im Internet nach allen ehemaligen Klöstern suchen«, schlug Alicia vor.

»Gute Idee. Mein Notebook steht in der Küche. Vorher könntest du uns allen aber noch einen Espresso machen. Wie es aussieht, wird es eine lange Nacht.«

»Chauvi!«, fauchte Alicia, während sie aufstand, lächelte aber dabei.

 

Eine Dreiviertelstunde später saßen sie wieder zusammen. Varotto hatte alles Wissenswerte über Gatto erfahren, lediglich die Verbindung zum Papst hatte Bertoni nicht erwähnt. Alicia und Matthias hatten derweil das Internet durchforstet und auch einige Klöster gefunden, doch wurden die Gebäude allesamt noch als solche benutzt.

»Die Idee mit den verlassenen Klöstern hörte sich so gut an«, sagte Alicia, die ihre Enttäuschung kaum verbergen konnte. »Leider haben wir in dem gesamten Gebiet kein einziges Gebäude gefunden, das passen könnte.«

Bertoni wiegte den Kopf hin und her. »Aber das schließt nicht aus, dass es ein solches Gebäude doch gibt. Ein alter Mann wie ich ist vielleicht nicht mehr vollkommen im Bilde, was die Möglichkeiten des Internets angeht, aber sicher lässt sich längst noch nicht alles mit dem Computer finden, denken Sie nicht auch? Vielleicht haben wir bei unseren Überlegungen aber auch einen Fehler gemacht. Oder etwas übersehen …«

»Was das Internet betrifft, gebe ich Ihnen vollkommen recht, Monsignore«, erwiderte Matthias. »Und das bedeutet, dass wir es von hier aus schwer haben, ein Kloster zu finden, das in Wirklichkeit keines ist. Das heißt, so schnell zu finden, wie es nötig wäre.«

Varotto hatte aufmerksam zugehört. Nun schlug er sich an die Stirn. »Monsignore, Sie haben vollkommen recht! Uns ist tatsächlich ein Denkfehler unterlaufen.«

»Was für ein Denkfehler?«, fragten Alicia und Matthias fast synchron.

Der Commissario sah in die Runde. »Monsignore, was schätzen Sie, wie weit ist es von hier bis zum Vatikan?«

Der alte Mann sah ihn verständnislos an. »Etwa drei Kilometer. Warum?«

»Ich behaupte, nicht viel mehr als einen Kilometer.«

Matthias schüttelte den Kopf. »Einen Kilometer? Niemals.«

Aber Varotto blieb bei seiner Meinung. »Doch.«

Matthias hob die Hand. »Moment. Du …« Er stockte, dann riss er die Augen auf. »Mein Gott, jetzt verstehe ich. Luftlinie! Wenn man normalerweise eine Entfernungsangabe macht, meint man automatisch die Kilometer, die man auf der Straße zurücklegen muss. So wie Niccolò Gatto wahrscheinlich auch. Wir aber haben die hundert Kilometer in der Luftlinie abgezirkelt. So betrachtet, müsste das Kloster also ein gutes Stück näher an Rom liegen.«

»Genau. Ich würde sagen, wenn wir in etwa von fünfzig bis achtzig Kilometer Luftlinie ausgehen, könnte das passen.«

Alicia sprang auf. »Das können wir noch exakter haben. Ich suche im Internet mit dem Routenplaner einen Ort, der etwa hundert Kilometer von Rom entfernt ist. Dann schauen wir, wo er auf der Karte liegt, und schwupps, können wir einen neuen Kreis ziehen.«

 

Eine halbe Stunde später schwenkte sie freudestrahlend einen Zettel. Sie hatte tatsächlich zwei Gebäude gefunden, die in Frage kamen. Beides waren ehemalige Klöster, die mittlerweile anderweitig genutzt wurden. Das eine befand sich südöstlich der Hauptstadt am Ortsrand von Veroli und war Ende der sechziger Jahre von der Gemeinde übernommen worden. Das zweite lag in einer Hügellandschaft etwa hundertzehn Kilometer nördlich von Rom. Das nächste Dorf, Marmore, war drei Kilometer entfernt. In der Nähe gab es die beeindruckenden, 290 v. Chr. künstlich angelegten Wasserfälle, die Cascata delle Marmore. Laut der Beschreibung, auf die Alicia im Internet gestoßen war, hatte das Anwesen ursprünglich einem alten Rittergeschlecht gehört. Aus Angst vor Überfällen hatte die Adelsfamilie eine hohe Mauer um den Gutshof errichten lassen, in der zur Verteidigung Schießscharten eingelassen waren. Dieser Mauer verdankte die Besitzung ihren Namen: Il Castello. Anfang des 18. Jahrhunderts hatte die verarmte Familie das Gehöft dann den Benediktinern überlassen. Nachdem der letzte Mönch 1974 das Zeitliche gesegnet hatte, verkaufte die Ordensgemeinschaft das Kloster an einen Privatmann.

Gespannt hatten alle zugehört, aber noch während Alicia die letzten Sätze sprach, runzelte Bertoni die Stirn. Er schien einige Sekunden angestrengt nachzudenken, dann hellte sich seine Miene auf.

»›Seine Burg wird sein neues Golgatha sein. Sie ist so falsch wie die Güte seines Vaters‹«, sagte er gerade so laut, dass die anderen ihn verstehen konnten.

»Was ist damit, Monsignore?«, wollte Matthias wissen.

»Der Anrufer. Er sagte: ›Seine Burg wird sein neues Golgatha sein.‹ Und Signorina Egostina hat ein altes Kloster entdeckt, das den Namen Il Castello trägt.«

Matthias sprang auf. »Aber natürlich! Und auch der nächste Satz passt: ›Sie ist so falsch wie die Güte seines Vaters.‹ Dieses Castello ist eine ›falsche‹ Burg, denn eigentlich ist es ja ein Gutshof.«

Wieder herrschte einige Sekunden Stille, bis Alicia sagte: »Und wie geht’s jetzt weiter?«

Varotto räusperte sich. »Wir sehen uns das an. Wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, verständige ich die Kollegen.« Erleichtert seufzte er auf. »Endlich haben wir eine Spur.«

»Wann brechen wir auf?«, wollte Alicia wissen.

Varotto sah sie an. »Wir? Ich werde mit Matthias alleine hinfahren.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage, Daniele! Und komm mir jetzt bloß nicht mit solchen chauvinistischen Sprüchen wie: ›Das ist viel zu gefährlich für eine Frau.‹ Erstens bin ich Reporterin und zweitens nicht aus Zucker. Und ich weiß, wo dieses Castello liegt. Entweder ihr nehmt mich mit, oder ich fahre alleine hin. Wir können ja eine Wette abschließen, wer eher da ist.«

»Das ist viel zu gefährlich für eine Frau«, antwortete Varotto, doch bevor sie aufbrausen konnte, grinste er breit. »He, schon gut, das war ein Scherz.«

»Das ist endlich wieder der Daniele, den ich kenne.« Alicia lächelte.

Bevor sie das Thema vertiefen konnten, sagte Matthias: »Also dann morgen früh um acht hier.«

Bertoni erhob sich mühsam und wandte sich an Matthias. »Sie haben meine Telefonnummer. Rufen Sie mich an, wann immer Sie mich brauchen. Ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung.«

Matthias nickte. »Vielen Dank, Monsignore. Ich begleite Sie noch hinaus.«

Im Treppenhaus zog Matthias die Wohnungstür hinter sich so weit zu, dass nur noch ein kleiner Spalt offen blieb.

»Haben Sie Kardinal Voigt von dem Anruf erzählt?«, fragte er leise.

Bertoni hob die Schultern. »Er ist mein Vorgesetzter.«

»Verzeihen Sie, Monsignore, aber das beantwortet meine Frage nicht.«

»Nun, bisher kam ich noch nicht dazu, ihm davon zu erzählen, aber ich werde es noch tun.« Bevor Matthias ihn unterbrechen konnte, hob er die Hand. »Ich gebe zu, dass die Geschichte mit dem, was der Kardinal wusste oder nicht, ein wenig seltsam ist. Ich habe noch einmal darüber nachgedacht und bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass Kardinal Voigt schon lange von der Verbindung zwischen Niccolò und mir weiß. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum er es Ihnen gegenüber so dargestellt hat, als wüsste er nichts davon, aber ich bin überzeugt, dass es dafür eine plausible Erklärung gibt.«

Matthias schluckte. Sein Gefühl hatte ihn also nicht getäuscht. Bertoni hatte in seinem Büro versucht, den Kardinal zu decken. Voigt hatte nicht die Wahrheit gesagt. Welche plausible Erklärung sollte es dafür geben?

»Und Sie werden ihm von dem Anruf erzählen?«

»Das muss ich«, antwortete Bertoni.

»Darf ich Sie wenigstens darum bitten, ihm erst Bescheid zu geben, nachdem wir in diesem Castello waren?«

Bertonis Augen weiteten sich. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, Kardinal Voigt könnte etwas mit dieser fürchterlichen Geschichte zu tun haben?«

»Bitte, Monsignore, könnten Sie so lange warten?«

Der alte Mann sah ihn bedrückt an. »Ich denke darüber nach, aber rechnen Sie bitte nicht damit. Das würde ja so aussehen, als zweifelte auch ich an ihm. Das würde er mir nie verzeihen.«

Damit wandte er sich ab und stieg, eine Hand am Geländer, langsam die Treppe hinab. Matthias hielt ihn nicht auf. Bertoni tat ihm leid. Er hatte den alten Monsignore in eine schwierige Lage gebracht, und er konnte nur hoffen, dass er sich in Bezug auf Kardinal Voigt täuschte.

 

». .. das muss er einsehen«, sagte Varotto gerade zu Alicia, als Matthias das Wohnzimmer wieder betrat. Beide sahen ihn ernst an. »Wir haben gerade darüber gesprochen, dass du heute Nacht hierbleiben solltest«, erklärte der Commissario. »Wer immer versucht hat, dich umzubringen, weiß offensichtlich sehr gut über dich Bescheid und könnte …«

»Schon gut«, unterbrach Matthias ihn. »Ich habe auch schon daran gedacht. Mir ist es zwar ein Rätsel, woher der Schütze weiß, wer ich bin und dass ich zum Zeitpunkt seines Anrufs hier war, fest steht aber, dass derjenige mit mir und meiner Vergangenheit ein ernsthaftes Problem hat. Es gibt nichts, weswegen ich heute noch in mein Zimmer müsste. Außer meiner Zahnbürste …«

»Da versucht man diesen Mann vor einem weiteren Mordversuch zu bewahren, und er denkt an seine weißen Zähne.« Varotto sah Alicia an und machte eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger neben seinem Kopf, und Alicia grinste zurück. »Ihr Deutschen seid wirklich ein seltsames Volk. Aber du hast Glück. Ich glaube, ich habe noch eine neue Zahnbürste. Originalverpackt. Ich sehe sofort nach.«

Als Varotto das Wohnzimmer verlassen hatte, schob Alicia die Papiere auf dem Couchtisch zusammen, griff nach dem kleinen Rucksack aus dunkelbraunem Leder, der ihr als Handtasche diente, und erhob sich.

»Ich bin so froh, dass du hierbleibst. Ich hätte sonst wahrscheinlich kein Auge zugetan vor lauter Sorge um dich.«

Matthias registrierte, dass sie wie selbstverständlich zum Du übergegangen war, und empfand es als angenehm. »Ja, ich denke, es ist besser so. Aber was die Sorge betrifft – die mache ich mir um dich auch. Ich bin ebenso wie Daniele der Meinung, dass unser Ausflug morgen früh zu gefährlich für dich ist. Schließlich wissen wir nicht, was uns dort erwartet.«

Sie sahen sich lange an, bis sie sich schließlich mit einem Ruck von seinen Augen losriss.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mir diese Story entgehen lasse? Außerdem werden wir uns dieses Castello doch sowieso nur von außen ansehen und sofort die Polizei informieren, falls uns irgendetwas komisch vorkommt. Nein, ich bin dabei. Wir sehen uns morgen früh um acht.«

Sie beugte sich über ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, genau in dem Augenblick, in dem Varotto, eine noch verpackte Zahnbürste in der Hand schwenkend, wieder das Zimmer betrat.

»Sie gefällt dir, nicht wahr?«, bemerkte Varotto ganz nebenbei, nachdem hinter Alicia die Tür ins Schloss gefallen war.

»Wem würde diese Frau nicht gefallen?«, erwiderte Matthias.

Sie sahen aneinander vorbei und schienen ihren Gedanken nachzuhängen, bis Varotto sich zur Tür wandte und sagte: »Also dann – können wir in einer Viertelstunde fahren?«

Matthias sah ihn verwirrt an. »Fahren? Wohin?«

»Na, nach Marmore. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich Alicia mitnehme? Wenn wir dort finden, was wir uns erhoffen, kann die Sache sehr gefährlich werden. Möchtest du sie dieser Gefahr aussetzen?«

»Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur, weil du ihr …«

Varotto tat den Einwand mit einer Handbewegung ab. »Wie sagte schon Winston Churchill? ›Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.‹ Außerdem haben wir keine Zeit zu verlieren. Jede Stunde, die wir unnütz verstreichen lassen, können diese Irren dazu nutzen, eine weitere Kreuzwegstation nachzustellen. Mich wundert sowieso, dass noch kein …« Er stockte und sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor Mitternacht. »Dass heute noch kein neuer Mord entdeckt wurde … Könnte allerdings auch sein, dass meine lieben Kollegen mich darüber nicht mehr informieren. Also: Abfahrt in einer Viertelstunde. Wenn wir dort ankommen, schläft wahrscheinlich alles. Das kann von großem Vorteil für uns sein.«

Der Gedanke, Alicia so auszutricksen, gefiel Matthias zwar ganz und gar nicht, aber wenn er sich vorstellte, sie könnte verletzt werden oder gar noch Schlimmeres …

»Gut«, sagte er, »ich schaue mir auf Google Maps noch die unmittelbare Umgebung von diesem Castello an, dann können wir los.«

Als Matthias das Zimmer verlassen hatte, ließ Varotto sich aufs Sofa fallen und schloss die Augen. Fast augenblicklich lief ein Film vor ihm ab, in dem der blonde Deutsche von einer Frau umarmt und innig geküsst wurde. Nicht auf die Wange, sondern auf den Mund. Als die Frau den Kopf hob, erkannte er, dass es nicht Alicia war, sondern – Francesca. Mit lautem Stöhnen riss er die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf.

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