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Acht Monate nach der Freilassung von Julian Götz
Es war nicht der gleiche Saal, aber es war im Kriminalgericht Moabit. Ein anderer Richter, ein anderer Staatsanwalt, andere Verteidiger.
Eine andere Perspektive.
Näher dran. Tiefer drin.
Ben hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Hände in den Hosentaschen versenkt. Es war der vierte Verhandlungstag. Was er durch das Fenster des Gerichtssaals sah, deutete darauf hin, dass draußen ein herrlicher Tag verging. Er schaute über die Köpfe seiner beiden Verteidiger hinweg. Spürte, wie ihn immer wieder ein Blick streifte. Vom Richter, von einem der Sachverständigen, von der Zuschauerbank.
Er hörte die Stimmen, wusste, dass es um ihn ging, aber er folgte ihnen nicht. Er war der Angeklagte – das Rätsel. Es war richtig so. Endlich. Sie würden ihn richten, aber sie konnten es ihm nicht nehmen: Er hatte sich selbst ins Zentrum der Ereignisse gerückt.
Wieder spürte er, wie ein Blick ihn traf, und wandte den Kopf. Hinter der Barriere, die die Zuschauer vom Saal trennte, hatte sich ein halbes Dutzend Menschen aufgereiht. Ein älterer Mann, zwei Frauen, ein Mädchen, das aussah wie eine Notariatsgehilfin. Alle sahen zum Richter, während er den Zeugen belehrte, der vor wenigen Minuten aufgerufen worden war. Ein Kopf aber war Ben zugewandt. Bens Blick traf den Blick des anderen. Ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, von eher unscheinbarer Gestalt. Brille, rötliche Haare, schon länger nicht mehr geschnitten.
Bens Mund zuckte.
Er sah zu Boden.
»Nein, nicht im entferntesten.« Es war Gebhart Voss, Sophies Vater, der im Zeugenstand Platz genommen hatte. »Aber natürlich habe ich auch nicht danach gesucht!« Gebhart wirkte, als würde er mit dem Richter sprechen wie mit einem alten Bekannten. »Wenn ich meine Tochter und meinen Schwiegersohn in ihrem Haus besucht habe, hatte ich weiß Gott anderes im Kopf. Eine Kammer, ein verschlossener Raum im Haus – nicht im Traum wäre ich darauf gekommen!«
Sie hatten Ben festgenommen. Er war auf der Galerie zusammengeklappt, nachdem er über das Sims ins Haupthaus gelangt war. Dort hatten sie ihn gefunden, Sophie hatte die Polizei alarmiert. Götz war ins Krankenhaus gebracht und stundenlang operiert worden, aber er hatte es nicht geschafft. Dass Ben als Täter für den Mord an Lillian in Frage kommen würde, war nicht mehr in Erwägung gezogen worden. Die Entdeckung der Kammer hatte ein vollkommen neues Licht auf den Fall Behringer, aber auch auf den Fall Götz geworfen.
Während die Verhandlung im Gerichtssaal wie entrückt vor ihm ablief, kehrten Bens Gedanken immer wieder zu den Ereignissen zurück, die nun schon Monate vergangen waren, ihn aber noch immer fest im Griff hielten. Das Kinder-T-Shirt, auf das er unter den Kissen seines Sofas gestoßen war. Der Doppelmord an Pia und Svenja. Lillians Tod …
Nachdem die Geheimkammer in der Villa entdeckt worden war, hatte die Staatsanwaltschaft die Spuren, die nach dem Mord an Christine und ihren Töchtern sichergestellt worden waren, komplett neu auswerten lassen. Tatsächlich hatten sie vollkommen anders als zunächst angenommen interpretiert werden müssen. Es hatte sich gezeigt, dass die Spuren nicht auf einen, sondern auf zwei Täter hinwiesen – und dass einer von ihnen sich in der Kammer befunden haben musste. In der gleichen Kammer, in der auch Ben eingeschlossen gewesen war. Außerdem war deutlich geworden, dass man die Spuren am Tatort nach dem 25. September nur deshalb als Hinweise auf einen Täter interpretiert hatte, weil sie unmittelbar vor Eintreffen der Polizei manipuliert worden waren. Nach einer Reihen von Verhören waren sich die Beamten auch sicher zu wissen, wer die Spuren manipuliert hatte: Sophie Voss, Christines Schwester. Sie war noch vor Hanna Lenz an diesem Septemberabend in der Villa eingetroffen und hatte die Leichen als Erste entdeckt. Mit verzweifelter Sorgfalt hatte sie das Schlafzimmer rings um die Leiche ihrer Schwester gesäubert, den Golfschläger beseitigt und dafür gesorgt, dass alle Hinweise auf die Existenz der Geheimkammer getilgt waren, bevor das Au-pair-Mädchen eintraf. Dann hatte Sophie die Villa wieder verlassen, so dass Hanna Lenz glauben musste, die Leichen als Erste entdeckt zu haben.
Und warum hatte Sophie das getan? Aus dem gleichen Grund, der auch alle anderen Aspekte des Falls Götz prägte: Um zu verbergen, dass Julian Götz und seine Frau einen Menschen in ihrem Haus gefangen gehalten hatten.
»Mein Sohn Sebastian?« Gebhart hatte sich vorgebeugt, als hätte er den Richter nicht recht verstanden. »Selbstverständlich«, fuhr er fort, als der Richter nickte. »In den letzten Jahren habe ich ihm die Verwaltung meines Vermögens mehr und mehr übertragen.«
»Ihr Sohn hatte also auch mit den Grundstücken zu tun, die Sie durch Herrn Götz und seine Firma Götz Town Structures haben bebauen lassen.«
»Aber ja.« Gebhart reckte sich hoch, gab seiner Stimme einen wohlwollenden Klang. »Die Grundstücke, die wir mit Herrn Götz und seinen Mitarbeitern erschlossen haben, lassen sich hervorragend vermarkten. Und natürlich: Wer, wenn nicht Sebastian, sollte sich darum kümmern? Können Sie sich vorstellen, was ein Projekt wie die städtebauliche Strukturierung der Heidestraße für einen Aufwand bedeutet?«
Bens Blick ruhte auf Gebhart, während der Mann auf die Fragen des Richters antwortete. Unwillkürlich musste Ben auch an Sebastian denken, dessen Züge längst nicht so scharf gezeichnet waren wie die seines Vaters, der Gebhart aber dennoch ähnlich sah, so wie eine eilig gefertigte Kopie einem wertvollen Original ähnlich sehen mochte.
Christine, Sebastian, Sophie …
Ben wusste, dass die Staatsanwaltschaft mehrfach versucht hatte, Sebastian eine Verbindung zu dem Mord an Lillian Behringer nachzuweisen. Er selbst, Ben, hatte sich darum bemüht, Belege dafür beizubringen. Lag es nicht auf der Hand, dass Sebastian alles daran gesetzt hatte, ihn, Ben, als Schlüssel zum Mordfall Götz hinzustellen? Das Alibi von Lillian Behringer – was hätte es Götz schon genutzt? Wie hätte das Gericht sicher sein können, dass sie nicht log, Götz nur deckte? Dass Aufnahmen von Götz in der Tiefgarage gefunden würden, hatte zu diesem Zeitpunkt ja niemand wissen können!
Nein, dessen war Ben sich sicher: Lillians Alibi war es nicht, was Götz wirklich hätte helfen können – und das musste Sebastian zu diesem Zeitpunkt auch sehr klar gewesen sein. Das Einzige, was Götz in seinem Prozess hätte helfen können, war, einen Unbeteiligten zu präsentieren, der mit einem Schlag wie eine Antwort auf alle offenen Rätsel und Fragen wirkte!
Das war es doch, was Götz am meisten belastet und die Anklage gegen ihn so zwingend gemacht hatte: dass es keinerlei Spuren eines unbekannten Täters am Tatort gegeben hatte! Wer, wenn nicht Götz selbst, kam denn dafür in Frage, Christine und die beiden Kinder erschlagen zu haben? Wer, wenn nicht der für sein Temperament, seine Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit bekannte Star-Architekt! Deshalb gab es auch nur eine Möglichkeit, ihm zu helfen: Es musste jemand gefunden werden, der an Götz’ Stelle als Täter in Frage kam und mit den Morden in Verbindung gebracht werden konnte. Denn dann würde es heißen: Wer war der Täter? Der erfolgreiche Star-Architekt oder der andere?! Und im gleichen Moment – Ben war sich sicher, dass Sebastian so gedacht hatte – würde es auch nicht mehr schwierig sein, nachzuweisen, dass eben nicht Götz, sondern der andere für die drei Toten in der Villa verantwortlich war. Umso mehr, wenn der andere ein etwas undurchsichtiger Drehbuchautor war, der beruflich in Schwierigkeiten steckte – und mit dem Mordfall Lillian Behringer in Verbindung gebracht werden konnte!
Ben stützte die Ellbogen auf die Knie und zog den Kopf zwischen die Schultern. Er merkte, dass er damit hinter der Holzbrüstung unwillkürlich die gleiche Position einnahm, mit der auch schon Götz seinen Prozess abgesessen hatte. Aber es störte ihn nicht.
Er war ihnen praktisch in die Arme gelaufen! Er war ja geradezu versessen darauf gewesen, mit dem Fall zu tun zu bekommen, er hatte sich ihnen förmlich aufgezwungen! Kein Wunder, dass Sebastian Sophie gedrängt hatte, das Kinder-T-Shirt als Beweisstück in seiner, Bens, Wohnung zu plazieren. Und dann, kaum konnte Sebastian sicher sein, dass Sophie ihre Aufgabe erledigt hatte, hatte er den Mord an Lillian Behringer in Auftrag gegeben. Ben war davon überzeugt, dass Sebastian die Tat nicht selbst ausgeführt hatte. Mit Sicherheit hatte er genügend Männer an der Hand, die das für ihn erledigten – Männer, die zusammen mit ihm und seinem Vater das versteckte Haus im Haus betrieben! Und es war auch klar, woher Sebastian den Zeitpunkt gewusst hatte, an dem er Lillian töten lassen musste. Sebastian wusste ja, dass Ben versuchen würde, mit Lillian in Kontakt zu treten, Götz selbst hatte Ben schließlich damit beauftragt. Sebastian musste nur warten, bis es so weit war, bis Ben Lillian in ihrer Wohnung aufsuchte.
Und warum? Warum hatte Sebastian das für Götz getan? Warum war er davon besessen gewesen, Götz zu helfen? Es konnte nur eine Erklärung geben: Götz war der Architekt des Innenhauses. Der Architekt – aber nicht der Bauherr. Götz wusste Bescheid. Er wusste zu viel. Sie mussten ihn schützen. Diejenigen, die mit dem Innenhaus Geld verdienten.
Ben sah auf, sein Blick wanderte durch den Gerichtssaal, in dem noch immer Sebastians Vater einvernommen wurde. Die Ausstrahlung des unnahbaren, über jeden Zweifel erhabenen Großbürgers, die von Gebhart Voss schon im Garten der Villa ausgegangen war und Ben bereits damals irritiert hatte, schien sich hier vor Gericht noch einmal zu verstärken. Und er kam damit durch!
Wiederholt hatte die Staatsanwaltschaft Sebastian und seinen Vater vorgeladen und die beiden Männer befragt. Soweit Ben wusste, hatten die Staatsanwälte auch Teile der Unternehmungen der beiden durchleuchtet. Aber weder Sebastian noch seinem Vater konnte nachgewiesen werden, dass sie eine Rolle im Mordfall Lillian Behringer gespielt hatten oder in unsaubere Geschäfte verwickelt waren. Eine Zeitlang hatte die Staatsanwaltschaft zwar den Verdacht verfolgt, Sebastian könnte mit dem Tod von Lillian in Verbindung gebracht werden, weil ein Mann, an dessen Kleidung Spuren ihrer DNA sichergestellt worden waren, Sebastians Namen ins Spiel gebracht hatte. Zuletzt ließ sich jedoch weder eindeutig nachweisen, dass dieser Mann sie getötet hatte, noch dass er von Sebastian beauftragt worden war.
Der Mordfall Lillian Behringer war bis heute nicht aufgeklärt.
Nachdenklich starrte Ben auf Gebharts Profil, sah, wie sich dessen Lippen bewegten. Als hätte der Alte Bens Blick gespürt, drehte er sich ein wenig zur Seite und blickte ihm entgegen, ohne jedoch in seinem Redeschwall innezuhalten. Und plötzlich kam es Ben so vor, als würde ein Schalter umgelegt. Gebhart! War er nicht das gemeinsame Glied, das alles miteinander verband? Alle Verbrechen, deren sich Sebastian und Sophie, vor allem aber Christine schuldig gemacht hatten!
»Dazu kann ich nichts sagen«, war Gebharts Stimme zu hören. »Ich bin dem Angeklagten nur einmal begegnet, ich maße mir kein Urteil an.«
Diesmal hielt er den Blick starr auf den Richter geheftet. Konnte das wirklich sein? Ben sah, wie sich der Richter an seine Kollegen auf der Richterbank wandte, um zu hören, ob sie noch Fragen an den Zeugen hätten.
Konnte das wirklich sein? Die Kriminaltechniker hatten keinen Zweifel gelassen. Die unbekannte Person in der Kammer hatte Christine Götz erschlagen. Zuvor aber war es Christine selbst gewesen, die ihre Kinder getötet hatte. Ben hatte sich die Unterlagen von seinem Verteidiger besorgen lassen. Die Sachverständigen hatten argumentiert, dass Christine durch die Situation in der Villa, durch die Gefangenschaft einer unbekannten Person, unter extremem Druck gestanden haben musste. Dass sie den Tod ihrer gemeinsamen Kinder womöglich als Racheakt für die Untreue des Mannes geplant haben könnte. Aber wie auch immer sie versucht hatten, Christines Tat zu erklären: Es blieb ein unbegreiflicher Rest. Welche Faktoren die Experten auch ins Feld führten, jeder, der mit dem Fall zu tun bekam, spürte instinktiv, dass noch etwas anderes hinzugekommen sein musste. Etwas, ohne das unbegreiflich blieb, wie Christine dazu fähig war, ihre sechsjährige Tochter Pia und ihre achtjährige Tochter Svenja zu erschlagen.
War es Gebhart? War er der Schlüssel, der fehlende Rest? War er der Grund, weshalb Christine zu einer so unvorstellbaren Tat getrieben worden war? War er letztlich der Verantwortliche, nicht nur für das, was seine Tochter Christine getan hatte, sondern auch für das, was sein Sohn Sebastian und seine Tochter Sophie getan hatten? Was hatte er seinen Kindern angetan?
Ben lehnte sich zurück. In seinen Händen kribbelte es.
Oder gab es noch eine andere Erklärung für das Unbegreifliche? Etwas anderes, was die drei Geschwister mit dem Vater teilten?
Das Haus. Fast war es, als würde Ben jemanden in sich hören, der ihm das einflüsterte.
Das Haus im Haus, das Götz gebaut hatte, das niemand anders als Gebhart finanziert haben konnte, das der Grund dafür sein musste, dass Sebastian alles dafür getan hatte, seinen Schwager Götz von dem Mordverdacht zu befreien. Sie alle waren darin gewesen, dessen war Ben sich sicher. In dem Haus, das ihr Vater hatte bauen lassen: Christine, Sebastian, Sophie … Musste es nicht das Haus gewesen sein, das sie in den Wahnsinn getrieben hatte?