10
»Ich habe bis kurz nach halb elf gearbeitet –«
»Halb elf Uhr abends.«
»Ja. Es ging um das Projekt Heidestraße. Ich hatte das Gefühl, nach einigen Wochen des Herumprobierens, der falschen Ansätze und Irrtümer, endlich auf dem richtigen Weg zu sein. Deshalb habe ich den Abend genutzt, um verschiedene Skizzen anzufertigen.«
»Bis kurz nach halb elf.«
»Ja.«
»Und danach?«
»Bin ich noch in den Park gegangen, der direkt vor unserem Büro liegt. In den Tiergarten. Ich mag den Park sehr, deshalb habe ich die Büroräume auch genau dort gemietet. Ich gehe oft im Tiergarten spazieren, versuche dabei, meine Gedanken zu ordnen.«
Ben starrte den Mann an. Julian Götz. Er hatte sich von seinem Platz hinter der Holzbrüstung erhoben und dem Richter zugewandt. Eine schwere, fast muskulöse Gestalt, ein kantiger Kopf mit einer hohen Stirn. Ben konnte den Blick nicht von ihm wenden.
Nachdem Sophie Voss von der Limousine abgeholt worden war, hatte Ben rasch einen Kaffee getrunken und war pünktlich zum zweiten Teil der Verhandlung wieder in den Gerichtssaal zurückgekehrt. Er hatte es gar nicht erwarten können, dass der Prozess fortgesetzt wurde.
»Hat Sie jemand im Park gesehen?«
»Nein.«
»Bis wann haben Sie sich denn dort aufgehalten?«
»Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, vielleicht bis kurz nach eins.«
Der Richter musterte den Angeklagten. »Zweieinhalb Stunden in einem Park. Das ist recht lang, mitten in der Nacht, finden Sie nicht?«
Gebannt beobachtete Ben das Profil des Mannes hinter der Holzbrüstung. Eine lebhafte Unruhe schien von ihm auszugehen, jedoch ohne dass er gezappelt oder gewackelt hätte. Im Gegenteil. Breitbeinig und fest stand Julian Götz da, die Hände um die Aufschläge seines Jacketts geschlossen. Und doch erschien er Ben wie ein Raubtier kurz vor dem Sprung.
»Ich habe über das Projekt nachgedacht.«
Der Richter nickte. »Fahren Sie fort, Herr Götz, ich sagte es schon. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns in einem Stück berichten könnten, was Sie am Abend des 25. September erlebt haben.«
Götz stützte die Arme auf den Tisch vor ihm. »Es muss einige Minuten nach eins gewesen sein, als ich mein Handy wieder eingeschaltet habe –«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der Richter, »aber ich verstehe nicht. Sie hatten Ihr Handy im Park ausgeschaltet?«
»Ja.«
»Wann haben Sie es ausgeschaltet?«
»Als ich in den Park gegangen bin.«
»Ist das nicht merkwürdig?«
»Ich sagte es gerade: Ich wollte mir Klarheit über einige Aspekte des Heidestraßen-Projekts verschaffen und dabei nicht gestört werden.«
Er sah den Richter an. Der nickte nur flüchtig.
»Als ich kurz nach eins das Handy wieder eingeschaltet habe«, fuhr Götz fort, »sah ich, dass ich einen Anruf bekommen hatte. Von der Nummer zu Hause. Ich hörte die Nachricht ab. Es war Frau Lenz.« Er hielt inne, richtete sich wieder auf und strich mit Daumen und Zeigefinger rechts und links an seinem Mund vorbei.
»Sie sagte … dass mit meiner Frau etwas passiert sei.« Götz’ Blick glitt durch den Gerichtssaal, als hätte er für einen Moment vergessen, dass er mit dem Richter sprach. Aller Augen waren auf ihn gerichtet.
»Bitte, Herr Götz.« Der Richter, dessen Name Lars Hohlbeck war, wie Ben inzwischen herausbekommen hatte, machte eine ungeduldige Handbewegung.
Götz’ Brustkasten hob und senkte sich wieder. »Ich habe den Wagen geholt und bin sofort nach Hause gefahren.«
Hohlbeck warf einen Blick auf den Bildschirm, der vor ihm auf dem Tisch stand. »Dort sind Sie um kurz nach halb zwei Uhr nachts eingetroffen, richtig?«
»Ich nehme an, dass die Polizeibeamten den Zeitpunkt aufgenommen haben.«
»Sicher, sicher …« Hohlbeck wandte den Blick nicht von seinem Monitor. »Verstehen Sie, Herr Götz, das Problem ist, dass Sie nicht belegen können, zur Tatzeit woanders gewesen zu sein als zu Hause.«
Götz nickte, das musste er bereits öfter gehört haben.
»Außerdem haben die Beamten der Spurensicherung das Haus mit größter Sorgfalt abgesucht«, fuhr Hohlbeck fort und sah den Angeklagten nun doch an, »aber es konnten keine Einbruchsspuren sichergestellt werden. Es ist nichts entwendet worden, es gibt keine DNA-Spuren, die nicht zugeordnet werden können, keine eindeutigen Kampfspuren. Nichts deutet darauf hin, dass sich zur Tatzeit eine fremde Person in Ihrer Villa aufgehalten hat.«
Ben kam es so vor, als würde sich eine fast senkrechte Falte in Götz’ Stirn graben.
»Möchten Sie sich dazu äußern?«
Jetzt, schoss es Ben durch den Kopf, springt er mit einem Satz über die Holzbrüstung und rammt mit seinem bulligen Schädel dem Richter das Nasenbein ins Hirn!
Stattdessen erhob sich jedoch der Verteidiger, lehnte sich zu seinem Mandanten nach hinten und flüsterte ihm etwas zu.
Ben beobachtete, wie Götz den Kopf drehte und seinem Anwalt ins Gesicht blickte. Erst jetzt fiel Ben auf, wie angestrengt Götz aussah. Zugleich bemerkte er aber auch noch einen anderen Zug in diesem Gesicht, etwas Spitzes, Gezogenes – als ob jemand die Kopfhaut des Mannes in dessen Nacken zusammenziehen würde.
Götz wandte sich wieder nach vorn zum Richter. »Ja«, sagte er, »ich möchte mich dazu äußern.«
Hohlbeck senkte den Kopf etwas.
»Was ist es eigentlich, das Sie berechtigt, mir hier einen Prozess zu machen, der mit jedem Tag, den er fortgesetzt wird, unerträglicher wird? Haben Sie einen Zeugen, der gesehen hat, wie ich einem Wahnsinnigen gleich durch mein Haus getobt bin? Haben Sie eine Tatwaffe mit meinen Fingerabdrücken, DNA-Spuren, die mich überführen?«
»Die Tatwaffen sind abgewischt worden«, hob Hohlbeck an, aber Götz ließ ihn nicht ausreden.
»Nichts haben Sie, nichts als einen Verdacht, eine Vermutung, eine Theorie, auf die Sie jedoch eine Anklage stützen, die schrecklicher nicht sein könnte!«
Bens Blick schnellte zu Hohlbeck. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich der Richter diesen Ton bieten lassen würde. Zu seiner Überraschung hatte der Vorsitzende jedoch nur das Kinn gehoben und hörte Götz zu.
»Nichts haben Sie«, fuhr der Angeklagte fort, »außer der Statistik, die Ihnen sagt, dass in den meisten ähnlich gelagerten Fällen der Familienvater selbst der Täter ist. Nichts als Erfahrungswerte, Annahmen, Meinungen. Nichts als die Gewissheit, dass Sie einen anderen Verdächtigen bisher nicht dingfest machen konnten.« Götz’ Stimme schien eine geradezu außergewöhnliche Schärfe und Klarheit gewonnen zu haben, sie schnitt einer Klinge gleich durch den Raum: »Und doch haben Sie sich entschieden, das Verfahren gegen mich zu eröffnen! Und warum? Warum sind die Staatsanwaltschaft, Hauptkommissar Gerkens und letztlich auch Sie von Anfang an davon überzeugt gewesen, dass ich derjenige gewesen sein muss, der meine Frau und meine beiden Töchter getötet hat? Weil Sie förmlich spüren, dass hier jemand ist, der anders tickt, der anders denkt, fühlt, lebt, als Sie es jemals tun würden. Und Sie können sich von der Überzeugung nicht lösen, dass er dann auch derjenige gewesen sein muss, auf den das Unfassbare, Entsetzliche zurückgeht, das am 25. September über meine Familie hereingebrochen ist.«
Götz warf seinem Anwalt, der offensichtlich versuchte, ihn zurückzuhalten, einen Blick zu, schüttelte energisch den Kopf und sprach weiter. »Ja, letztlich läuft es darauf hinaus: Es ist Ihr Instinkt, Herr Vorsitzender, der Ihnen sagt, dass ich der Mörder sein muss. Das ist es, was Sie bewogen hat, das Verfahren gegen mich zu eröffnen, obwohl Ihnen jeder handfeste Beweis fehlt, dass ich der Täter war!«
Bevor Hohlbeck etwas sagen konnte, hob Götz die linke Hand und hielt sie dem Richter entgegen, wie um ihn an einer Unterbrechung zu hindern. »Und soll ich Ihnen sagen, warum Ihr Instinkt Ihnen das sagt? Weil das Außergewöhnliche, das Sie instinktiv spüren und das für Sie nur ein Merkmal des Verbrechers sein kann, tatsächlich etwas ist, das ich suche – suchen muss! Denn es ist das, was mir in meinem Beruf weiterhilft: Das Außergewöhnliche, das über das Mittelmaß hinausgeht. Begreifen Sie? Können Sie mir folgen?«
Eine geradezu unheimliche Stille hatte sich auf den Saal gesenkt. Ben hielt den Atem an. Im Gesicht des Richters arbeitete es, aber er blieb gefasst.
»Fahren Sie fort, Herr Götz, ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob ich all Ihren Wendungen folgen kann, aber … vielleicht kann ich dann zumindest erkennen, worauf Sie hinauswollen.«
Götz ging bis ganz an die Holzbrüstung heran, stützte beide Hände darauf und beugte sich vor. »Wenn ein Bauherr einen Wettbewerb ausschreibt und einen Entwurf sucht, der nicht nur eine Baulücke füllt, sondern das Bild einer Stadt regelrecht prägt, wissen Sie, welche Arbeit er sich dann aussucht? Welche Arbeit gewinnt und realisiert wird?« Götz ließ den Richter nicht aus den Augen. »Diejenige, die hinausgeht über das Alltägliche! Diejenige, die die Vorstellungen des Bauherrn gleichsam über sich hinausträgt, indem sie ihnen eine Wendung gibt, auf die er selbst niemals gekommen wäre. Das aber wird nur der Entwurf leisten können, der über das Mittelmaß und das Alltägliche hinauswächst!« Götz schien nicht mehr aufzuhalten zu sein. »Um in meinem Beruf erfolgreich zu sein, muss ich das Außergewöhnliche beherrschen, Herr Hohlbeck. Das aber ist es, was uns beide voneinander trennt, und was – davon bin ich überzeugt – Sie dazu bewogen hat, in mir den Täter zu vermuten!«
Hohlbeck hatte die Stirn gerunzelt, doch Götz schien sich davon nicht abschrecken lassen zu wollen. »Der Punkt, auf den ich hinauswill, den ich nicht verstehen kann und der mir keine Ruhe lässt, ist aber nicht der Unterschied zwischen Ihnen und mir, Herr Hohlbeck! Was ich nicht verstehen kann, ist etwas, worin wir uns – bei allen Differenzen – doch einig sein müssten. Was ich nicht verstehen kann, ist, wie Sie sich, ohne zu zögern, darüber hinwegsetzen können, dass ich – abgesehen von der Bestürzung über den Tod meiner Frau – zutiefst um meine beiden Töchter Pia und Svenja trauere!«
Ben spürte, wie eine Welle der Bewegung durch die Zuschauerbank ging.
»Soweit ich weiß, haben Sie selbst Kinder, Herr Hohlbeck, und deshalb begreife ich nicht, wie Sie die Augen davor verschließen können, dass ich über den Tod meiner beiden Töchter niemals hinwegkommen werde! Ich begreife nicht, wie Sie ignorieren können, dass ich im Grunde genommen seit dem Moment, in dem meine beiden Töchter der Welt entrissen wurden, selbst nicht mehr zu ihr gehöre. Dass mich das Gefühl, ihren Tod verschuldet zu haben, weil ich nicht genug auf sie aufgepasst habe, keine Sekunde mehr verlassen hat. Dieses Gefühl ist es, das den Prozess, den Sie mir hier machen, unerträglich macht. Und ich verstehe nicht, wie Sie die Wahrheit dieses Gefühls, die Wahrheit meiner Bestürzung über den Tod meiner Töchter, verkennen können!«