18

»Lassen Sie mich das noch mal zusammenfassen.« Ein gedrungener Mann mit grauem Haarkranz, einem Kopf, der tief zwischen den Schultern steckte, und einer kleinen Brille hatte das Wort ergriffen. »Herr Götz ist bekannt dafür, in öffentlichen Diskussionen lautstark seine Meinung zu vertreten. Er pflegt eine kräftige Sprache, mit der er sich Eindruck verschafft. Wenn er in eine Diskussion eingreift, horcht man auf. Aber …« Der Mann trat an die Richterbank, um es dem Vorsitzenden wie unter vier Augen zu sagen: »… all das weist noch lange nicht auf eine psychische Auffälligkeit hin.« Der Gutachter hielt beide Hände offen vor sich. »Wir müssen das ganz klar festhalten: Julian Götz ist ein Mann, der mit Ende vierzig eine Menge aufgebaut hat. Er führt ein Architektenbüro an, in dem über dreißig Mitarbeiter beschäftigt sind. Er hat sich mit einer Reihe von Bauten in ganz Europa, ja, weltweit einen Namen gemacht. Ihm werden Bauprojekte mit einem Auftragsvolumen von mehreren hundert Millionen Euro anvertraut. Er ist bekannt dafür, dass er sich zeitlich und finanziell an die Vorgaben seiner Auftraggeber hält.« Der Gutachter holte Luft. »Auch über das Familienleben von Herrn Götz ist bis zum 25. September nichts Nachteiliges bekannt geworden, und an den Schulen seiner Kinder wurde er immer als liebender Vater geschätzt.«

»Sie würden also ausschließen, dass … Oder nein, lassen Sie mich das anders formulieren«, unterbrach sich der Richter. »Sie würden also feststellen, dass es zumindest überraschend wäre, wenn man entdeckte, dass der Angeklagte sich so verhalten hätte, wie es die Spuren des Täters zeigen.«

»Das würde ich so sagen, ja.« Der Gutachter kniff die Augen ein wenig zusammen. »Kategorisch ausschließen«, fuhr er fort, »dass es – aus welchem Grund auch immer – zu einer Art Verschiebung im psychischen Haushalt des Angeklagten gekommen ist, kann ich jedoch nicht. Tatsächlich wäre ein solcher Bruch theoretisch durchaus vorstellbar, und er würde erklären, wieso Herr Götz am Abend des Fünfundzwanzigsten von seiner bisherigen Verhaltensweise radikal abgewichen wäre. Die Erfahrung lehrt uns jedoch, dass solche Brüche höchst selten auftreten. Auch wenn wir in der forensischen Psychiatrie nur Näherungswerte zur Verfügung haben, können wir sagen, dass sich ein Mensch innerhalb seines Lebens meist mit einer gewissen Gleichförmigkeit verhält. Wenn jemand früh auffällig geworden ist, wird er das meist auch später in seinem Leben wieder sein. Ist er hingegen nicht auffällig geworden, so wird er dies nur dann, wenn es ein einschneidendes Erlebnis gegeben hat. Bei Herrn Götz hat es ein solches Erlebnis aber, soweit wir wissen, nicht gegeben.«

Ben drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Er hatte sie schon vorhin hereinkommen sehen, als der Sachverständige für die Blutspuren noch gesprochen hatte. Sophie Voss, die Schwester der ermordeten Christine Götz. Sie hatte gleich am Eingang auf der Besucherbank Platz genommen. Sein Blick glitt kurz über ihr Profil, bevor er sich wieder nach vorn wandte.

»Was ist mit …« Richter Hohlbeck klickte auf seinem Bildschirm herum.

»Ja?« Der Gutachter verzog sein Gesicht zu einem fragenden Lächeln.

»Was ist mit der Auseinandersetzung mit der Gruppe der Freien Architekten?« Hohlbeck schien gefunden zu haben, was er gesucht hatte.

»Ich sagte es eingangs.« Der Gutachter begann, langsam auf und ab zu gehen. »Wenn es um seine Arbeit geht, kann Herr Götz sehr deutlich werden, geradezu ausfallend.«

Der Richter sah zum Staatsanwalt hinüber. »Das ist der Vorfall, auf den Sie zu sprechen kommen wollen, richtig?«

Der Staatsanwalt nickte.

»Bitte«, sagte Hohlbeck und richtete seinen Blick wieder auf den Gutachter. »Können Sie Ihre Einschätzung des Vorfalls für uns einmal zusammenfassen?«

Der Gutachter lächelte. »Es ging um ein stadtplanerisches Projekt, um die Bebauung der Heidestraße, ein Projekt zwischen Humboldt- und Nordhafen, von dem bereits mehrfach die Rede war.« Er hob die Hände. »Was die architekturspezifischen Details angeht, kann ich Ihnen leider nur schlecht Auskunft geben, da müssten Sie eventuell noch einen Fachberater …« Er brachte den Satz jedoch nicht zu Ende, sondern fuhr fort, bevor der Vorsitzende etwas sagen konnte: »Was ich aber sagen kann, ist, dass der Entwurf von Herrn Götz die Ausschreibung des Senats gewonnen hatte. Der Beginn der Bauarbeiten, die ja auch heute noch nicht abgeschlossen sind, stand kurz bevor, als eine sogenannte ›Gruppe Freie Architekten‹ vehement Einspruch gegen den Entwurf von Herrn Götz zu erheben begann. Im Wesentlichen ging es um ästhetische Fragen: Eine massive Formensprache, gestufte Fassaden, Steinplatten – der Gruppe zufolge waren das die Insignien einer Machtarchitektur, die nicht mehr zeitgemäß sei.«

»Machtarchitektur?« Hohlbeck hatte die Stirn gerunzelt.

»Zu klobig, zu massig, zu schwerfällig. Ein Bau, der die Menschen eher einschüchtern würde, als das Stadtbild zu bereichern.« Der Gutachter lächelte fast wie entschuldigend. »Es ging sogar so weit, dass sie nachzuweisen versuchten, inwiefern der Entwurf von Herrn Götz den zur Verfügung stehenden Baugrund, also das Areal, das stadtplanerisch genutzt werden sollte, nicht optimal ausnutzte.«

»Nun gut.« Eine Spur Ungeduld schien sich in Hohlbecks Miene geschlichen zu haben.

»Herr Götz hatte die Debatte zunächst weitgehend ignoriert«, fuhr der Gutachter fort, »das aber war der Moment, an dem es gewissermaßen zum Eklat kam. Der Senat hatte die beiden Parteien zu einer öffentlichen Diskussion eingeladen, und bei dieser Diskussion begann Herr Götz nun seinerseits, die Entwürfe der Freien Architekten, die bei dem Wettbewerb zur Bebauung des Häuserblocks leer ausgegangen waren, zu attackieren. ›Ich würde mich schämen, ein Haus zu bauen, dessen Innereien nach außen gestülpt sind‹, wetterte er und bezog sich dabei auf das Design ihres Konkurrenzvorschlags.«

Hohlbeck hatte den Blick zurück auf seinen Monitor gerichtet.

»Wie gesagt«, beeilte sich der Gutachter hinzuzufügen, »ich bin selbst kein Architektur-Experte, aber ich weiß, dass beim Entwurf der Freien Architekten die gesamte Technik des Baus – Elektrik, Heizung, Lüftung, Müllschlucker, Frisch- und Abwasser – nicht wie bei Götz versteckt, sondern geradezu explizit in den Blick des Betrachters gerückt wurde. Dass Abwasserrohre, Müllschlucker etc. also außen an der Fassade des Hauses entlanggeleitet werden sollten. Und Götz gelang es nun, diese ästhetische Entscheidung seiner Konkurrenten als etwas hinzustellen, für das er sich als Entwerfender geradezu schämen würde. Als würde man als Architekt bei so einem Vorschlag den Passanten gleichsam zwingen, auf die eigene Entblößtheit, Nacktheit, ja auf die eigenen Innereien zu starren, verstehen Sie?«

»Hm.« Hohlbeck wirkte unschlüssig.

»Ich war nicht dabei«, führte der Gutachter weiter aus, »aber es gibt Aussagen, die bezeugen, dass Herr Götz bei dieser Diskussion in gewisser Weise jedes Maß aus den Augen verloren hat. Dass er zu toben begann, ein Gebäude müsse Geborgenheit vermitteln, dürfe dem Betrachter, dem Bewohner nicht das Gefühl geben, jeden Augenblick zusammenfallen zu können. ›Kompakt, schwer, festgefügt, auf dem Boden ruhend.‹ Der ganze Diskurs, die Sprache, die Götz wählt, ist in gewisser, raffinierter Weise ja ein Spiegel der Ästhetik, die er in seinen Gebäuden zeigt. Es geht um Solidität, um Erdbezogenheit, ja, ich glaube, auch das ist eine seiner Vokabeln: Erdbezogenheit. Und dieser Stil ist dem Stil der Freien Architekten geradezu diametral entgegengesetzt, die betonen, dass das Aussehen eines Gebäudes dann optimiert ist, wenn seine Funktion optimiert ist. Die also betonen, dass es der Anstand vom Architekten fordert, gerade keinen Teil des Gebäudes in seinem Design zu verstecken.«

»Ja?« Hohlbeck schaute ein wenig angestrengt. »Kommen Sie zum Punkt, verehrter Kollege, wir alle brauchen dringend eine Pause.«

Ein Schatten von Missstimmung huschte über das Gesicht des Ermahnten. »Der Punkt ist, dass die Stimmung eskalierte und Herr Götz schließlich brüllte, er werde sich eine Stadt wie ein Raumschiff nicht bieten lassen, er werde dagegen vorgehen, und zwar mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stünden – notfalls mit Gewalt. Dann fielen die Worte, auf die es der Staatsanwaltschaft ankommt. ›Ich lasse nicht zu, dass Sie ein Projekt gefährden …‹« Der Gutachter musste auf ein Papier blicken, um den Wortlaut im Ganzen zitieren zu können. »›… das noch Jahrzehnte, Jahrhunderte nach uns das Bild dieser Stadt prägen wird. Ich lasse mir meine Bauten weder von Ihnen noch von meiner Frau oder sonst jemandem zerstören – selbst nicht von meinen Töchtern!‹«

Der Architekt
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