20

»Entschuldigen Sie.« Ben trat einen Schritt nach vorn, die Gläser ihrer Sonnenbrille wirkten auf ihn wie die schwarzen Augen eines Insekts. »Das ist sicher sehr unhöflich, aber ich habe den Prozess ein wenig verfolgt und hatte Sie neulich schon ansprechen wollen.«

Nachdem der Richter die Verhandlung für eine Mittagspause unterbrochen hatte, war Ben über Treppe N zum Hauptgang gelaufen. Er hatte Hunger und sich in einem der Imbisse vor dem Kriminalgericht ein Brötchen holen wollen.

Als er an dem Eingang zum Gerichtssaal vorbeiging, war ihm aufgefallen, dass Frau Voss, die während der Verhandlung nur wenige Plätze neben ihm auf einer der Zuschauerbänke gesessen hatte, ein paar Schritte vor ihm langsam Richtung Ausgang ging. Kurz entschlossen hatte er sie überholen wollen und in dem Moment, als er an ihr vorbeilief, einen unauffälligen Blick zur Seite geworfen. Ihre Augen hatten hinter der Sonnenbrille angestrengt gewirkt, und Ben hatte den Eindruck, dass man ihr ansah, wie sehr der Prozess ihr zusetzte. Er war noch ein paar Schritte weitergelaufen, dann jedoch stehen geblieben und hatte sich etwas unbeholfen zu ihr umgedreht.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, wie unendlich leid es mir tut.«

Er spürte, wie seine Stimme brüchig wurde. »Was Ihrer Schwester und Ihren Nichten passiert ist –« Unwillkürlich fuhr seine Hand nach vorn und griff nach der Hand der jungen Frau. Für einen Augenblick meinte er, durch ihre Brillengläser hindurchschauen zu können, zu sehen, wie sie seinen Blick erwiderte. Da ließ er auch schon alle Vorsicht fahren, zog sie an sich, spürte, wie das Schluchzen ihren Körper erschütterte, legte den linken Arm vorsichtig um ihre Schultern und hielt sie fest, während der Kummer an ihr rüttelte, ihren Kopf, ihren Körper ganz auszufüllen schien.

Es dauerte nur einen Augenblick.

»Entschuldigen Sie …« Schon löste sie sich wieder aus der Umarmung, ein Taschentuch in der Hand, die Brille noch immer vor den Augen. »Danke.« Sie wirkte verloren.

»Kommen Sie.« Ben trat zur Seite. Hatte er ihr regelrecht den Weg versperrt?

Schweigend liefen sie den Gang entlang. Kurz bevor sie in das gewaltige Haupttreppenhaus hinaustraten, warf sie ihm einen Blick zu. »Danke, es geht schon wieder.«

»Ja.« Er lächelte und nickte nach rechts, als müsste er im Treppenhaus rechts entlanggehen.

Sie nickte ebenfalls. Dann bog sie links ab, und Ben ließ sie allein die Treppe hinunterlaufen. Sie wollte sicher ungestört sein, das konnte er gut verstehen.

Er blieb an der halbhohen Brüstung stehen, von der aus er in die Eingangshalle schauen konnte, und sah ihr nach. Sie hatte die Schultern hochgezogen, diesmal trug sie keine Absätze, sondern Stoffturnschuhe, die lautlos über den Steinboden huschten. Sie durchquerte die Halle, erreichte die Schleuse. Im nächsten Moment war sie hinter der Sperrvorrichtung verschwunden, an der die Personenkontrolle durchgeführt wurde.

 

Als Ben kurz darauf ins Freie trat, schien die Sonne. Er blieb auf der obersten Stufe vor dem Eingangsportal stehen, legte den Kopf in den Nacken und genoss für einen Moment die warmen Strahlen. Als er die Augen wieder öffnete, sah er sie am Straßenrand stehen, die Arme mehr um sich geschlungen als verschränkt, das Taschentuch an die Nase gepresst, den Kopf geneigt. Er hatte das Gefühl, selbst aus der Entfernung ihr Zittern sehen zu können.

»Frau Voss?«

Sie hob den Kopf.

Ohne nachzudenken, lief er die paar Schritte zu ihr. »Ich möchte nicht aufdringlich sein. Kann ich … irgendwie … entschuldigen Sie, aber ich wäre dankbar, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein könnte.« Er hatte die Fingerspitzen beider Hände an die Schläfen gepresst.

Sie schüttelte den Kopf, schien sich zusammenzunehmen.

»Dort drüben ist eine Bäckerei, darf ich Sie vielleicht hinüberbegleiten? Sie sollten einen Happen essen, die Verhandlung dauert noch den ganzen Tag.«

Er konnte von schräg oben sehen, wie sich ihre Augenbrauen hinter den Brillengläsern zusammenzogen.

»Oder nehmen Sie heute Nachmittag nicht mehr an der Verhandlung teil?«

Die Brillengläser richteten sich auf. »Nein«, ihre Stimme war eine Spur tiefer, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, »nein, ich glaube nicht …«

Jetzt!

»Darf ich Sie vielleicht nach Hause fahren?«, hörte Ben sich sagen. »Mein Wagen steht gleich hier um die Ecke!«

Der Architekt
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