14
»Seit wann?«
»Seit letzten Sommer.«
»Und woher kennst du Georg?«
»Er war mit meinem älteren Bruder befreundet.«
»Und? Gefällt’s dir?«
»Ja! Berlin ist cool …« Sibylle lächelte.
Ben mochte es. »Dann hast du ja noch einiges zu entdecken.«
Sie nickte. »Ich wohne bei einer Freundin, die schon länger hier ist. Sie hat mich ganz schön herumgeführt.«
»Warst du schon auf dem Fernsehturm?«
Sie lachte.
»Und in der Gedenkstätte Hohenschönhausen?«
Das Lachen machte einem neugierigen Gesichtsausdruck Platz.
»Wo die Stasi die Regimegegner gefoltert hat?«
Sie atmete aus. »Wow … nee.«
»Ich habe mir das mal angesehen, weil ich einen Film schreiben wollte, der nur in dem Gefängnis spielt.« Ben nippte an dem Bier, das vor ihm auf dem Tresen stand. Sie waren nicht mehr in der Kneipe, in der Georg seinen Geburtstag feierte. Vor einer halben Stunde, als Ben das Gefühl gehabt hatte, nun wirklich gar keinen der anderen Gäste mehr zu kennen, hatte er sich von Georg verabschiedet – »Wir sehen uns ja noch, bevor du losfährst, oder?« –, dann waren er und Sibylle aufgebrochen. Weit waren sie nicht gegangen, nur die Veteranenstraße hoch und über den Zionskirchplatz bis zur Kastanienallee. Dort hatte Ben Sibylle ein geräumiges Café gezeigt, das auch kurz nach Mitternacht noch voll war. Sie hatten wieder an der Theke Platz genommen.
»Als ich klein war, kursierten unter uns Kindern die wildesten Gerüchte, wie die Leute in der DDR gequält würden«, führte Ben aus. »An eine Methode erinnere ich mich noch genau. Die Gefangenen würden in Telefonzellen gesperrt, hieß es, und ein Wassertropfen würde regelmäßig auf ihre Schädeldecke fallen. Das würde kein Mensch aushalten, sie würden schlichtweg durchdrehen.« Er warf ihr einen verschmitzten Blick zu. »Ich habe später versucht, herauszubekommen, ob das stimmt, ob das wirklich gemacht wurde. Aber einen handfesten Beleg dafür habe ich bis heute nicht auftreiben können.«
Sibylle hatte ihren Kopf in die Hand gestützt und sah ihn an.
»Einen harten Gefängnisfilm, mit alten Vopo-Uniformen, dem ganzen DDR-Mobiliar, diesen klapprigen Autos – und die Dissidenten sprechen Berlinerisch, wie es manch einer heute noch gerne tut. Zwischendurch aber wird unerbittlich Gewalt angewendet, um die Leute … genau, das war’s: Gebrochen werden sollten sie. Bei dem einen gelingt es, bei dem anderen nicht.«
»Hast du das Buch schon geschrieben?«
»Angefangen. Mir sind dann, wie immer, andere Sachen dazwischengekommen.«
Sie zögerte, sprach es dann aber doch aus. »Ich habe noch nie ein Drehbuch gesehen, weißt du. Also ein echtes, nicht so ein Transkript, das von einem fertigen Filmklassiker abgeschrieben worden ist.«
»Scheint dich ja wirklich zu interessieren.«
»Kannst du mir nicht mal eins mailen?« Sie richtete sich im Sitzen gerade auf. »Ich verspreche auch, dass ich es nicht weiterverschicke.«
Ein altes Drehbuch von ihm, das bereits verfilmt worden war? Klar, das konnte er machen. Andererseits, eines von seinen Standardserien-Skripts würde ihr wahrscheinlich nicht gerade besonders viel Spaß machen …
»Das mach ich eigentlich eher ungern, die Bücher so rausschicken.«
»Nein, ich mache ja nichts weiter damit! Ich drucke es nur aus und lese es, okay? Ich würde einfach gern mal sehen, wie so etwas aufgebaut ist, wie das genau gemacht ist, weißt du?« Sie sah ihn an, lächelte.
»Ist ja jetzt nichts Großes, aber … Nein, ich glaube schon, dass du sorgfältig damit umgehst, es ist nur … ich habe mir angewöhnt, die Sachen nicht so herumzumailen.«
Sollte er sie fragen? Wenn es sie wirklich interessierte? Ben wagte es nicht, auf seine Armbanduhr zu sehen. Er versuchte, die Zeit abzuschätzen. Kurz vor halb eins? Und es war Freitag.
»Wenn du wirklich ein Drehbuch sehen willst, kann ich dir ja mal eins mitbringen.«
Sie sah ein wenig enttäuscht aus.
»Oder, was soll’s, von mir aus gebe ich dir gleich jetzt einen Ausdruck mit, wenn du möchtest …« Ben fuhr sich durch die Haare. »Ein Ausdruck ist für mich kein Problem, den kann man nicht einfach verändern, weitermailen. Ist vielleicht ein bisschen übervorsichtig, aber …« Aber so mach ich das nun mal, dachte er.
»Okay, du meinst, wir sollen gleich einen holen?« Es war, als ob sie mit den Spitzen ihrer Fingernägel über seinen Nacken gefahren wäre und sich das Gefühl bis in seine Bauchhöhle hinein fortgesetzt hätte.
Sie stand schon neben dem Tresen. »Oder wohnst du am anderen Ende der Stadt?«
»Nein, ist nicht weit.« Er kramte einen Zehn-Euro-Schein aus der Tasche und warf ihn auf die Theke. »Lass stecken, komm.« Sie hatte Anstalten gemacht, ihren Kaffee selbst zu bezahlen.
Dann ging er hinter ihr durch das Café zum Ausgang. Um ein Haar hätte er ihr vorsichtig seine beiden Hände auf die Hüften gelegt, um zu spüren, wie sie sich bewegte.