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Am nächsten Morgen blieb Ben lange im Bett liegen. Eigentlich war es nur eine Matratze, die auf dem Boden lag. Er hatte seine Wohnung immer geliebt, putzte sie gründlich einmal die Woche, allein schon weil er allergisch reagierte, wenn sich zu viel Staub ansammelte, aber an diesem Morgen erschien sie ihm leer und unfertig, beinahe schäbig.
Immer wieder kehrten seine Gedanken zu der Villa zurück, zu Sophies Familie, Sebastian und Gebhart. Was er dort erlebt hatte, kam ihm vor wie ein Alptraum. Auch wenn er sich Mühe gab, gelang es ihm nicht, ihre Gesichter anders als in die Länge gezogen und seltsam deformiert vor sich zu sehen. Ihre Stimmen klangen in seiner Erinnerung gepresst, beinahe quäkig. Hatte er sich vor seinem Besuch den Magen verdorben? Als hätte er zwei Medikamente gleichzeitig genommen, die sich nicht vertrugen? Aber er nahm keine Medikamente.
Ben schlug die Decke zurück und stand auf. Er sollte sich einen Kaffee machen und so schnell wie möglich an die Arbeit setzen.
Den Vormittag verbrachte er mit konzentriertem Schreiben. Während die ersten Passagen des Buches, die er in den vergangenen Tagen bereits abgefasst hatte, persönlicher geraten waren und Ben darin geschildert hatte, wie er mit dem Fall Julian Götz in Berührung gekommen war, handelten die Kapitel, an denen er inzwischen arbeitete, weniger von ihm und mehr von der Gerichtsverhandlung. Von den Zeugenbefragungen, den Meinungen und Expertisen der Sachverständigen.
Von der Schlinge, die sich langsam um den Hals von Julian Götz zusammenzog.
Bens Finger tanzten über die Tastatur. Es gab Momente, da meinte er, ihnen wie losgelöst dabei zuschauen zu können, wie sie hinabstießen, jeweils den richtigen Buchstaben trafen, elastisch wieder in die Luft flogen, wie sie ein-, zweimal auf und ab wippten, bevor sie erneut zum Sturzflug auf den nächsten Buchstaben ansetzten, abwechselnd rechts und links. Wie von Zauberhand gesteuert, setzten sie Passagen zusammen, in denen der Leser eine komplette Welt auferstehen sehen würde.
Die Welt des Gerichtssaals, die Welt der Bauten des Julian Götz, eine Welt, in der nur eine von zwei Möglichkeiten wahr sein konnte: Entweder war derjenige, der Christine Götz, Svenja und Pia getötet hatte, auch derjenige, der auf der Anklagebank saß. Oder es war jemand anders, ein Täter, der frei herumlief, der jeden Tag, jeden Morgen aufstand, seinen Geschäften nachging und sich abends mit dem Wissen zu Bett legte, dass Götz in einem Prozess steckte, der eigentlich ihm, dem wahren Täter, galt.
Doch wer, wenn nicht Götz selbst, konnte dieser Täter sein? Wer konnte Christine und die beiden Mädchen ermordet haben? Sebastian? Unsinn! Dass Ben überhaupt auf diese Idee gekommen war, konnte er sich inzwischen nur noch durch die seltsame Wahrnehmungsverschiebung erklären, die gestern über ihn hereingebrochen zu sein schien.
Aber wer dann?
Bens Blick wanderte zum Fenster hinaus, in den grauen, verhangenen Himmel über der Stadt.
Oder war es Unsinn, überhaupt von einem anderen Täter auszugehen?
Nach vier Stunden versunkener, geradezu verschütteter Arbeit, an deren Ende es ihm vorgekommen war, als würde er aus den Abgründen eines kilometertiefen Schachts im Ozean wieder an die Oberfläche tauchen, stieß Ben sich von der Schreibtischplatte ab und stand auf. Er hatte etliche Tassen Kaffee in sich hineingeschüttet, wie viele genau, hätte er gar nicht zu sagen gewusst, aber den ganzen Tag noch nichts gegessen. Es war ihm nicht aufgefallen, doch jetzt hatte er das Gefühl, kurz vor einer Ohnmacht zu stehen.
Etwas wacklig auf den Beinen, ging er zu dem Haken gleich neben der Eingangstür an der Wand, nahm seinen Regenmantel und verließ die Wohnung.
Beim Araber an der nächsten Ecke kehrte er ein und bestellte einen Schawarma-Teller, den sie in diesem Imbiss mit Hühnerfleisch und für vier Euro so zubereiteten, dass ihn Ben schon immer für den besten der Stadt gehalten hatte.
Als er sich wenig später heißhungrig über das Gericht hermachte, begannen sich seine Gedanken ein wenig zu klären, und er erinnerte sich an die Entwürfe, auf die er im Arbeitszimmer der Villa gestoßen war. Arbeiten, die Ben auf Anhieb großartig vorgekommen waren und ihn tief beeindruckt hatten.
Aus dem Prozess wusste er, dass Götz ein Architekturbüro namens »Götz Town Structures« leitete. Bisher war es Ben nicht in den Sinn gekommen, sich dort einmal umzusehen. Doch jetzt beschloss er, dass es höchste Zeit war.
Götz Town Structures. Das funkelnde Messingschild mit dem Logo der Firma prangte neben einer gut sechs Meter hohen Glastür, dem Eingang in ein mit Steinquadern verkleidetes Hochhaus. Steil ragte die Fassade hinauf in den noch immer verhangenen Himmel über der Stadt und erinnerte mit ihren hineingemeißelten, überdimensionalen Buchstaben und den vergoldeten Mauervorsprüngen an Bauten in New York oder Chicago kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende. Die unteren zwölf Stockwerke des Turms waren von einem Luxushotel belegt, vor dessen pompösem Eingang ein livrierter Portier den Chauffeuren dabei zusah, wie sie an ihren Limousinen lehnten und sich gegenseitig ihre Armbanduhren zeigten. Die Glastür neben dem Messingschild von Götz’ Firma jedoch führte nicht in das Hotel, sondern in einen Seiteneingang, der den Besuchern der übrigen Stockwerke des Hochhauses vorbehalten war. Unterhalb des Schildes war eine Klingel in die Mauer eingelassen, die Ben kurzerhand betätigte.
»Ja?« Metallisch klang die Stimme einer Frau zu ihm nach draußen.
»Henning Jacoby hier, es geht um den Alexanderplatz.«
Es surrte. Ben drückte gegen das Glas, es klickte und die Tür gab nach.
Das Foyer passte zum Neo-Art-déco-Schick der Fassade. Marmorverkleidungen, in die Höhe aufragende Steinplatten, Chrom. Ein Schild zeigte an, dass Götz Town Structures im vierzehnten Stockwerk des Hauses untergebracht war.
Ben ging zum Fahrstuhl und rief die Kabine. Er vermutete, dass sich direkt vor den Fahrstuhltüren im vierzehnten Stock ein Counter mit der Dame befinden würde, die ihm gerade die Tür geöffnet hatte. Dort würde er nicht so einfach damit durchkommen, dass er in Sachen Alexanderplatz unterwegs wäre. Sie würde wissen wollen, mit wem er einen Termin habe, um den Mitarbeiter rufen zu können, der ihn abholen sollte.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Ben trat in die Kabine und drückte auf die Taste mit der Zahl 17.
Als die Türen nach lautloser Fahrt wieder zurückwichen, erschien eine ganz im Stil des Gebäudes gestaltete Vorhalle. Linker Hand befand sich eine blickdichte Tür aus Rauchglas, an der Wand daneben ein dezentes Schild. Eine Anwaltskanzlei.
Ben trat aus der Fahrstuhlkabine heraus und sah sich um. Neben dem Fahrstuhl lag eine weitere Tür, die, wie einem Piktogramm zu entnehmen war, zu einer Sicherheitstreppe führte. Ben zückte sein Handy und wählte die Auskunft. Als er verbunden war, verlangte er mit gedämpfter Stimme, an das Architekturbüro Götz Town Structures weitergeleitet zu werden. Während die Verbindung aufgebaut wurde, öffnete er die Tür zum Notausgang und blickte eine einfache, kahle Betontreppe hinab, die so aussah, als würde sie nie benutzt werden.
»Götz Town Structures.«
»Jaschke, vom Hotel nebenan.« Diesmal verstellte er seine Stimme ein wenig. »Spreche ich mit dem Empfang des Architekturbüros?«
»Ja?«
»Bei uns ist versehentlich ein Paket für Sie abgegeben worden. Könnten Sie bitte jemanden runterschicken, um es abzuholen?«
Er hörte, wie die Frau aufstöhnte.
»Ach, und schicken Sie mir bitte keinen Praktikanten«, ergänzte er mit Chefrezeptionistenstimme. »Es muss die Empfangsbestätigung unterschrieben werden. Am besten, Sie kommen gleich selbst, ja?«
»Ja, vielen Dank.« Sie legte auf.
Ben verließ das Treppenhaus wieder und begab sich zum Fahrstuhl. Über der Tür zeigten Zahlen an, in welchem Stockwerk sich die Kabine befand. Keine der Zahlen leuchtete.
›Und wenn sie gerade zu tun hat – und sich erst in einer halben Stunde auf den Weg macht?‹
Die Rauchglastür der Anwaltskanzlei knackte leicht. Ben sah sich um. Ein Herr in Anzug und Mantel, Aktentasche in der Hand, trat heraus und schaute mit leicht irritiertem Blick zu ihm herüber.
»Tag«, warf Ben betont achtlos über die Schulter und wollte gerade den Fahrstuhl rufen, als er sah, wie oben die 16 aufleuchtete. Gedämpft war durch den Spalt zwischen den Türen zu hören, wie die nach unten sinkende Kabine die Luft verdrängte.
15.
14.
Bei der Vierzehn blieb die Anzeige stehen.
»Haben Sie schon gedrückt?« Der Anzugtyp neben Ben hatte das Gesicht verzogen.
Das Licht wanderte weiter. 13, 12 …
»Ja, ja, natürlich«, murmelte Ben, ohne den Mann anzusehen, und wandte sich zur Treppe. Er war ungeduldig, lief lieber, als ewig auf den Fahrstuhl zu warten, das war doch offensichtlich, oder?
Dumpf klappte die Feuertreppentür hinter ihm zu. Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er nach unten. An der mannshohen, dunkelblauen 16 vorbei, der 15, bis zur hellblauen 14. Dort stieß er die Treppenhaustür auf.
Ein kleiner Vorraum. Auf der linken Seite wieder eine Glastür, diesmal jedoch eine, durch die man hindurchsehen konnte. Der hellbraune Teakholzcounter dahinter war leer.
Ben schob die Glastür auf.