87

»Sie war eine … eine was?« Ben schrie. Er stand mitten in seiner Kammer, die Arme angewinkelt, verkrampft. Der Rücken gebeugt, der Hals versteinert. Eine Ader an seinem Hals war geschwollen, die Augen brannten.

»Sie war immer da, immer verfügbar. Sie hat hier gelebt, tagelang, wochenlang, Monate. Wann immer Götz wollte, ist er hierhergekommen. Eine Art Puppe, aber lebendig, jung, heiß.« Er rang nach Luft. »Warum deckst du das, Sophie?«

Es war Morgen. Die Kammer wurde von einem weichen, weißen Licht erfüllt. Ben spürte seine Wunden nicht mehr. Er hatte nichts gegessen, er wusste, dass er schwach war. Vielleicht ließen sie ihn auch einfach verrecken? Vielleicht dachten sie gar nicht mehr an ihn. Hatte Sophie jemandem erzählt, was sie getan hatte? War sie verreist? War überhaupt noch jemand im Haus?

»Hat sie Christine getötet, das Mädchen, das hier drin war? Und die Kinder? Haben sie von der Kammer etwas mitbekommen und mussten deshalb sterben?« Jeder Satz, den er hervorbrüllte, schrammte über seine wunde Kehle wie ein Reibeisen. »Was ist mit Lillian? Wusste sie zu viel?«

Er brüllte gegen die Wand.

»Du hast das T-Shirt des Mädchens in meine Wohnung gebracht, Sophie, du warst es, nicht Lillian. Du hast die Spuren nach dem Mord hier in der Villa verwischt. Du hast dafür gesorgt, dass die Polizei am Tatort keine Spur von einer weiteren Person mehr fand. Du hast ihn gedeckt. Und warum?«

Ihn schwindelte.

»Was hat Sebastian damit zu tun, Sophie? Dein Vater? Worin haben sich die beiden zu sehr verstrickt? Hat dein Vater Götz den Auftrag für das Haus im Haus gegeben? Haben sie es bauen lassen, um Geld damit zu verdienen, Sophie? Geld mit Orgien, die ihren Reiz nur in einem Geheimhaus entfalten können?«

Die Wand, auf die er starrte, schien ihn auszulachen.

»Dein Bruder würde alles für seinen Vater tun. Aber du, Sophie? Sie schrecken vor nichts zurück. Du auch? Ist es richtig, was sie machen? Menschen zu Puppen, zu Sklaven degradieren? Ist das richtig?«

Er erstarrte. Hatte er ein Wischen, ein Hauchen an der Tür gehört?

Nichts.

Vorsichtig machte Ben einen Schritt auf die Tür zu.

Nichts.

Er beugte sich vor, legte das Ohr an die kühle Platte, die ihm den Ausgang verriegelte. Rauschen, Summen. War das auf der anderen Seite das Atmen eines Menschen?

Sollte er anders mit ihr reden? Versuchen, sie auf seine Seite zu ziehen? »Sophie«, flüsterte er und legte eine Hand flach auf die Türplatte. Hatte er es sich nur eingebildet?

 

Als die Tür aufflog, hatte Ben sich gerade wieder abgewandt. Die Zeit schien sich zu dehnen. Das Erste, was er mitbekam, war der Luftzug, dann hörte er das Schnappen des Schlosses. Als er sich umgedreht hatte, stand Götz bereits mitten im Raum. Im nächsten Augenblick hatte sich Bens Körper zusammengefaltet wie ein Klappmesser. Die Wucht, mit der er sich abstieß, riss sie beide zu Boden. Ben hörte Götz’ Kopf auf den Boden schlagen, sah seine Faust im Gesicht des Mannes landen. Götz’ Hände griffen nach ihm. Seine Finger bohrten sich wie Schraubenzieher in Bens Rippen. Ben flog zurück, krachte mit dem Rücken gegen das Bett. Einen Augenblick lang schien jemand das Licht gelöscht zu haben, er hörte nur das Schnaufen des anderen – dann war er wieder da. Als Götz sich auf ihn stürzte, rollte Ben sich rasch zur Seite, riss beide Hände, zu einer Keule verwachsen, empor und hieb mit aller Kraft auf den Rücken des Mannes, der an ihm vorbeigeschossen war.

Götz schwang herum, die Seiten seines Jacketts flogen. An der Innentasche des Futters blitzte es auf. Instinktiv griff Ben danach und wusste, dass er eine gefährliche Waffe gepackt hatte. Schräg über sich sah er das kantige Gesicht von Götz vorbeiziehen. Dann hatte er den stählernen Kugelschreiber in der Faust, das spitze Ende schaute ein paar Zentimeter daraus hervor. Ben drehte sich um sich selbst, stieß den Arm dabei nach vorn, fühlte, wie sein Handballen auf einen weichen Widerstand traf und etwas Warmes darunter hervorsickerte.

Es war, als ob Götz der innere Halt durchgeknipst worden wäre. Ben riss den Stahlkugelschreiber, der schlank und robust war wie ein riesiger Nagel, aus der Bauchdecke wieder heraus. Götz’ Kopf hatte sich nach unten gesenkt, er presste die Hände auf den Bauchnabel. Bens Knie raste nach oben. Er sah, wie das Gesicht des anderen an ihm vorbeiflog, die Augäpfel tief unter die Lider geschoben, der Mund verwischt, offen. Dann drang die silbrig glänzende Spitze des Kugelschreibers erneut ein. Von der Seite aus hatte Ben den mörderischen Stachel mit aller Kraft in Götz’ Hals getrieben, als er nach hinten getaumelt war. Die Wucht des Schlages war so groß, dass das Fleisch unter dem Stift aufplatzte. Blut schoss hervor und ergoss sich über Bens Arm, troff herunter bis zum Ellbogen. Ben versuchte, den Schwung seines Schlags abzubremsen, um nicht selbst zu Boden zu gehen, sah, wie Götz nach hinten wankte, gegen die Wand der Kammer prallte.

Ist dir das heiß genug, Sophie?, waberte es wie in Zeitlupe durch Bens Hirn. Es ist keine Geschichte, die ich mir ausdenke, keine Berechnung, kein Kalkül, keine Lüge. Es ist jetzt und wirklich, und ich bin es, der es tut. Aber er dachte schon nicht mehr klar. Der Stift fiel ihm aus der Hand, er stützte sich an der Türfüllung ab, taumelte gegen die Wand des Gangs draußen. Durch die Tür, die auf das Sims und ins Freie führte, konnte er überhell die Außenwand des Hauses und den Garten sehen.

Als er herausstolperte, schien die Sonne. Benommen blieb Ben stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in das Licht.

Der Architekt
cover.html
haupttitel.html
inhaltsvz.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
info_autor.html
info_buch.html
impressum.html
social_reading_stream.xhtml
hinweise.html