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»Sie war eine … eine was?« Ben schrie. Er stand mitten in seiner Kammer, die Arme angewinkelt, verkrampft. Der Rücken gebeugt, der Hals versteinert. Eine Ader an seinem Hals war geschwollen, die Augen brannten.
»Sie war immer da, immer verfügbar. Sie hat hier gelebt, tagelang, wochenlang, Monate. Wann immer Götz wollte, ist er hierhergekommen. Eine Art Puppe, aber lebendig, jung, heiß.« Er rang nach Luft. »Warum deckst du das, Sophie?«
Es war Morgen. Die Kammer wurde von einem weichen, weißen Licht erfüllt. Ben spürte seine Wunden nicht mehr. Er hatte nichts gegessen, er wusste, dass er schwach war. Vielleicht ließen sie ihn auch einfach verrecken? Vielleicht dachten sie gar nicht mehr an ihn. Hatte Sophie jemandem erzählt, was sie getan hatte? War sie verreist? War überhaupt noch jemand im Haus?
»Hat sie Christine getötet, das Mädchen, das hier drin war? Und die Kinder? Haben sie von der Kammer etwas mitbekommen und mussten deshalb sterben?« Jeder Satz, den er hervorbrüllte, schrammte über seine wunde Kehle wie ein Reibeisen. »Was ist mit Lillian? Wusste sie zu viel?«
Er brüllte gegen die Wand.
»Du hast das T-Shirt des Mädchens in meine Wohnung gebracht, Sophie, du warst es, nicht Lillian. Du hast die Spuren nach dem Mord hier in der Villa verwischt. Du hast dafür gesorgt, dass die Polizei am Tatort keine Spur von einer weiteren Person mehr fand. Du hast ihn gedeckt. Und warum?«
Ihn schwindelte.
»Was hat Sebastian damit zu tun, Sophie? Dein Vater? Worin haben sich die beiden zu sehr verstrickt? Hat dein Vater Götz den Auftrag für das Haus im Haus gegeben? Haben sie es bauen lassen, um Geld damit zu verdienen, Sophie? Geld mit Orgien, die ihren Reiz nur in einem Geheimhaus entfalten können?«
Die Wand, auf die er starrte, schien ihn auszulachen.
»Dein Bruder würde alles für seinen Vater tun. Aber du, Sophie? Sie schrecken vor nichts zurück. Du auch? Ist es richtig, was sie machen? Menschen zu Puppen, zu Sklaven degradieren? Ist das richtig?«
Er erstarrte. Hatte er ein Wischen, ein Hauchen an der Tür gehört?
Nichts.
Vorsichtig machte Ben einen Schritt auf die Tür zu.
Nichts.
Er beugte sich vor, legte das Ohr an die kühle Platte, die ihm den Ausgang verriegelte. Rauschen, Summen. War das auf der anderen Seite das Atmen eines Menschen?
Sollte er anders mit ihr reden? Versuchen, sie auf seine Seite zu ziehen? »Sophie«, flüsterte er und legte eine Hand flach auf die Türplatte. Hatte er es sich nur eingebildet?
Als die Tür aufflog, hatte Ben sich gerade wieder abgewandt. Die Zeit schien sich zu dehnen. Das Erste, was er mitbekam, war der Luftzug, dann hörte er das Schnappen des Schlosses. Als er sich umgedreht hatte, stand Götz bereits mitten im Raum. Im nächsten Augenblick hatte sich Bens Körper zusammengefaltet wie ein Klappmesser. Die Wucht, mit der er sich abstieß, riss sie beide zu Boden. Ben hörte Götz’ Kopf auf den Boden schlagen, sah seine Faust im Gesicht des Mannes landen. Götz’ Hände griffen nach ihm. Seine Finger bohrten sich wie Schraubenzieher in Bens Rippen. Ben flog zurück, krachte mit dem Rücken gegen das Bett. Einen Augenblick lang schien jemand das Licht gelöscht zu haben, er hörte nur das Schnaufen des anderen – dann war er wieder da. Als Götz sich auf ihn stürzte, rollte Ben sich rasch zur Seite, riss beide Hände, zu einer Keule verwachsen, empor und hieb mit aller Kraft auf den Rücken des Mannes, der an ihm vorbeigeschossen war.
Götz schwang herum, die Seiten seines Jacketts flogen. An der Innentasche des Futters blitzte es auf. Instinktiv griff Ben danach und wusste, dass er eine gefährliche Waffe gepackt hatte. Schräg über sich sah er das kantige Gesicht von Götz vorbeiziehen. Dann hatte er den stählernen Kugelschreiber in der Faust, das spitze Ende schaute ein paar Zentimeter daraus hervor. Ben drehte sich um sich selbst, stieß den Arm dabei nach vorn, fühlte, wie sein Handballen auf einen weichen Widerstand traf und etwas Warmes darunter hervorsickerte.
Es war, als ob Götz der innere Halt durchgeknipst worden wäre. Ben riss den Stahlkugelschreiber, der schlank und robust war wie ein riesiger Nagel, aus der Bauchdecke wieder heraus. Götz’ Kopf hatte sich nach unten gesenkt, er presste die Hände auf den Bauchnabel. Bens Knie raste nach oben. Er sah, wie das Gesicht des anderen an ihm vorbeiflog, die Augäpfel tief unter die Lider geschoben, der Mund verwischt, offen. Dann drang die silbrig glänzende Spitze des Kugelschreibers erneut ein. Von der Seite aus hatte Ben den mörderischen Stachel mit aller Kraft in Götz’ Hals getrieben, als er nach hinten getaumelt war. Die Wucht des Schlages war so groß, dass das Fleisch unter dem Stift aufplatzte. Blut schoss hervor und ergoss sich über Bens Arm, troff herunter bis zum Ellbogen. Ben versuchte, den Schwung seines Schlags abzubremsen, um nicht selbst zu Boden zu gehen, sah, wie Götz nach hinten wankte, gegen die Wand der Kammer prallte.
Ist dir das heiß genug, Sophie?, waberte es wie in Zeitlupe durch Bens Hirn. Es ist keine Geschichte, die ich mir ausdenke, keine Berechnung, kein Kalkül, keine Lüge. Es ist jetzt und wirklich, und ich bin es, der es tut. Aber er dachte schon nicht mehr klar. Der Stift fiel ihm aus der Hand, er stützte sich an der Türfüllung ab, taumelte gegen die Wand des Gangs draußen. Durch die Tür, die auf das Sims und ins Freie führte, konnte er überhell die Außenwand des Hauses und den Garten sehen.
Als er herausstolperte, schien die Sonne. Benommen blieb Ben stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in das Licht.