15
»Und ich kann das mitnehmen?« Sibylle hatte sich auf der flachen, breiten Couch niedergelassen, die mitten in seinem Apartment stand.
Sie hielt das Skript von Tod auf Raten in der Hand, das er ihr gegeben hatte, und sah Ben zu, der an der Küchenzeile stand und damit beschäftigt war, einen Kaffee aufzusetzen.
Nachdem ein Taxi sie vor seinem Haus abgesetzt hatte und sie in seine Wohnung hinaufgegangen waren, war Ben ein wenig enttäuscht gewesen, dass Sibylle sich nicht beeindruckter gezeigt hatte. Immerhin handelte es sich bei seiner Wohnung um eine umgebaute Fabriketage, einen fast zweihundert Quadratmeter großen Raum, den er bewohnbar gemacht hatte, indem er Glastrennwände hatte einziehen lassen, die sich je nach Bedarf verschieben ließen.
»Du kannst es mir bei Gelegenheit ja wieder vorbeibringen.« Er drehte sich zu ihr um. »Aber das sag ich dir gleich: Die ganze Drehbuchschreiberei kommt dir vielleicht auf den ersten Blick wie eine tolle Sache vor. Im alltäglichen Geschäft aber ist es … eher unerfreulich.«
Sie spitzte die Lippen. Hatte sie den Lippenstift nachgezogen, als sie vorhin noch kurz im Bad war?
»Das hat damit zu tun, dass dir furchtbar viele Leute reinreden«, sagte er. »Du hast eine Idee, schreibst sie auf. Das ist ja eine Sache des Bauchgefühls, das kommt von hier.«
Er hielt die rechte Hand mit der Handfläche nach oben auf der Höhe seines Bauchnabels. ›Oder von hier‹, dachte er und sah sich die Hand noch ein wenig tiefer halten, ließ es aber bleiben. »Und dann lesen die Leute in der Redaktion, in der Produktionsfirma deinen Text und haben ganz andere Ideen dazu. Man setzt sich zusammen, bespricht, welche Änderungen sie wollen. Wenn du diese Änderungen aber einarbeitest, arbeitest du nur noch mit dem Kopf«, sagte er und tippte sich an die Stirn. Sie sah aus, als ob sie ihm folgen würde. »Mit deinem Bauchgefühl, das dich zuerst dazu gebracht hat, diesen Stoff vorzuschlagen, hat das nicht mehr viel zu tun. Was dir jedoch dein Kopf nahelegt – das hat irgendwie nicht mehr richtig Kraft, verstehst du? Es ist ja nicht wirklich das, was du willst! Es ist vielmehr das, von dem du dir sagst, dass du es wollen musst, damit sie dir den Auftrag nicht wegnehmen! Aber die Leute, die sich das bestellt haben, die wollen es ja auch nicht wirklich, sie schreiben es ja nicht selbst, sie bestellen es nur bei dir. Und allzu oft tun sie das nur deshalb, weil sie denken, dass es das ist, was der Zuschauer sehen will. Oder besser gesagt: was so viele Zuschauer wie möglich sehen wollen. Doch dieses Kalkül geht nicht auf! Denn letztlich will das, was sie dann bei dir bestellen, niemand wirklich. Sie nicht, du nicht – und so viele Zuschauer wie möglich auch nicht, denn wer soll das schon sein?!« Er winkte ab. »Darüber ist schon viel geredet worden, trotzdem wird das immer wieder so gemacht.«
Er wandte sich wieder der kleinen Kaffeemaschine zu, schraubte den Deckel fest und stellte sie auf die Gasflamme.
»Ich habe deshalb jetzt auch mit einem anderen Projekt angefangen.«
»Ach ja?«, hörte er sie hinter sich sagen.
Er hatte den Entschluss gefasst, als er am Nachmittag erneut eine Nachricht von Hellwig auf seiner Mailbox gefunden hatte.
»Warum rufst du denn nicht an«, hatte Hellwig darauf gesprochen. »Ich habe jetzt noch mal mit dem Sender geredet. Sie würden sich wirklich freuen, wenn du das Buch machen würdest. Nur mit dem Banküberfall haben sie ein Problem. Den müsstest du also noch rausnehmen.«
Dabei war der Banküberfall das Einzige gewesen, was Hellwig an dem ganzen Buch gefallen hatte! Plötzlich hatte Bens Entschluss festgestanden. Kein Drehbuch. Kein Banküberfall. Keine Überarbeitung. Keine Ablehnung. Kein Sender. Kein Film. Er würde Hellwig absagen. Genau! Er, Ben, würde etwas anderes machen. Und zwar ein richtiges Buch. Kein Drehbuch. Ein richtiges Buch über einen richtigen Fall. Einen Tatsachenbericht. Ein ganzes Buch über einen einzigen Fall. So wie Truman Capote in Kaltblütig ein ganzes Buch über einen einzigen Mordfall geschrieben hatte, so würde er, Ben, ein ganzes Buch über den Fall Julian Götz schreiben! Die Idee hatte ihn förmlich angesprungen, und er hatte gespürt, wie ihn die Aufregung gepackt hatte. Er hatte Götz hinter seiner Holzbrüstung stehen sehen und gewusst, dass es genau das war, was er machen wollte. Ben freute sich geradezu darüber, wie Hellwig sich ärgern würde. Es geschah ihm recht. Hellwig hätte sich eben doch die Mühe machen müssen, das Drehbuch Wort für Wort durchzugehen.
»Was denn für ein Projekt?« Sibylle sah Ben neugierig an.
»Ich war heute in Moabit, bei einer Verhandlung … Es war der Wahnsinn.«
Ben zögerte. Verriet er nicht zu viel von sich? Mit dem Buchprojekt hatte er erst heute Nachmittag begonnen – und schon sprach er davon? Eigentlich hatte er die Erfahrung gemacht, dass es einem Vorhaben nicht gut bekam, wenn man zu früh darüber redete.
Sibylle lehnte sich in der Couch zurück. ›Geh zu ihr hin, knie dich vor sie, pack sie an den Hüften, vergrab dein Gesicht an ihrem Hals.‹
»Sie machen da einem Mann den Prozess, der drei Menschen umgebracht haben soll.«
Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite.
Ben ging um den Küchentisch herum und trat an die Couch.
»Weißt du, welche drei Menschen?« Sie sah ihn an.
»Seine Frau und seine beiden Töchter.«
»Das ist ja furchtbar.«
›Vielleicht kannst du mit der Nase den Pullover hochschieben. Hat sie ein T-Shirt drunter?‹
»Die waren sechs und acht Jahre alt. Svenja und Pia.«
Sibylle beugte sich nach vorn.
›Jetzt geht es nicht mehr!‹
Plötzlich sah Ben den Staatsanwalt vor sich, einen massigen Mann mit spärlichem Haar, der in seinen Papieren geblättert hatte, nachdem Götz seine Ausführungen beendet hatte.
»Bewegende Worte, Herr Götz, kein Zweifel«, hatte er gesagt, »und seien Sie versichert, dass die Gefühle, von denen Sie eben gesprochen haben, jeder hier im Saal respektiert, ich an erster Stelle.« Der Staatsanwalt hatte aufgesehen, zu Götz, der Richter hatte ihm das Wort erteilt. »Tatsächlich weiß auch ich nicht, was sich am Fünfundzwanzigsten in Ihrem Haus ereignet hat. Ich weiß nur, dass es schon immer unzählige Gründe gab, weshalb Männer ihre Frauen erschlagen haben. Und ich weiß noch etwas. Nämlich dass in dem Moment, in dem es zu einem mörderischen Streit zwischen Ihnen und Ihrer Frau gekommen ist, auch erklärbar wird, weshalb Sie Ihre beiden Töchter getötet haben. Weil sie zu Zeugen geworden waren.« Die Stimme des Staatsanwalts hatte geklungen wie ein Fauchen.
»Das musst du dir mal vorstellen«, sagte Ben und warf Sibylle einen Blick zu, »der Mann ist erst ins Schlafzimmer zu seiner Frau gegangen, sie hat sich anscheinend kaum gewehrt. Er hat ihr mit einer Tischlampe aus Messing den Schädel eingeschlagen, und dann ist er auf seine Kinder los – die Kleinste, Pia, hat wohl in ihrem Bett noch geschlafen.«
»Haben Sie uns nicht eben in ergreifenden Worten erklärt, wie wichtig Ihre Arbeit für Sie ist?«, hatte der Staatsanwalt Götz entgegengeschleudert. »Das ist die Wahrheit, von der Sie sprachen, Herr Götz, die Wahrheit, von der Sie jeden hier im Saal sofort überzeugt haben.« Die weiten schwarzen Ärmel seiner Robe waren geflogen, und er hatte mit dem Finger auf Götz gezeigt, der noch immer an der Holzbrüstung gestanden hatte. »Deshalb mussten Ihre Töchter sterben: weil sie als Zeuginnen hätten aussagen können und Sie, Herr Götz, dann nie wieder hätten arbeiten können! Sie haben Schuldgefühle, weil Sie schuldig sind! Sie können seit diesem Abend an nichts anderes mehr denken, weil Sie die furchtbarste Schuld auf sich geladen haben, die ein Vater jemals auf sich laden kann. Nicht dass Sie auf Ihre Töchter nicht aufgepasst hätten, sondern dass Sie sie mit Ihren eigenen Händen getötet haben, mit der Kraft eines erwachsenen Mannes, der Ihre sechsjährige Tochter Pia und Ihre achtjährige Tochter Svenja nichts entgegenzusetzen hatten! Deshalb werden Sie hier von diesem Gericht verurteilt werden, und es wird ein Moment der Gerechtigkeit sein, der von uns allen eine bis zur Qual gesteigerte Last nehmen wird. Auch von Ihnen, Herr Götz, weil Sie dann wissen werden, dass es richtig ist, wahr und gerecht – und das Einzige, was Ihnen in der Hölle, in die Sie sich gestürzt haben, noch helfen kann!«
Ben senkte die Stimme. »Das ganze Kinderzimmer war voll Blut, die Puppen, der Teddy. Die Kleine lag unter ihrer Decke, verstehst du. Er kommt rein, sieht sie dort schlafen, seine eigene Tochter, schleicht sich ans Bett, holt aus –«
»Ja, ist ja gut!« Sibylle hatte eine Hand erhoben und hielt die Handfläche abwehrend in seine Richtung.
»Nein, stell dir das doch mal vor, er hält diese Scheißtischlampe fest, holt aus. Man hat Blutstropfen an der Decke gefunden. Die können dort nur hingekommen sein, weil er die Tatwaffe, die schon voller Blut gewesen ist, bis über den Kopf gerissen hat, um mit aller Kraft diesem schlafenden, unschuldigen sechsjährigen Mädchen ins Gesicht –«
»Hey!« Sibylle war aufgesprungen, ihre Stimme klang laut und klar. »Ist gut, okay?«
Ben spürte, wie er etwas einsackte. Fast kam es ihm so vor, als würde er wieder zu sich kommen. Er hörte, wie die Kaffeemaschine hinter ihm röchelte, der Kaffee war fertig. Irgendetwas war passiert, stand im Raum, er wusste, dass es unangenehm war, aber er wusste nicht genau, was es war. Abrupt drehte er sich um, ging in die Küche.
»Ist ja schon fast ein Uhr!«, hörte er Sibylle hinter sich.
Er nahm die Kaffeemaschine vom Herd und öffnete den Schrank, um zwei Tassen herauszuholen.
»Ist das okay für dich, wenn wir einen Kaffee trinken, sobald ich dir das wiederbringe?«
Er sah sich um. Sibylle hielt das Skript hoch, lächelte, aber ihr Lächeln war nicht mehr glitzrig, hell, hübsch, es war irgendwie verrutscht.
»Nee, klar, kein Problem.« Er sah, wie sie Richtung Wohnungstür ging.
»Ist echt viel später, als ich dachte.« Sie sah ihn nicht an. »Ich muss morgen dringend noch was für die Uni tun.«
Ben musste sich regelrecht beeilen, um sie noch vor der Wohnungstür einzuholen.
›Hat Spaß gemacht, mit dir zu reden.‹ Nein, das konnte er jetzt auch nicht mehr sagen …
Sie hatte ja schon die Klinke in der Hand, zog die Tür auf.
Küsschen? Nein, nein.
»Sorry wegen dem Kaffee, ja?« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu.
»Kein Problem.«
»Tschühüs.«
Weg war sie. Er hörte ihre Schritte auf der breiten Betontreppe klappern.
Erst als Ben den Kaffee in den Ausguss schüttete, fiel ihm auf, dass sie etwas vergessen hatte. Ihre gelbgrüne Jacke. Sie hatte ja gar nicht schnell genug aufbrechen können!
Er griff nach der Jacke – und spürte, wie er sein Gesicht darin vergrub. Sie duftete gut, genau, wie er sich vorgestellt hatte, dass sie riechen würde.
›Ich bring ihr die schnell‹, sagte er sich, und schon war er an der Tür, riss sie auf. Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er die Treppe hinunter.
Die Straße lag verlassen da. Ben wandte sich nach rechts. Es war klar, dass sie nach rechts gegangen sein musste, weil sie nur dort eine U-Bahn-Station oder Bushaltestelle vermuten würde, beziehungsweise eine Hauptstraße, auf der sie ein Taxi bekommen könnte. Er hastete bis zur Straßenecke und blickte die erste Querstraße hinunter. Sie lief etwa zweihundert Meter vor ihm an dem Fabrikgelände entlang, das sich in die Straße hinein erstreckte.
»Sibylle?« Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Ben setzte sich in Trab. »Sibylle!«
Sie blieb stehen, sah sich um.
»Deine Jacke!« Er schwenkte das Kleidungsstück über dem Kopf. Aber sie schien ihn nicht verstanden zu haben. Er sah, wie sie den Kopf schüttelte, mit der Hand eine abwehrende Geste machte. Bevor er noch etwas rufen konnte, hatte sie sich wieder umgewandt und begann zu laufen – von ihm weg.
»Wart doch mal!« Er wurde schneller. Was sollte denn das? Das war doch lächerlich. Hatte sie Angst vor ihm? Er sah sie laufen, sie lief nicht schlecht.
»He.« Er rannte, so schnell er konnte, der Abstand zwischen ihnen wurde rasch kleiner. Das musste er jetzt aufklären, sonst hielt sie ihn noch für vollkommen verrückt. Schon war er bei ihr, hörte sie keuchen, griff nach ihrem Arm.
»Aaahh!!« Sie schrie aus vollem Hals, aber sie befanden sich zwischen dem Fabrikgelände und einem achtstöckigen Bürogebäude, das nachts nicht besetzt war. Erschrocken ließ er sie los, sie stolperte, rannte schon wieder.
Er setzte ihr nach. »Sibylle, ich will dir – deine Jacke!«
»Lass mich.« Jetzt sah er nur noch ihr verzerrtes Gesicht, die Haare klebten ihr an der Stirn. Er fühlte, wie seine Hand ihre Brust streifte, nahm den Geruch wahr, der von ihr ausging und den er von ihrer Jacke schon kannte, versuchte ihre Arme zu halten, die um sich schlugen – und ließ sie los.
Innerhalb von Sekunden war sie zehn, zwanzig, hundert Meter weit von ihm weg, die Angst schien sie vor sich herzutreiben. Sein Skript war auf den Bürgersteig gefallen.
Ben atmete schwer. So ein Wahnsinn! Er spürte, wie sein Herz in seiner Brust raste. Wie der Duft, der von ihr ausgegangen war, ihm zusetzte. In seinem Handrücken glühte der Moment der Berührung – die Weichheit, mit der ihre Brust nachgegeben hatte.