79

»Du arbeitest für Götz, in seinem Büro, erzähl mir doch nichts, Sophie!«

Ben hatte die Grundrisse, die Fotos, die Skizzen aus dem Arbeitszimmer geholt und auf den Wohnzimmertisch geworfen. Sebastian hatte die Villa vor gut einer Stunde verlassen. Sophie hatte ihm nicht gesagt, dass Ben bei ihr war.

»Als leitender Architekt muss Götz diese Struktur von Anfang an geplant haben. Ganz alleine kann er das aber nicht durchgezogen haben.« Ben holte Luft. »Der Bauzeichner, der Statistiker, ich meine …«

Sophie sah ihn an. Sie wirkte erschöpft, aufgewühlt, am Ende ihrer Kräfte. »Wenn so etwas erst mal in den Plänen drin ist, geht das leichter, als man denkt«, sagte sie leise.

»Ja? Ja, wahrscheinlich.« Ben ließ sich in den Sessel vor dem Tisch fallen.

»Einen solchen Häuserblock zu bauen ist eine extrem komplexe Arbeit. Auf der Baustelle gibt es nur einen Anhaltspunkt. Die Pläne. Was da nicht drauf ist, existiert nicht.«

»Wie die Struktur im Kern des Blocks.«

Sophie nickte. »Mit zwei verschiedenen Sets von Plänen kannst du im Prinzip alles bauen, solange ein paar entscheidende Leute mitmachen und von außen nichts davon zu sehen ist.«

»Aber warum?«, brauste Ben auf. »Was ist in diesem Kern? Wozu das Ganze, was soll das?!«

Sie schwieg, wandte sich ab.

»Was geht dort vor, Sophie? Was passiert in diesem Teil des Gebäudes?«

Sie schloss die Augen.

»Sophie! Was stellst du dir denn vor? Dass du dich aus all dem heraushalten kannst? Warum hast du deinem Bruder nicht gesagt, dass ich hier bin?«

»Weil ich nicht wollte, okay?!« Ihre Stimme gellte durch den Raum. »Was willst du denn hören? Dass ich Sebastian hintergangen habe, dass ich meiner Familie in den Rücken gefallen bin?«

»Bist du?«

»Nein!«

»Warum hast du ihm dann nicht gesagt, dass ich zu dir gekommen bin?« Ben ließ nicht locker.

»Das willst du gar nicht wissen.«

»Was will ich nicht wissen?«

Sie hatte die Augen wieder geöffnet. »Warum ich Sebastian gegenüber geschwiegen habe.«

»Doch!« Ben stand auf. »Ich will es wissen! Ich will wissen, warum er diese Pläne beiseiteschaffen wollte. Was hier vorgeht!« Er beugte sich über den Tisch und stach mit dem Zeigefinger genau in den schraffierten Bereich. »Das sind acht mal sechzehn Meter, Sophie, das ist ein Areal, doppelt so groß wie dieses Zimmer hier. Es befindet sich auf allen acht Stockwerken des Gebäudes und auch in den vier Kellergeschossen. Was ist dort drin, Sophie!«

»Ich weiß es nicht.«

»Bullshit!«

Er taumelte. Ein heftiges Stechen in den Handflächen hatte ihn durchzuckt. Ben warf einen Blick auf den Verband, mit dem er sich die versengte Haut flüchtig verbunden hatte. An den Rändern hatte sich das Tuch gelblich gefärbt. Die Wunde hatte begonnen zu suppen, den Stoff bereits eingeweicht.

»Weißt du, was ich an dir nie gemocht habe, Ben?«

Überrascht sah er auf.

»Der Mann, der hier gemordet hat, hat ein Verbrechen begangen, das an Grausamkeit nicht zu überbieten ist. Eine Tat, von der ich manchmal denke, dass sie nur ausgeführt haben kann, wer darauf versessen ist, sich dem Bösen hinzugeben.« Sophie sah ihn vom Sofa aus an. Ruhig, gefasst. »Jemand, der es darauf abgesehen hat, zu beweisen, dass er sich vor dem Bösen, der Untat, dem Grauen nicht fürchtet. Aber er hat im Feuer des Augenblicks gehandelt, während du, Ben, kalt, berechnend und schäbig gehandelt hast.«

Ben atmete aus. Aber sie war noch nicht fertig.

»Du hast dich hingesetzt und berechnet, was es dir bringt, wenn du das Feuer für dich ausschlachtest, durch das der Täter gegangen sein muss. Du bist nicht zum Sklaven deiner Triebe geworden, die dich in Abgründe gerissen hätten, vor denen ein jeder zurückschaudert. Du bist Sklave deiner Berechnung gewesen, Sklave deiner eigenen Kläglichkeit, die dich zwingt, sich an jemand anderen ranzuhängen. Du hast versucht, dir mein Vertrauen ebenso zu erschleichen wie das von Götz, indem du vorgegeben hast, ein Buch zu schreiben, das die Ereignisse aus seiner Sicht darstellt. In Wahrheit aber hast du diese Absicht nie gehabt. In Wahrheit ging es dir immer nur darum, Zugang zu jemandem zu bekommen, den du gewinnbringend aussaugen kannst. Das ist es, was ich an dir nie gemocht habe, Ben, auch wenn ich das erst jetzt wirklich begreife. In gewisser Weise stößt mich die Kälte deiner Tat noch mehr ab als die Hitze des Wahnsinns, der hier in diesem Haus vor sich gegangen sein muss.«

Ben ließ seinen Verband los. Der beißende Schmerz war einem Pochen gewichen. Sophies Worte hatten ihn verblüfft. Aber er wusste sofort, was sie meinte. Hatte er es nicht selbst in all den Tagen als Qual empfunden? Das Gefühl, etwas Falsches zu tun, sich schmutzig zu machen, sich mit dem Blut, das hier vergossen worden war, auf seltsame Weise selbst zu besudeln? War er deshalb auf die Idee gekommen, er wäre derjenige gewesen, der die Kinder und Christine erschlagen hatte?

Aber während er nach Worten suchte, wehte ihn noch eine andere Ahnung an. Würde Sophies Geringschätzung, die ihn eben erwischt hatte wie eine Ohrfeige, nicht Lügen gestraft sein, wenn sich herausstellte, dass sie irrte – dass er eben nicht jemand war, der sich nur ranhängte an das, was andere im Feuer des Augenblicks getan hatten? Wenn sich herausstellte, dass tatsächlich er derjenige gewesen war, der in diesem Haus gewütet hatte wie ein Wahnsinniger im Rausch des Bösen, des Grauens, des Tötens?

Sie schaute ihn an, ihr Blick kam ihm seltsam abschätzend vor.

Und plötzlich schoss Ben ein weiterer Gedanke durch den Kopf. War er vielleicht erst jetzt, wo er darüber nachgrübelte, die Tat eventuell selbst begangen zu haben, war er vielleicht erst jetzt da, wo Sophie ihn schon die ganze Zeit über haben wollte? Hatte sie nicht, bevor Sebastian gekommen war, gesagt, dass er sich stellen müsse? Dass sie nicht glaubte, Lillian und Götz hätten das T-Shirt bei ihm plaziert? Ja, konnte es wirklich sein, dass sie so raffiniert war, ihn auf diese Weise in den Wahnsinn zu treiben – in den Wahnsinn, der darin bestand, diese Wahnsinnstat auf sich zu nehmen?! Indem sie ihm vorhielt, dass seine kalte Tat sie noch mehr abstieß als der blutrünstige Mord an Christine und den Kindern?

Plötzlich spürte Ben, wie er innerlich verhärtete. Er würde sich von ihnen nicht manipulieren lassen. Von Götz nicht, von Sophie nicht, von niemandem! Er hatte sich ihr anvertraut, aber sie verachtete ihn. Na und? Er war auf sie nicht angewiesen! Im Gegenteil, vielleicht gelang es ihm, den Spieß umzudrehen und sie auszuspielen, anstatt sich von ihr ausspielen zu lassen!

»Lenk doch nicht ab«, presste er zwischen den Zähnen hervor und griff nach dem Grundriss auf dem Tisch. Er zog ihn beiseite, so dass darunter einige Fotos sichtbar wurden, die er im Arbeitszimmer gefunden hatte. »Es geht mir nicht um das, was hier in der Villa passiert ist, Sophie, es geht mir um das hier.«

Er hielt ein Foto hoch. Es musste aus einer späteren Phase der Bebauung und Einrichtung des Häuserblocks stammen. Einer der größeren Betonräume war darauf zu sehen. Der nackte Zement war bereits abgedeckt und verhängt, Kissen, Tücher, Lampen und Vorhänge waren installiert, so dass der Raum mit Rottönen, Samt, Fransen und Schleiern wie ein Beduinenzelt wirkte. Das groteske Abbild eines märchenhaften Schlafzimmers, raffiniert ausgestattet mit indirekter Beleuchtung und einer Spielwiese, die auf dem Bild noch unbenutzt aussah, bei der jedoch sofort zu erkennen war, dass sie ihren Reiz im Halbdunkeln entfalten sollte.

»Und hier?« Er warf das nächste Foto auf den Tisch. War die verspielte Boudoir-Installation eine Kissenlandschaft gewesen, so durchgleißte es diesen Raum hart, blank, nackt, wohin das Auge auch ging. Stahlrohre, Riemen, Kacheln, Gestelle, abwischbare Polster, Schienen, Federn, ovale Löffel, Klammern und Schlaufen – das blinkende Werkzeug einer seltsamen Folterkammer, deren Anblick sofort an die organischen Formen menschlicher Körper denken ließ. Metallische Härte, bei der es einen schauderte, weil man förmlich zu spüren vermeinte, wie die nackte Haut unter dem kalten Stahl nachgab.

»Was – ist – das?«, sagte Ben und legte das dritte Foto vor Sophie auf den Tisch. Ein aufs Wesentliche reduzierter Operationssaal war darauf zu sehen, mit einer Deckenleuchte, einem verstellbaren Bett, einem Wagen mit chirurgischen Instrumenten und elektronischen Überwachungsgeräten, die wirkten, als stammten sie noch aus den siebziger Jahren.

»Was geht dort vor, Sophie?« Er hatte die Stimme gesenkt.

Sie starrte an den Aufnahmen vorbei auf den Teppich.

»Geht es um Sex?«

Ihre Augen weiteten sich ein wenig, sie wirkte abwesend.

»Was ist? Feiern sie Orgien dort? Nicht nur Orgien, das findet ja in jedem dreckigen Swingerclub statt. Warum brauchen sie ein Haus, das nur die wenigsten kennen, das sich aber mitten in Berlin befindet? Ein Haus im Haus ohne Fenster, in dem solche Räume liegen, Sophie. Was machen sie dort?«

Ihr Blick war wie abgekoppelt. »Julian kommt frei.« Ihre Lippen bewegten sich kaum. »Ich wollte es dir die ganze Zeit schon sagen, aber du bist ja wie besessen von diesen Plänen.«

Ben taumelte. »Was?«

»Sebastian hat es mir vorhin gesagt, bevor er gegangen ist. Sie haben in der Tiefgarage von Lillians Wohnhaus eine Überwachungskamera entdeckt. Er kommt frei. Julian ist auf den Bildern zu erkennen, wie er seinen Wagen verlässt. Zur Tatzeit.«

Das ist das Ende, ratterte es Ben durch den Kopf.

»Er braucht Lillians Aussage nicht mehr. Es stimmt. Er war es nicht. Er hat auch ohne sie ein Alibi, und zwar eines, das man nicht fälschen kann. Er war nicht im Tiergarten, sondern bei seiner Freundin. Wahrscheinlich wollte er sie erst nicht mit hineinziehen und hat es deshalb verschwiegen. Aber jetzt kommt er frei, noch heute. Als sie die Überwachungsbänder bei der Ermittlung im Mordfall Lillian Behringer gecheckt haben, sind sie auf die Aufnahmen mit Julian gestoßen. Der Prozess gegen ihn wird abgebrochen. Er kann es nicht gewesen sein.«

Aber wer war es dann?

Ein Gefühl der Beklemmung schnürte Ben die Kehle zu.

Ihr Blick wanderte zu ihm. »Er wird hierherkommen, Ben. Es ist sein Haus.«

»Wer war es dann?« Seine Stimme war tonlos.

»Ich weiß es nicht.«

»Hilf mir, Sophie!«

Verzweifelt versuchte Ben, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Nicht sie würde ihn ausspielen, er würde sie ausspielen. Um von ihr zu erfahren, was es mit den Plänen und dem versteckten Haus auf sich hatte!

»Wenn Götz es nicht war«, seine Stimme verlor jede Farbe, »kann es wirklich sein, dass ich es war?«

Seine Gefühle blendeten ineinander. Spielte er es ihr nur vor? Um sie in Sicherheit zu wiegen, dass er das tatsächlich glaubte? Oder war es doch wirklich der Fall? Hatte er hier in der Villa getötet? Sekunde für Sekunde fiel es ihm schwerer, alles auseinanderzuhalten. Und er spürte, wie sich Verwirrung, Angst und bodenlose Verunsicherung auf seinem Gesicht abzeichneten.

Sophie aber saß da, lauernd, abwartend, wie eine sich anschleichende Katze.

Glaub mir, Sophie! Glaub mir, dass ich glaube, es gewesen zu sein, dann wirst du dein wahres Gesicht zeigen!

Aber ihr Gesicht blieb für Ben undurchdringlich. Er kam nicht an sie heran. Die Wut schwappte über ihn hinweg.

»Reicht dir das denn immer noch nicht!«, platzte es aus ihm heraus. »Dass ich mich bekenne, deine Schwester, deine Nichten getötet zu haben? Ist es nicht das, was du hören willst? Ist es nicht der Punkt, an den du mich schon bringen wolltest, als du das T-Shirt in meine Wohnung gebracht hast?!«

Ihre Augen blitzten.

»Es war nicht Lillian, Sophie. Du warst es, du hast dich von deinem Bruder einspannen lassen. Du hast getan, was du konntest, er hat es vorhin selbst gesagt. Das ist es, was er damit meinte, richtig? Dass du dich von ihm hast überreden lassen, mich noch viel tiefer in diese Sache hineinzuziehen, als ich Wahnsinniger mich ohnehin schon hineinverstrickt hatte!«

»Ben, hör mir zu, vorhin, auf dem Teppich, es war keine Berechnung.«

»Ach! Deshalb misstraut dir dein Bruder«, schrie er. »Weil er spürt, dass du mich magst, weil er spürt, dass er sich auf dich nicht verlassen kann! Was aber soll ich dir noch glauben, Sophie, nach all dem, was vorgefallen ist?«

»Zieh es nicht in den Schmutz, Ben, reiß nicht alles mit hinab. Wir können noch etwas retten. Es ist noch nicht zu spät.«

War es ihr ernst?

»Noch nicht zu spät! Wann wäre es denn in deinen Augen zu spät? Wenn ich für die Tat eines Wahnsinnigen verantwortlich gemacht werde – ist es dann zu spät? Oder erst dann, wenn ich nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden kann? Was soll ich denken? Auch ich habe es ernst gemeint, Sophie, vorhin, als ich dich bat, mir zu helfen. Hilf mir heraus aus diesem Dschungel von Halbwahrheiten, Andeutungen, Verdächtigungen, Gerüchten. Dann vielleicht können wir uns ansehen.«

Meinst du es wirklich so, raste es in seinem Kopf, oder willst du sie nur heranlotsen an den Abgrund, in den du sie stoßen willst? Schreckst du nicht davor zurück, ihre Zuneigung zu missbrauchen?

Er sah, wie sich Sophies Hände ineinander verkeilt hatten, wie sie ihre Finger nach hinten bog. Sie konnte sich von den Zwängen, die an ihr zerrten, nicht befreien.

Er trat zu. Der Tisch stürzte um, die Fotos rutschten über den Teppich. Pias blutiges Gesicht blitzte vor ihm auf. Er riss die Hände an den Kopf.

»Willst du wissen, was wahr ist, Ben? Bist du wirklich bereit dazu?« Ihre Stimme war laut und hell.

Was wahr ist?

Ja!

Der Architekt
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