63

Als Ben seine Schritte endlich drosselte, wurde die Straße beidseitig von schmucklosen, biederen Fünfziger-Jahre-Mietshäusern gesäumt. Nicht aufzufallen war jetzt wichtiger, als so schnell wie möglich vorwärtszukommen. Er schlang die Schöße seines Mantels um sich, hatte die Jacke darunter über den bloßen Oberkörper geknöpft. Es war nicht besonders kalt, langsam schien sich der Frühling durchzusetzen. Halbnackt durch die Straßen zu hetzen war dennoch ein quälendes, zusätzlich verunsicherndes Gefühl.

Sie können es nicht sehen, sagte er sich. Sie sehen nur einen Mann im Mantel. Woher sollten sie wissen, was du darunter anhast?

Die Autos, die ihm mit kreischendem Motor auf der Straße entgegenkamen, hatten ihre Scheinwerfer bereits eingeschaltet. Der Himmel war dunkelgrau. Binnen einer halben Stunde würde es Nacht sein. Nacht an einem Dienstag. Und er hatte keine Ahnung, wo er sie verbringen sollte.

Warum machte er nicht kehrt und sprach mit den Beamten? Vielleicht konnte er ihnen helfen. Mit unsicheren Schritten marschierte Ben die Straße entlang weiter nach Süden.

Er war da gewesen, er hatte die Nacht mit ihr verbracht. Er hatte getrunken, er war geradezu wild nach ihr gewesen. Er hatte die Tür zum Gästezimmer eingetreten, sich vor sie hingekniet, ihren Slip über die Hüften gestreift, ihre Pobacken genommen, war mit der Zunge über die Stoppeln ihrer Schamhaare geglitten. Die Erinnerung war zerhackt. Er sah eher Blitze und Splitter vor sich als einen zusammenhängenden Ablauf. Er hatte versucht, sie zu Boden zu ringen, aber sie hatte sich ihm entzogen.

Es war alles ein Spiel, es gehörte dazu, sie war auf mich angesetzt.

Sie war aus dem Zimmer gerannt. Er hatte einen Moment lang auf dem Boden gekauert, keuchend, verschwitzt, wie ein Bogen gespannt vor Gier. Im Wohnzimmer hatte er sie wiedergefunden. Sie hatte eine Decke um ihre Schultern geschlungen, aber vorne war ein Spalt offen geblieben, durch den hindurch ihre Brüste ihn angelockt hatten. Er war gegen den Tisch geknallt, hatte den Sessel zur Seite getreten, die Hände nach ihr ausgestreckt. Sie hatte mit ihm gespielt, die Decke zusammengenommen, seinen Blick wie mit der Schere abgeschnitten. Ihr Mund hatte geglänzt, die Luft war schwer gewesen, er hatte sich auf sie gestürzt, doch sie war zur Seite ausgewichen. Für einen Moment hatte es ausgesehen, als wolle sie ihn bitten zu gehen, aber er hatte es nicht mehr ertragen, nicht mehr hören wollen, hören können. Danach war es ein Strudel, ein Stürzen gewesen, er konnte noch jetzt, wenn er daran zurückdachte, ihr Fleisch an seinem Körper spüren, fühlen, wie es sich bog und spannte und ihm zugleich unaufhörlich zuzuschreien schien: »Fick mich, dann kommen wir beide endlich zur Ruhe!«

Der Whisky hatte seinen Körper durchspült, wieder und wieder hatte er die Flasche angesetzt, um sich abzulenken, um sich nicht enthemmt, hirnlos, blind vor Wollust auf sie zu stürzen, obwohl der Anblick ihrer Nacktheit, ihre Bewegungen ihn aufstachelten, sein Denken zuspitzten zu einem einzigen Stachel, den er in ihr versenken wollte – musste.

War er hinter ihr hergestürzt? Hatte er sie mit sich gerissen? War das nicht Lillian gewesen, die sich unter ihm gewunden hatte? Aber wo? Im Wohnzimmer, im Flur? Es waren Schatten, Lücken, mehr Gefühle der Berührung und des Drängens als Bilder, die er – schweißnass und mit Nerven, die wie gerissene Drähte in seinem Schädelkasten herumschlingerten – in sich aufglühen sah. Fetzen und Teile, abgerissen, herausgelöst und zerborsten, Splitter, die sich nicht zusammenfügten. Nur die Lust, die Gier, die Lillian in ihm entfacht hatte und die auch jetzt wieder, obwohl er vollkommen zerschlagen war, seinen Körper aufpeitschte, war klar, einfach, unbezweifelbar. Was genau geschehen war, blieb jedoch wie ausgelöscht, vom Alkohol weggebrannt.

Viel später war er wieder aufgewacht, das wusste er mit großer Klarheit. Er hatte im Wohnzimmer an der Tür zum Flur gelegen, mit schmerzenden Gliedern, der Kopf wie abgetrennt vom Rumpf. Sie war nicht da gewesen, nicht neben ihm, nicht auf dem Sofa. Er war nackt gewesen, hatte seine Kleider gesucht. Im Bad war die Dusche gelaufen, seine Anziehsachen lagen im letzten Zimmer des Flurs wild über den Fußboden verstreut. Er hatte sich angekleidet und nach ihr sehen wollen. Die Schlafzimmertür war zugezogen.

Er hatte gezögert. War es besser, wenn er sie später anrief? Er hatte sich beeilen müssen, um rechtzeitig zu seinem Termin mit Götz in die U-Haft zu kommen. Und gewusst, dass er zu weit gegangen war.

Der Architekt
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