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Architekturvisionen. Ein Bau, der auf seine Bewohner wirkt. Ansteckende Phantasien. Ben saß am Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm, über den hinweg ihm Leuchtpunkte entgegenflogen, die am Rand wieder verschwanden. Der Bildschirmschoner hatte sich eingeschaltet.

In Gedanken war er noch immer bei Götz in der U-Haft. Aber sosehr er auch versuchte, die einzelnen Andeutungen und Vorstellungen, die Götz ihm gegenüber erwähnt hatte, zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen, entglitt ihm doch immer wieder der rote Faden, an dem er glaubte, alles aufziehen zu können. Immer wieder landete er bei der zentralen, alles entscheidenden Frage: Hatte Julian Götz seine Frau und seine beiden Töchter getötet? Und wenn ja, warum? Oder war es jemand anderer gewesen. Aber warum?! Und wer?

Als müsste er sich gegen die diffusen Gedanken und Assoziationen, die auf ihn einströmten, wehren, stemmte sich Ben in seinem Sitz hoch. Es hatte keinen Sinn, länger zu grübeln. Aber er war auch viel zu aufgewühlt, um ernsthaft weiterzuarbeiten. Er musste sich ablenken, den Kopf freibekommen. Die ganze Sache endlich einmal vergessen, und sei es auch nur für ein paar Stunden. Aber wie? Vielleicht bei einem Spaziergang durch die Stadt? Sein Blick blieb an ein paar Staubflusen hängen, die träge über den Boden rollten, während er auf und ab ging.

 

Laut heulte der Motor auf, als Ben den Staubsauger einschaltete. Er hatte das Gerät von der hinteren Treppe geholt, auf der es unter Scheuereimern, einer alten Leiter und Putzlappen gelegen hatte. Befriedigt fuhr er mit der Saugdüse an der Scheuerleiste entlang und beobachtete, wie die Flusen in dem Plastikstutzen verschwanden.

Als Nächstes würde er den Boden wischen. Normalerweise putzte er die Wohnung regelmäßig. Aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse der letzten Zeit hatte er es jedoch seit Wochen versäumt. Damit sollte heute Schluss sein! Er würde dem Dreck, der sich in allen Ecken gesammelt hatte, den Garaus machen. Fast war es, als bereitete es ihm Mühe, in dem Raum zu atmen, in dem der Staub nicht nur in hohen Flocken über das Parkett wehte, sondern auch auf den Schränken lag, auf seinen Papieren, den Büchern, dem Fensterbrett.

Ben lehnte den Saugstutzen an das Sofa, trat an die Wand und strich mit dem Finger darüber, besah sich die Fingerkuppe. Eine hauchdünne graue Schicht überzog selbst die Wand. Er würde die Wände abwischen müssen. Sein Blick fiel auf die Fenster. Es war höchste Zeit, dass er sie putzte.

In den Sonnenstrahlen, die durch die Scheiben fielen, konnte er die Staubpartikel, die sich überall in der Wohnung befinden mussten, regelrecht tanzen sehen. Er spürte, wie sich die feinen Körner unter seine Lider schoben, rieb sich die Augen und riss schon im nächsten Moment die Hände wieder herunter. Er hätte sie sich vorher waschen müssen. Jetzt hatte er sich den aufgewirbelten Staub erst recht unter die Lider getrieben!

Im Bad drehte er den Kaltwasserhahn auf und hielt die Hände unter den Strahl. Als er in den Spiegel sah, fiel ihm auf, dass seine Augen stark gerötet waren. Vorsichtig griff Ben nach dem Lid seines linken Auges und hob es an. Das verletzliche Fleisch löste sich vom Augapfel. Während das Augenweiß lediglich hellrosa leuchtete, war das innere Lidfleisch tiefrot, beinahe schwarzrot gefärbt. Er ließ das Lid zurück auf den Augapfel schnappen. Und zuckte zusammen. Als hätte er es mit Pfeffer bestreut, glühte sein Auge auf.

»Verdammt!«

Sorgfältig darauf bedacht, sein Auge nicht noch einmal zu berühren, zog Ben sich die Kleider vom Leib, drehte die Dusche auf und stellte sich unter den Strahl. Er legte den Kopf in den Nacken, zwang sich, das geöffnete Auge ins Wasser zu halten. Es ziepte und kniff, aber es kam Ben doch so vor, als würde das Wasser den Staub aus dem Auge herausspülen.

Er drehte den Strahl wieder ab, trat aus der Dusche heraus, schnappte sich sein Handtuch und trocknete sich ab. Erst als er das Tuch wieder an den Haken hängen wollte, bemerkte er, dass er seine Augen seit ein paar Minuten geschlossen gehalten hatte.

Vorsichtig versuchte Ben, sie zu öffnen. Das eine Lid hob sich ein wenig, das andere blieb gleich ganz zu. Verwirrt warf er das Handtuch auf den Klodeckel und trat vor den Spiegel. Er konnte nur durch den schmalen Schlitz des rechten Auges sehen. Aber was er im Spiegel erblickte, erschreckte ihn. Seine Lider mussten durch die Reizung ungewöhnlich angeschwollen sein. Es sah aus, als wäre ein Schwarm Wespen über ihn hergefallen und hätte ihn in die Augen gestochen.

»Scheiß Stauballergie.«

Nackt, wie er war, taumelte er zurück ins Wohnzimmer. Es wird sich gleich wieder geben, sagte er sich und ließ sich aufs Sofa fallen.

›Alles ein bisschen viel in letzter Zeit. Ruh dich aus, Ben, schlaf ’ne Runde.‹

Er zog die Wolldecke, die auf dem Sofa lag, über sich und rollte sich ein. Kaum jedoch hatte seine Nase die Kissen berührt, roch er es auch schon. Staub. Auf den Kissen, zwischen den Polstern, tief in die Fasern des Stoffs eingedrungen. Ein trockener, nicht wirklich unangenehmer Geruch, und doch der Geruch von feinsten Partikeln, die sich in seine Augen bohrten, in seine Mundwinkel setzten, seine Ohren befielen.

Er riss sich hoch, tastete sich mehr mit den Händen, als dass er lief, ums Sofa herum zum Staubsauger, der noch immer gegen die Rückseite gelehnt war, und trat erneut auf den Einschaltknopf. Das laute, pfeifende Geräusch der Maschine zerrte an seinen Nerven. Ben sah den Staubbeutel, den er noch nie gewechselt hatte, förmlich vor sich. Bis zum Platzen gefüllt mit dem Dreck und den Flusen der letzten Jahre. Wahrscheinlich passte längst nichts mehr hinein, und die Maschine wirbelte den Staub nur auf. Aber er hatte keine Wahl. Er zog das lange Saugrohr ab, ließ es zu Boden fallen und ging mit dem Schlauch und dem kurzen Saugstutzen zur Vorderseite des Sofas. Eines nach dem anderen nahm er die Kissen hoch, saugte sie ab und stapelte sie auf dem Boden. In den Ritzen! Die Fussel und Körnchen und Splitterchen mussten zwischen die Polster gedrungen sein! Er hob das rechte der beiden großen flachen Polster hoch, die die Sitzbank des Sofas bildeten, saugte es ab, ließ es auf den Boden rutschen. Dann das zweite. Jetzt die Ritzen. Langsam fuhr er mit dem sich immer wieder am Stoff festsaugenden Schlauch die Kanten entlang. Bis sich mit einem Mal das laute, aber gleichmäßige Sauggeräusch zu einem schrillen Fauchen steigerte. Ben drehte den Kopf, um mit dem nicht ganz zugeschwollenen Auge das Ende des Schlauchs zu inspizieren. Ein Stück Stoff hatte sich darin verfangen. Er zog es gegen die Ansaugkraft ab, wollte es schon zu den Kissen auf den Boden werfen, um es nachher entsorgen zu können, als er stutzte. Es war kein altes Taschentuch, kein Putzlappen, keine Socke.

Unwillkürlich hielt er sich den Stoff unter die Nase. Geruchlos. Geblümt. Er breitete das Tuch aus.

Ein T-Shirt. Aber ein T-Shirt, das er noch nie gesehen hatte.

Der Architekt
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