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Als Ben aufwachte, wurde es gerade hell. Sein Blick fiel auf den Radiowecker auf dem Nachttisch. Kurz vor halb sieben.
Sein Kopf war schwer. Sie hatten miteinander geschlafen. Der Sex war wie ein Rausch gewesen. Gegen zwei Uhr nachts musste er eingeschlafen sein.
Er schlug die Decke zurück. Das Bettzeug roch noch nach ihr.
»Lillian?«
Er wusste, dass sie nicht mehr da war. Mühsam schwang er die Beine über den Bettrand, stand auf. Ihn schwindelte. Er stapfte zu seinem Jackett, das über der Lehne des Stuhls am Fenster hing, und holte sein Handy hervor. Es war noch immer ausgeschaltet. Als er es aktivierte, zeigte es einen Anruf auf der Mailbox an. Sophie.
»Ben? Ich wollte vorhin nicht stören. Es ist … weißt du, ich wollte dich kurz treffen, wegen meiner Familie. Ich habe das Gefühl, ich muss dazu was sagen. Morgen auf einen Kaffee vor der Arbeit? Würde mich freuen. Sophie.«
»Hey.« Gut gelaunt trat Sophie an ihm vorbei in die Fabriketage, als er ihr zwei Stunden später die Tür zu seiner Wohnung öffnete.
»In so einer Loft habe ich immer schon einmal leben wollen.« Sie drehte sich um ihre Achse.
Ben schloss die Tür. »Mir kommt es manchmal so vor, als wäre es gar nicht so schlecht, mehr als nur einen Raum zu haben.« Eigentlich hatte er sie in einem Café treffen wollen, aber Sophie hatte gemeint, sie würde am liebsten zu ihm nach Hause kommen.
»Machst du mir einen Kaffee?« Ihre Haare waren offen, umrahmten ihr Gesicht wie eine Mähne.
Ben nickte und ging in die Einbauküche.
»Ich hoffe, ich habe dich jetzt nicht zu sehr überfallen«, hörte er sie hinter sich sagen.
»Im Gegenteil, ich freu mich, dass du vorbeikommst.« Er angelte nach der Büchse mit dem Espressokaffee.
»Und? Wie geht’s voran?« Er drehte sich um. Sie stand hinter dem Sofa, das zur Küche hin ausgerichtet war, sah aber zu seinem Schreibtisch hinüber, der an der Wand stand. »Mit der Arbeit, meine ich.«
»Heute nicht so doll«, gab er zu.
»Wo bist du denn gerade?«
Ben runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht.«
»Du weißt nicht, wo du in dem Buch bist, das du schreibst?«
»Nein, ich schreibe nicht unbedingt das Buch von A bis Z durch, ich arbeite eher mal hier, mal dort, mal mehr am Anfang, dann wieder in der Mitte …«
Sie nickte, ohne etwas zu sagen.
»Müssen wir über das Buch sprechen?«
Die paar Worte allein hatten den Kopfschmerz wieder verstärkt, der ihn schon den ganzen Morgen über plagte. Und er hatte auch eine Ahnung, woran das lag. Seitdem Götz ihm eröffnet hatte, dass er gelogen hatte, war es Ben nicht mehr gelungen, etwas zu schreiben. Sollte er Götz wirklich ins Gesicht sagen, dass er ihn als Unschuldigen darstellen würde – und hinter seinem Rücken, im Text, das genaue Gegenteil behaupten?
»Reden wir lieber von dir«, schlug er vor. »Wie läuft es bei Götz Town Structures? Kommt ihr mit euren Projekten voran?«
»Na ja«, sie ging um das Sofa herum und setzte sich. »Julian kann die Geschäfte nur sehr bedingt von der U-Haft aus leiten. Da sind ein paar Sachen natürlich ins Stocken geraten.«
Ben schraubte die Kaffeemaschine zu und stellte sie auf den Gasherd. Ein Bild von Lillian, nackt auf dem weißen Laken des Hotels, blitzte vor ihm auf.
»Hast du eigentlich eine Freundin?«
Ben warf Sophie einen Blick zu. Sie feixte ihn an.
»Geht dich das was an?«, schoss er zurück.
»Oh«, übertrieben entschuldigend hob sie beide Hände und wackelte mit den Hüften. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
Er fuhr sich durch die Haare. »Nein, schon gut. Ich bin irgendwie noch ein bisschen neben der Spur.« Er hockte sich auf den Sessel, der dem Sofa gegenüberstand. »Im Moment bin ich, wie heißt es so schön, single. Und du?« Jetzt war er es, der grinste.
»Single.« Sie schlug die Beine übereinander und nahm die Haare hinter dem Kopf zusammen, blieb mit aufgerichteten Armen und den Händen hinter dem Kopf sitzen.
»Wieso das?«, hakte er nach.
»Ich bin gern unabhängig«, sagte sie. »Aber …«
»Aber?«
»Aber das heißt ja nichts, wollte ich fast schon sagen, habe es mir dann aber doch anders überlegt«, entgegnete sie lachend und ließ die Haare fallen.
Warum bist du hier?, dachte Ben.
Er stand auf und ging wieder zum Herd, wo die Kaffeemaschine zu gurgeln angefangen hatte.
»Du musst versuchen, sie zu verstehen«, hörte er Sophie hinter sich sagen, »meine Eltern, meinen Bruder, meine Familie. Sie sind nach dem, was passiert ist, natürlich noch ganz aufgewühlt. Und ich glaube nicht, dass sich das so bald ändern wird.«
»Ja, ist doch klar.« Er sah zu ihr hin. Sie war wieder ernst geworden. »Ich mach ihnen doch keinen Vorwurf.« Ben nahm die Kaffeemaschine vom Herd und trug sie zusammen mit zwei Tassen, Milch und Zucker auf einem Tablett zum Sofa zurück.
»Ich will auch noch mal mit Sebastian reden.« Sophie sah ihm aufmerksam beim Einschenken zu. »Das geht einfach nicht, dass ich jemanden einlade und er sich benimmt, als wäre er bei sich zu Hause.«
»Hmm.« Ben hantierte mit dem Kaffeegeschirr.
»Was ist?« Sophie schaute ihn aufmerksam an.
»Nichts …« Er ließ sich in den Sessel fallen. »Ich habe nicht besonders gut geschlafen. Sonst nichts.« Er lächelte, aber es schmerzte fast.
»Am liebsten würde ich es nicht sagen müssen«, begann Sophie, »aber nachher ärgere ich mich sonst vielleicht.«
»Nun spuck es schon aus.« Er nickte freundlich, wirklich neugierig jetzt. »Was bringt dich hierher?«
»Weißt du …«
Sie brach ab, atmete aus, trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Ihre Augen lächelten ihn an.
»Du willst, dass ich dich förmlich nötige, es zu sagen.«
»Ja.« Sie schmunzelte neckisch und stellte die Tasse zurück auf den Unterteller. »Nein! Was ich meine, ist, dass ich dich bitten wollte, nicht so schlecht über sie zu schreiben, in dem Buch, weißt du.«
Das war es also.
»Ja, nicht nur, weil es meine Familie ist, obwohl, das auch … aber auch wegen Julian.« Sie schaute ihn prüfend an. »Es würde ihm nicht gerade helfen. Ich kann mir schon vorstellen, wie Sebastian, mein Vater, wie das alles auf dich gewirkt hat. Aber wenn du das so in dem Buch schilderst, werden die Leute vielleicht denken: In der Familie ist doch alles möglich. Und das wäre natürlich fatal. Und außerdem falsch. Es sind sehr liebe Menschen, weißt du, und Julian … Er hat zwar Christine geheiratet, aber er hat mit meiner Familie nicht wirklich etwas zu tun. Ich meine, er ist nicht für sie verantwortlich, verstehst du? Es täte mir leid, wenn es ein schlechtes Licht auf ihn werfen würde, nur weil ich neulich nicht in der Lage war, meinen Bruder zu bändigen.«
Ben sah ihr beim Sprechen zu. Was er darauf antworten sollte, wusste er allerdings nicht.
»Du sagst ja gar nichts.«
»Nein, doch … ich meine, okay.« Er brach ab. »Ich versteh schon, was du meinst.«
»Aber?«
»Nichts aber.«
»Wie ›nichts aber‹?«
Er schwieg.
»Du willst mir nichts versprechen, ist es das?«
Er holte Luft. »Na ja, so einfach ist es nicht, ein Buch zu schreiben. Ich weiß ja selbst noch nicht genau, wie ich alle Einzelheiten anlegen werde. Da ist es dann schwierig, wenn man sich von vornherein auf eine bestimmte Richtung festlegen muss. Das beschränkt die Freiheit, ja? Wenn man dann grübelt, wie man es machen will, kann man die ganze Zeit nur daran denken, was man nicht machen darf. Ich weiß wirklich nicht, ob ich bereit bin, mich auf so eine Einschränkung einzulassen.« Er sah, wie sich ihr hübsches Gesicht ein wenig verdüsterte. »Aber das heißt nicht, dass du Angst haben musst«, beeilte er sich, hinzuzufügen. »Ich werde schon nicht gemein zu ihnen sein. Keine Sorge.«
Sie setzte sich wieder etwas aufrechter hin. »Meinst du?«
»Na klar.«
Hab ich mich jetzt doch festgelegt? Ben merkte, wie ihn dieser Gedanke ärgerlich machte. »Wie gesagt, ich kann im Grunde genommen nicht wirklich darüber reden. Ich muss mir einen gewissen Spielraum frei halten.«
Sie runzelte die Stirn. Es war klar, dass er sich nicht festnageln lassen wollte, und sie somit nicht erreicht hatte, worauf sie eigentlich abzielte.
»Aber«, fing Sophie noch einmal an, »hast du dich nicht auch festgelegt, als du gesagt hast, dass dein Buch ganz klar von Julians Unschuld ausgeht? Also nicht nur ausgeht, sondern dass du seine Unschuld ganz klar belegen wirst? Dass das sozusagen der Sinn des Buches ist?«
Es kam Ben so vor, als hätte sie mit einer glühenden Nadel in eine offene Wunde gestochen.
»Hast du das eigentlich mitbekommen, von Seewald«, fragte er ausweichend, »dass Götz an seiner Aussage darüber, was er zur Tatzeit gemacht hat, nicht festhält?« Er war sich nicht sicher, ob es okay war, darüber zu sprechen. Aber es ging jetzt nicht darum, was für Götz das Beste war, sondern dass er sein Projekt nicht gefährden durfte. Und dazu gehörte auch, dass er sich mit Götz’ Familie nicht überwarf.
Sie nickte vage. »Er hat etwas erwähnt, nichts Genaueres.«
›Soll ich dir sagen, dass dein Schwager deine Schwester mit einer Art Callgirl betrogen hat?‹
»Ich weiß auch nichts Genaueres.« Ben suchte nach Worten. »Aber eines weiß ich schon: Dass er gelogen hat, als er gesagt hat, dass er im Tiergarten war. Gelogen, verstehst du? Ich meine, ich habe mich, ehrlich gesagt, schon gefragt, wo er sonst noch überall gelogen hat, als ich das gehört habe.«
Sie sah ihn erschrocken an.
»Na ja, geht dir das nicht so?«
»Wie? Was soll das denn heißen?«
Ben senkte die Stimme. »Hast du dich das nie gefragt? Ob es nicht auch sein könnte, dass … er es gewesen ist?«
»Dass er Christine und die Kleinen …?«
Ben ließ den Kopf kurz nach unten wippen. »Ja?«
Jetzt stand ihr der Schreck deutlich ins Gesicht geschrieben. »Nein«, hauchte sie, »natürlich nicht. Bist du wahnsinnig? Ich kenne Julian. Ich habe fast drei Monate lang mit ihm unter einem Dach gelebt, kenne ihn seit über fünfzehn Jahren. Julian ist alles, was du willst, egoistisch, anmaßend, reizbar, mehr oder weniger besessen, okay. Aber er hat … das hat er nicht … Er könnte es nicht. Niemals.«
Ben schwieg.
»Zweifelst du wirklich daran?« Ihre Stimme klang alarmiert. »Was heißt denn das für dein Buch?«
Ihre Bestürzung übertrug sich auf Ben. Wenn sie Götz gegenüber erwähnte, dass er angefangen hatte, an Götz’ Unschuld zu zweifeln, wäre das Projekt ernsthaft gefährdet. Er musste ein Vertrauensverhältnis zu ihr aufbauen, aber er durfte nicht zu weit gehen.
»Nein«, Bens Hand legte sich auf ihre, »das ist es ja nicht. Ich zweifle nicht an seiner Unschuld. Im Gegenteil, das steht doch völlig außer Frage. Das ist die Stoßrichtung des Buches, daran wird sich nichts ändern. Aber, verstehst du, aus rein dramaturgischen Gründen muss ich beim Leser ja ein-, zweimal den Eindruck erwecken, dass es natürlich im Prinzip auch Götz selbst gewesen sein könnte. Um es dann, am Ende, umso überzeugender zu widerlegen.« Er spürte, wie seine Worte mäanderten. »Das ist reine Spiegelfechterei, sicher, aber wenn eine Story ein paar hundert Seiten lang tragen soll, dann kann man, oder kann ich, oder möchte ich auf solche Tricks nicht verzichten.«
Sie sah ihn noch immer beunruhigt an.
»Das ändert aber nichts daran, dass Götz Opfer eines Irrtums geworden ist. Davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Das macht ja gerade den Kern des Buches aus. Er verliert seine gesamte Familie – und wird dann für diese Tat, die sein Leben vernichtet hat, auch noch vor Gericht gestellt!«
Ihre Finger hatten sich um seine Hand geschlossen. Er konnte ihren Puls spüren, der unter seiner Berührung leicht pochte. Zugleich fühlte Ben jedoch, wie er blass wurde. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die vergangene Nacht mit Lillian schien noch immer seine ganze Haut zu überziehen.
Sie runzelte die Stirn. »Alles okay?«
»Na klar.« Er zog die Hand zurück.
»Ich kann auch gehen, wenn dir nicht gut ist.«
»Nein, alles gut«, sagte er und lehnte sich zurück.
»Ist irgendwas?«, fragte sie. »Du siehst etwas angestrengt aus.«
»Wie gesagt, ich hab nicht so gut geschlafen.«
Sophie lächelte und stand auf. »Na gut. Ich glaube, ich lass dich mal.«
Matt erwiderte er ihr Lächeln. »Meinst du?«
Sie nickte und ging zur Tür, an der sie sich noch einmal umdrehte, bevor sie sie öffnete. Ben stand hinter ihr, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Er beugte sich vor und wollte ihr die Wange hinhalten. Aber sie griff mit der Hand an seinen Hinterkopf und berührte mit ihren Lippen sein Kinn, öffnete die Lippen leicht, ließ sie bis knapp vor die Unterlippe wandern, wo sie sich wieder von ihm löste.
»Bis bald, Ben.« Ihre Hand strich über seine Wange. »Ruf mich an, wenn es dir wieder bessergeht.«