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»Es ist die Verfügbarkeit, die süchtig macht.« Die Frau hatte ihre Stimme gesenkt, die Haare hingen halb über ihr Gesicht. Sie hatte sich zu Mia heruntergebeugt, die mit dem Kopf auf ihrem Schoß lag. »Wenn man das einmal erlebt hat, will man es immer wieder haben. Man kann es nicht mehr vergessen, ist süchtig danach. Nichts anderes kommt da mehr ran.«
Mia versuchte, durch das Halbdunkel hindurch in den Augen der Frau zu lesen. Sie hatte einen klaren, aufmerksamen Blick. »Manche sagen, es ist wie ein Infekt, etwas Ansteckendes.«
Mia zog die Beine an und schlang die Arme darum. Sie fühlte, wie sie innerlich weich wurde. Sie kämpfte nicht dagegen an. Tränen traten ihr aus den Augen, benetzten ihr Gesicht. Aber sie wagte es nicht, einen Laut von sich zu geben.
Die Frau wandte den Blick nicht von ihr ab. »Ist es schlimm?«
Seit Wochen war sie die Erste, mit der Mia reden konnte. Sie nannte sich Vera und hatte Mia schon ein paarmal besucht. Was hatte Vera in diesem Labyrinth verloren, erst recht hier, in diesem Bereich, in den sie Mia gebracht hatten?
»Hm?« Die Frau sah sie freundlich an. Sie war hübsch, sah gepflegt aus, zerbrechlich.
Ist es schlimm?
Mia starrte sie an. Sollte sie fragen, ob Vera ihr helfen konnte?
»Es wird sehr darauf geachtet, wer von der Anlage hier erfährt«, fuhr Vera fort. »Man will unter sich bleiben. Natürlich ist all das hier …«, sie sah in den Schacht hoch, der über ihren Köpfen bis in die oberen Etagen der Anlage reichte, »… geheim, verstehst du?« Sie blickte wieder hinunter zu Mia. »Das ist es ja gerade, was für viele den Reiz ausmacht. Den Kick, den sie brauchen, wenn alles andere ausgedient hat. Hier gibt es ihn, und hier holen sie ihn sich.«
Und du?, dachte Mia. Wieso bist du hier? Doch kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, wurde sie auch schon von der Antwort überflutet: Um mich zu sehen, um mich zu besuchen, oder? Deshalb bist du hier!
Der Druck ihrer Arme, mit denen sie sich an Vera klammerte, musste sich verstärkt haben, denn Vera beugte sich zu ihr herunter und lächelte.
Ohne dass sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, brach es aus Mia hervor: »Kannst du mir nicht helfen?«