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Der Saal des Restaurants verfügte über mehrere schaufenstergroße Glasscheiben, die auf den Gendarmenmarkt hinausgingen. Halbhohe weiße Vorhänge schirmten die Speisenden vor den Blicken der Passanten ab, über die Vorhänge hinweg konnte man jedoch die beiden Kirchen und das Konzerthaus auf dem Platz sehen.
Ben nippte an einem Weißwein, den er sich hatte kommen lassen. Er war unruhig und gespannt. Nach dem Telefongespräch hatte er einen Limousinenservice herausgesucht und der Vermittlung eingeschärft, der Fahrer solle sich als Angestellter eines gewissen Henning Jacoby ausgeben. Dafür war Ben bereit gewesen, fünfzig Euro extra zu zahlen. Dann hatte er geduscht und seine frisch gewaschenen, abgetragenen Jeans angezogen, die er für den Anlass am angemessensten hielt, dazu ein sauber gebügeltes, weißes Hemd.
»Möchten Sie schon etwas bestellen?« Der Kellner lächelte nicht und wirkte doch absolut dienstfertig.
»Ich warte noch einen Augenblick, danke.«
Mit einem Nicken entfernte sich der Ober wieder.
Ben warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach acht. Und wenn sie nicht kam? Er zog sein Handy aus der Tasche, checkte das Display. Keine Anrufe.
Er spürte, wie die zwei Geschäftsleute am Nachbartisch aufsahen. Und blickte hoch. Eine Frau, Ben schätzte sie auf Anfang dreißig, war am Eingang beim Kellner stehen geblieben. Ihren Mantel musste sie bereits abgegeben haben, denn sie trug nur ein einfarbiges, geripptes Wollkleid, das bis knapp über das Knie reichte. Ihr Haar war am Hinterkopf zu einem dicken Knoten zusammengebunden, in der Hand hielt sie eine Tasche, die nicht größer war als ein längliches Buch.
Der Kellner nickte und setzte sich in Bewegung, direkt auf den Tisch zu, an dem Ben saß. Bens Eingeweide zogen sich zusammen. Einen kurzen Augenblick verdeckte der Kellner die Frau. Ben hörte nur das Klicken ihrer Absätze auf dem Steinfußboden, dann sah er, wie der Kellner zur Seite trat, mit der Hand auf Bens Tisch deutete – und stand auf. Sie blickte ihm geradewegs ins Gesicht.
»Frau Behringer?« Ben spürte, wie er leuchtete.
»Herr Jacoby.«
Ihre Hand glitt in seine.
»Freut mich sehr.«
Sie lächelte. Ihre Augen waren dunkel, glänzten, ihre Lippen waren dezent geschminkt.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen.«
Ben ließ ihre Hand los. Sie war etwas kleiner als er, das Kleid umfloss ihren Körper wie die Fischhaut eine Meerjungfrau.
»Aber nein«, seine Hände zitterten ein wenig. »Bitte, setzen Sie sich.«
Sie nahm ihm gegenüber Platz, legte ihre Handtasche neben sich auf das gestärkte weiße Tischtuch. Ben hatte vorgehabt, ihr möglichst gleich zu eröffnen, wer er in Wirklichkeit war, kaum dass sie zusammen am Tisch sitzen würden. Jetzt aber, als er sie vor sich sah, ihre Augen, ihre Ausstrahlung ihn unmittelbar berührten, ja, er auch wahrnahm, wie die beiden Business-Typen am Nebentisch auf ihre Erscheinung reagierten, war er sich nicht mehr so sicher, ob es wirklich das Beste war, gleich damit anzufangen, dass Götz derjenige war, der ihn schickte. Riskierte er damit nicht, dass sie ihm knapp mitteilte, das gerne bereits vorher gewusst zu haben, aufstand und ging? Er konnte sie ja schlecht am Arm festhalten. Auf der anderen Seite aber zeigte ihr Kommen doch, dass sie durchaus bereit war, ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen. Und könnte sie ihm nicht einiges über Götz erzählen?
»Sind Sie auch im Baugeschäft?« Sie hatte den Kopf ein wenig geneigt und sah ihn von unten herauf an.
»Nein!« Ben suchte noch nach seiner Rolle. »Anwalt.« Genau. »Ich gehöre zum Team von Steffen Seewald.«
»Ach ja?« Ihr Körper schien sich etwas anzuspannen.
»Sie kennen Seewald? Er vertritt Julian Götz, den Inhaber von Götz Town Structures in dessen Prozess. Manfred Noack war so freundlich, Herrn Götz unsere Kanzlei zu empfehlen.«
Ihre Finger trommelten leicht auf die Handtasche. »Noack, Sie erwähnten ihn schon am Telefon. Aber der Name sagt mir nichts.«
»Nein?« Nicht verunsichern lassen! »Da haben Sie was verpasst. Ein Bär von einem Mann. Man spricht doch von Baulöwen? So einer ist Noack«, erfand Ben munter drauflos. »Er spekuliert, kauft Grundstücke in besten Lagen, entwickelt sie, baut darauf, alles aus eigener Tasche. Und dann verkauft er die Gebäude, manchmal Hunderte von Wohnungen. Es ist ein hochriskantes Geschäft, und er versteht es besser als jeder andere.« Das musste doch die Art von Klientel sein, die sie kannte.
Sie sah ihn an, schien nachzudenken. Natürlich war unklar, wie er auf sie gekommen war, wenn sie Noack nicht kannte.
»Ich dachte, er wäre Ihnen schon einmal persönlich begegnet«, fuhr Ben fort. »Aber es kann natürlich auch sein, dass er nur von Ihnen gehört hat.«
»Was wollen Sie, Herr Jacoby?«
Das war direkt. Ben lächelte. »Gleich, gleich, Frau Behringer. Entschuldigen Sie, dass ich mich so unklar ausdrücke.« Er hob die Hand, machte dem Kellner ein Zeichen. »Möchten Sie vielleicht einen Aperitif, ein Glas Champagner?«
»Warum nicht.« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, verschränkte die Finger ineinander und legte das Kinn auf die so entstandene Fläche.
»Es geht um ein Essen, nächste Woche«, sagte Ben, nachdem er zwei Gläser Champagner bestellt hatte. »Ein Geschäftsessen, hier in Berlin. Die Einzelheiten will ich Ihnen ersparen. Nichts Besonderes, es wird sicher sehr nett werden. Die beiden Herren, mit denen ich mich treffe, werden ihre Frauen mitbringen. Und ich habe keine Lust, als Einziger ohne Begleitung zu kommen. Würden Sie mir Gesellschaft leisten?«
Einigermaßen zufrieden mit sich sah er sie an. In seinen Ohren hatte es überzeugend geklungen. Weiter hinten in seinem Kopf gab es zwar eine Stimme, die ihm zuraunte, dass er es sich nur immer schwerer machte, je länger er ihr etwas vorspielte. Aber er wollte auf diese Stimme nicht hören.
»Wann wäre das?« Sie hatte das Kinn von den Händen gehoben, die Ellbogen aber auf dem Tisch gelassen.
»Nächsten Mittwoch. Um acht. Der Fahrer würde Sie wieder abholen.«
Sie griff nach ihrer Handtasche, holte ein kleines Handy hervor, tippte ein wenig darauf herum. »Ja, das ließe sich machen«, sagte sie vorsichtig und legte das Gerät neben sich auf den Tisch.
»Großartig!« Ben lehnte sich zurück. »Wie handhaben Sie Ihr Honorar?«
Sie lächelte, und ihre schönen Augen funkelten. »Haben Sie eine Mailadresse? Dann kann ich Ihnen die Kontoverbindung mailen. Oder auch nachher per SMS schicken.«
»Das Gleiche gilt für heute, nehme ich an.«
»Ja.«
»Gut«, sagte Ben, dachte, dass er jetzt zum entscheidenden Schlag ausholen musste – und tat es. »Ich könnte Ihnen den Betrag für beide Aufträge natürlich auch bar aushändigen, das wäre mir fast lieber.«
Sie schien fast ein wenig zusammenzuzucken. »Nicht hier am Tisch!«
»Natürlich nicht«, beruhigte er sie. »Ich habe ein Zimmer hier im Hotel.« Er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, wonach das klang. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, beeilte Ben sich hinzuzufügen. »Es gibt noch ein paar Einzelheiten, die ich ganz gern besprechen würde.« Er sah sich um. »In einem ruhigeren Rahmen.«
Der Kellner trat mit den Gläsern und der Flasche Champagner an ihren Tisch. Ben lehnte sich zurück, damit er die Gläser hinstellen konnte. Im gleichen Augenblick war ein Handyklingeln zu hören. Das kenne ich, dachte Ben, irgendeiner hat wieder vergessen, sein Handy auszuschalten.
»Danke.«
Er nickte dem Kellner zu, beobachtete, wie der Champagner in Lillians Glas floss, aufsprudelte, sich wieder setzte – während das Handy erneut klingelte.
»Ach so!«
Erschrocken griff Ben in die Tasche seines Jacketts. Als er endlich das Telefon in der Hand hielt, klingelte es zum dritten Mal. Diesmal war der Ton jedoch unvergleichlich viel durchdringender, es dröhnte geradezu in seinen Ohren.
»Entschuldigen Sie.« Er warf Lillian einen Blick zu, spürte, wie der Kellner versuchte, ruhig die Gläser weiter vollzuschenken, sah aufs Display. Es war eine Nummer, die er erst vor ein paar Tagen eingetippt hatte. Sophie Voss.
Es klingelte erneut. Der Kellner sah ihn an. Wenn ich sie wegdrücke, muss ich das erklären, schoss es Ben durch den Kopf. Er streckte dem Kellner die Handfläche entgegen, als wolle er Protest im Vorhinein beschwichtigen, und nahm den Anruf an.
»Sophie? Entschuldige, ich bin gerade in einer Besprechung. Kann ich dich zurückrufen?«
»Ja, sorry, natürlich.« Er konnte ihr regelrecht anhören, wie der Ton seiner Stimme sie erschreckt haben musste. »Ich wollte nur mal kurz durchrufen, ruf mich an.« Es klickte.
»Sorry«, sagte jetzt auch Ben und schaltete demonstrativ sein Handy aus, während der Kellner sich bereits vom Tisch entfernte. Dann bemerkte er Lillians belustigten Blick. »Nein wirklich, ich würde sehr gern etwas mit Ihnen besprechen.«
»Besprechen.«
Er überhörte den spöttischen Klang ihrer Stimme. »Ja, genau.« Zwar hatte er bereits erhebliche Ausgaben getätigt, sein eigentliches Anliegen jedoch nicht einmal erwähnt. Dass sie mitspielte, war wichtig für ihn – es durfte nicht schiefgehen. »Wäre das okay für Sie?« Ben lächelte sie freundlich an.
Sie lehnte sich zurück.
»Es ist eine, wie soll ich sagen, etwas delikate Angelegenheit. Ich dachte, ich könnte mit Ihnen hier am Tisch darüber sprechen, aber jetzt, wo wir hier sind, sehe ich, dass das doch keine so gute Idee wäre.« Er hob das Glas. »Was sagen Sie?«
Lillian ließ ihres stehen. »Ich weiß nicht, ob ich wirklich gespannt bin.«
Ben lachte. »Das sollten Sie aber sein, Frau Behringer.« Und er hatte den Eindruck, als würde sich seine Überzeugtheit auf sie übertragen.