43

Mit der Schlüsselkarte für Zimmer 412 in der Hand schritt Ben durch den blitzsauberen Hotelflur im vierten Stock. Das Zimmer hatte er vorsorglich reserviert. Er hatte sich schon gedacht, dass es schwierig werden könnte, die Dinge, die er mit Lillian Behringer zu besprechen hatte, unter all den anderen Menschen im Restaurant vorzubringen.

Sie hatten sich beim Essen auf einen Hauptgang beschränkt. Ben hatte darauf geachtet, dass weder er noch Lillian über ihre Arbeit reden mussten. Stattdessen hatte er unverfängliche Themen angeschnitten, hatte versucht herauszubekommen, wohin sie gern reiste, ob sie gern ins Kino ging, was sie las. Es war ihm nicht schwergefallen. Sie hatte bewiesen, dass sie Sinn für Humor hatte, das Essen war außergewöhnlich gut gewesen, und Lillian schien sich damit abgefunden zu haben, ein wenig Zeit für ihn zu opfern. So war das Essen wie im Flug vergangen, auch wenn sie nicht viel von sich preisgegeben hatte.

Zimmer 412. Ben steckte die Plastikkarte in das Schloss, die Leuchtdiode sprang von Rot auf Grün, und es knackte. Lillian hatte ihn gebeten, zuerst allein in das Zimmer gehen zu können. Vielleicht hatte sie sich überzeugen wollen, dass alles in Ordnung war. Er hatte nichts dagegen gehabt, ihr seine Schlüsselkarte ausgehändigt und sich an der Rezeption eine zweite Karte geben lassen.

Ben drückte die Klinke nach unten. Lautlos schwenkte die schwere Holztür auf. Er trat in ein kleines Vorzimmer.

»Frau Behringer?«

Keine Antwort. Er ließ die Zimmertür hinter sich zugleiten und die Chipkarte in der Seitentasche seines Jacketts verschwinden. Dann öffnete er die Zwischentür, die in die Suite führte.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster, das auf den Gendarmenmarkt hinausging. Ihre Arme waren verschränkt, es roch nach der Zigarette, die sie auf der Höhe ihres Kinns in der Rechten hielt.

Sie drehte sich nicht um.

»Alles in Ordnung?«

»Ja.« Sie schaute nach draußen.

Ben holte sein Portemonnaie hervor. Zählte vierhundert Euro ab, legte sie auf den kleinen pseudoantiken Schreibtisch, der rechts an der Wand stand. Vierhundert müssten doch genügen, dachte er.

Sie hatte sich noch immer nicht umgesehen. Der Rauch ihrer Zigarette schlängelte sich träge empor. Einen Augenblick kam es Ben so vor, als würde der Verlauf des Rauchs die Linie ihres Rückens wiederholen, die sich durch das Kleid abzeichnete.

»Also?«, hörte er sie sagen.

»Mein Name ist nicht Jacoby.« Er schluckte.

»Nein?«

»Julian Götz hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen.«

Sie antwortete nicht.

»Ich hatte Angst, Sie würden es ablehnen, mich zu treffen, wenn Sie erfahren, dass Herr Götz mich schickt.«

Er ließ ihr ein wenig Zeit, um sich auf die neue Situation einzustellen, dann trat er einen Schritt näher an sie heran.

»Wollen Sie nicht wissen, worum es geht?« Er stand jetzt dicht hinter ihr, konnte von hinten ihr Profil sehen, die leichte Wölbung ihrer Wange, die sich bis unter ihr Auge erstreckte. Ein paar luftige Haarsträhnen hatten sich aus dem Knoten gelöst und bewegten sich im Gleichtakt mit dem Rauch.

›Nein, ich darf ihren Hals nicht berühren.‹

Es war fast, als hätte es jemand anders gesagt.

»Wie geht es ihm?«, fragte sie.

»Gut.« Feine Härchen glitzerten kaum wahrnehmbar aus dem Ausschnitt ihres Kleides hervor und zogen sich bis zum Haaransatz im Nacken. »Wir schreiben zusammen an einem Buch. Der Fall Götz. Aus seiner Sicht, verstehen Sie? Er hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass es ihm leidtut und er Sie nicht mit hineinziehen wollte, dass ihm aber nichts anderes mehr übrigbleibt. Und dass er sie bittet auszusagen. Über den 25. September.«

Jetzt wandte sie sich doch um. Ihr Gesicht war ernst geworden. Ben spürte, dass sie nicht mehr Herrin der Lage war.

»Es tut mir leid, dass ich Sie angelogen habe«, flüsterte er beinahe. »Wirklich. Aber ich wusste nicht, wie ich Sie bewegen sollte, mit mir zu sprechen. Das Buch, an dem Herr Götz und ich arbeiten … es ist wichtig, für ihn und auch für mich. Ich wollte Sie nicht überfallen. Ich wollte in Ruhe mit Ihnen darüber reden.« ›Und dich auf den Mund küssen.‹

Sie drehte sich zur Seite, drückte die Zigarette aus.

Ben bemerkte, wie ihr Blick auf das Geld fiel, das er auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ihre Augen tasteten sein Gesicht ab.

›Dein Kleid am Saum berühren und langsam nach oben streifen, über deine Schenkel, deinen Slip, die Hüften, den Bauch.‹

Bens Körper brannte. Er vermeinte den weichen Druck ihrer Brust auf seiner Haut spüren zu können. Er sah es vor sich, wie er den Knoten ihres Haares löste.

»Was denken Sie?« Seine Stimme war belegt. »Haben Sie vielleicht schon einmal darüber nachgedacht?«

Sie spitzte die Lippen. »Wie heißen Sie wirklich?«

»Lindenberger. Ben Lindenberger.«

»Sind Sie verdrahtet, Herr Lindenberger?«

›Zieh mich aus, dann siehst du es.‹

»Nein.«

»Ich nehme an, der Auftrag für nächste Woche hat sich damit erledigt?« Sie griff nach der Handtasche, die sie auf einem kleinen Tisch am Fenster abgelegt hatte.

›Ich kann dich nicht gehen lassen.‹

Er machte eine Bewegung nach vorn und berührte ihr Handgelenk. Überrascht wandte sie den Kopf zu ihm um. Ben griff um ihre Hüfte. Es fühlte sich so an, als würde sie jedes unausgesprochene Gefühl von ihm nicht nur verstehen und befolgen, sondern auch erwidern. Ihr Körper dehnte sich in seinen Händen. Er spürte ihre Muskeln unter dem eng anliegenden Kleid. Sie hatte den Kopf zurückgebogen, sein Mund tastete über ihren Hals, ihr Parfüm schien seine Gedanken zu überfluten. Dann fühlte er, wie seine Rechte unter ihr Kleid glitt.

Der Architekt
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