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»Wo bleibt sie?«
»Ich –«
»Nicht Sie, Lindenberger, Lillian? Wo bleibt sie?«
Ben saß angespannt an seinem Platz. Götz’ Arme lagen auf dem Tisch, die Handflächen nach oben. Seine kurzen Haare standen vom Kopf ab, sein kantiges Gesicht leuchtete. Es ging eine Intensität von ihm aus, die Ben am liebsten mit einem Bleischild von sich abgehalten hätte.
»Seewald hat gewartet, dann hat er angerufen, wieder gewartet – sie meldet sich nicht!«
Zwei blonde, lange Haare hatten sich in dem Haargummi verfangen. Zusammen mit einem Stück von dem befleckten T-Shirt hatte Ben eines davon eingeschickt. An die Agentur, die er im Internet herausgesucht hatte. Eine Vaterschaftsagentur.
»Frau Behringer hat mir gesagt, dass sie zu Ihren Gunsten aussagen wird, Julian. Was soll ich tun?« Er sah Götz offen an.
Bevor Ben zu dem Termin mit Götz in die U-Haft gekommen war, hatte er bei der Agentur angerufen. Wenn er ihnen die Proben per Kurier umgehend zuschickte, könne er das Ergebnis noch am Abend bekommen, hatten sie ihm mitgeteilt. Das Ergebnis des Tests, ob Haar und Blutfleck die gleiche DNA aufwiesen. Ob das Blut auf dem T-Shirt wirklich von Svenja stammte.
»Sie kennen sie ja«, fuhr Ben fort. »Lillian hat sicher eine Menge um die Ohren, sie wird sich melden, sobald sie frei ist.«
»Lillian.«
Götz’ Augen schillerten.
»Frau Behringer. Wie auch immer, es war nicht einfach, sie davon zu überzeugen.« Ben zog die Schultern hoch. »Sie hat Angst, nehme ich an. Aber ich meine, das hatten Sie ja bereits vorausgesehen. Deshalb wollten Sie ja auch, dass jemand persönlich mit ihr spricht.«
»Angst wovor? Sie soll sagen, was war …«
Frag ihn, frag ihn, wieso er ausgerechnet dich geschickt hat!
»Das Problem war ja, dass ich mich mit ihr treffen sollte, ohne zu sagen, dass Sie mich schicken –«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Wie hätte ich es denn sonst machen sollen? Sie hatten betont, dass Frau Behringer möglicherweise mit dem Prozess nichts zu tun haben möchte. Es bestand also durchaus die Gefahr, dass sie einem Treffen mit mir aus dem Weg gehen würde. Jedenfalls wenn sie erfuhr, dass Sie in Wahrheit derjenige waren, der mich schickt. Umso mehr, als vollkommen unklar war, in welcher Verbindung wir beide miteinander stehen.«
»Wer?«
»Wir beide, Sie und ich.«
»Das wissen Sie doch, Lindenberger, was soll das?« Ben sah Götz an, dass er misstrauisch wurde. Dass er Bens Gedankengängen nicht folgen konnte.
»Warum haben Sie mich geschickt, Götz?« Jetzt konnte er nicht mehr zurück. »In einer für Sie so heiklen, delikaten Sache. Sie kennen mich nicht und vertrauen mir Ihr Leben an?«
Götz’ Gesicht wirkte plötzlich eingefallen. Die Tage in der U-Haft setzten ihm zu, das war nicht zu übersehen. Die Aura von Saturiertheit, die ihn auf älteren Aufnahmen immer zu umgeben schien, wirkte wie aufgelöst. Noch war ihm anzusehen, dass er Erfolg in seinem Leben gehabt hatte, dass er es gewohnt war, Anordnungen zu treffen, sich durchzusetzen, recht zu behalten. Aber die Selbstgefälligkeit war verschwunden, zurückgeblieben nur das Antlitz eines Machtanspruchs – ohne die Sicherheit, dass er auch anerkannt würde.
»Ich habe versucht, Ihnen das zu erklären, Ben, als ich Sie gebeten habe, mir diesen Gefallen zu tun.«
Aber ich glaub dir nicht.
»Also verstehe ich nicht, was Sie mit dieser Frage bezwecken.« Götz atmete aus. »Ich meine, was denken Sie denn? Dass ich ein Spiel mit Ihnen spiele?«
Ben winkte ab. Es war zu gefährlich. Er konnte Götz nicht sagen, was er dachte. »Es hat mich nur gewundert, verstehen Sie das nicht? Ich muss sagen, ich habe so etwas auch noch nie gemacht.«
»Nein, nein.« Götz ließ eine Hand flach und schwer auf den Tisch fallen. Das Möbel vibrierte auf seinen dürren Metallbeinen. »Sie haben sich doch etwas gedacht, Ben! Ich will das wissen. Ich meine, immerhin schreiben Sie an meinem Buch.«
»Es ist ein Buch über Sie, aber … Sie sagen es ja selbst, ich schreibe es, also ist es, das können Sie nicht abstreiten, in gewisser Weise auch mein Buch.«
Der Satz blieb in der Luft hängen. Götz sah Ben abschätzend an. Dann beugte er sich wieder nach vorn. »Mein Buch, dein Buch, Scheißkopfs Buch – das ist mir doch ganz egal, Junge. Ich will Lillians Aussage. Und ich will wissen, was in deinem Kopf vorgeht, denn ich lasse dich in mein Leben, und wenn du vorhast, dort in die Ecke zu scheißen, dann hab ich für den Rest meiner Zeit ein Problem.«
Du willst mir deine Morde anhängen. Du hast dafür gesorgt, dass das T-Shirt in meiner Wohnung plaziert wurde.
»Was ist? Glaubst du, ich habe dich zu Lillian geschickt, weil ich einen Hintergedanken habe? Und welchen? Was kann ich von dir wollen?«
Ben versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
»Was ist los?«, fuhr Götz ihn an, wandte sich aber gleich zu dem Beamten um, der aufgesprungen war. »Entschuldigen Sie, Wachtmeister«, er rieb sich mit beiden Händen über die Wangen, »kommt nicht wieder vor, ich hab mich wieder im Griff.«
»Ganz ruhig bleiben, ja?«, brummte der Beamte und setzte sich wieder hin.
Götz wandte sich wieder Ben zu. »Also?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Ben fummelte in der Innentasche seines Jacketts herum, um einen Stift hervorzuholen. »Warum machen wir nicht einfach weiter, wo wir aufgehört haben? Am besten, Sie erzählen mir, wie Sie Ihre Frau Christine kennengelernt haben.«
Er sah Götz erwartungsvoll an und hielt den Stift – ein wenig albern, wie er selbst fand – so, dass er über der linken oberen Ecke des blanken weißen DIN-A4-Papiers schwebte.
»Du glaubst, dass ich dich in irgendetwas reinziehen will.« Götz’ Stimme war nur noch ein Flüstern.
Willst du so weit gehen, darüber zu sprechen? Um mich einzulullen? Traust du dir das wirklich zu?
»Weißt du, was das bedeutet, Ben?« Da war es wieder! Götz’ Gesicht wirkte, als würde jemand von hinten die Haut zusammenziehen. »Wo hinein kann ich dich denn schon ziehen? Will ich sie dir anhängen, meine tote Frau, meine toten Töchter? Aber …« Götz zögerte, scheinbar nachdenklich. »Wie ist es? Muss ich es dann nicht auch gewesen sein? Sonst würde ich es dir doch nicht anhängen wollen – oder?«
Ben blickte unwillkürlich zu dem Beamten, der träge auf seinem Stuhl saß.
Götz ließ Ben nicht aus den Augen. »Kann ich dir trauen, Schreiberling?«
»Hören Sie, Herr Götz –«
»Was bist du? Ein großer Drehbuchautor? Ja? Was hast du geschrieben, welchen Kinohit? Wie? Nur Fernsehen? Hm. Und da? Schon länger nichts? Was soll das heißen?« Er bleckte die Zähne. »Wenn ich als Architekt länger keinen Auftrag an Land ziehe, entgeht das keinem, verstehst du? Da guckt man sich meinen Lebenslauf an. Letztes Jahr? Nichts. Vorletztes Jahr? Nichts. Das reicht, mehr braucht man nicht zu wissen. Wenn ich dann einen Vorschlag einreiche, sieht man sich den Lebenslauf an und weiß: Taugt nichts, kann nichts, ist nichts.« Sein Gesicht spiegelte die Geringschätzung. »So einfach ist es nicht? Vielleicht. Denn es geht ja nicht darum, was man in den vergangenen Jahren gemacht hat, sondern darum, ob der Vorschlag, den man eingereicht hat, gut ist. Richtig?«
»Was soll das, ich verstehe nicht –«
»Du sitzt hier, weil du hoffst, durch mich aus der Falle herauszukommen, in die du dich hineinmanövriert hast, Junge. Aber da wird dich niemand mehr herausholen können! Denn niemand anders als du selbst hat dich da reingejagt! Weil du ein Versager bist, Ben. Deshalb sitzt du in der Falle! Und weißt du auch, woran man sehen kann, was für ein Tropf du bist?«
Ben war aufgestanden, räumte seine Sachen zusammen.
»Daran, wie du meinen Fall handhabst! Das wäre was für dich gewesen, meine Geschichte ist gut! Ich meine, was willst du mehr? Du könntest daraus was machen, aber du hast es versaut. Du hast deine Chance verspielt!« Jetzt war es fast wie ein höhnisches Lachen.
Ben wollte sich abwenden, doch da sprang Götz auf und packte ihn am Handgelenk. So wie deine Tochter Svenja, raste es in Bens Schädel. Was ist, willst du mich auch umreißen und erschlagen?
»Wir haben das jetzt angefangen, Ben«, zischte Götz. »Wir ziehen das durch.«
»Ich denke, Sie vertrauen mir nicht!«
»Seewald soll sich um Lillian kümmern, da sind Sie raus. Aber das Buch schreiben Sie.«
»Sie kommandieren mich herum, wie es Ihnen gerade passt, oder was?«
Götz lachte. »Das kannst du doch gar nicht ändern! Lass es, versuch es erst gar nicht, es hat keinen Zweck. Wichtig ist nur, dass wir uns darüber im Klaren sind.« Und damit drehte er sich um zu dem Mann an der Tür. »Bringen Sie ihn raus, Wachtmeister, ich kann ihn nicht mehr sehen.«