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Das Großraumbüro, das sich hinter dem Counter eröffnete, nahm das gesamte Stockwerk des Hochhauses ein. Auf allen vier Seiten gaben Fenster den Blick auf die Stadt frei. In der Mitte des Raumes waren in regelmäßigen Abständen große Tische aufgestellt, an denen schlaksige, junge Männer mit Dreitagebart und Glatze sowie energisch wirkende Frauen in minimalistischen Designer-Outfits arbeiteten.
Gruppen von drei, vier Kollegen beugten sich über einen Plan oder einen Computerbildschirm, vereinzelte Mitarbeiter tüftelten an Zeichnungen oder Tabellen. Auf halbhohen Cupboards, die rings um das Büro und in einer Kreuzform quer durch es hindurch verliefen, waren Modelle der verschiedensten Projekte ausgestellt.
Ben lief am Cupboard in der Mitte entlang und betrachtete die Modelle. Das Modell eines Turms, einer ganzen Lagerhallenlandschaft, des Gebäudes, in dem er sich gerade befand. Daneben eine maßstabgetreue Miniaturausgabe des Projektes, auf das er in dem Buch über Götz gestoßen war. Das Dach war hochgeklappt, und die Miniatur sah aus wie eine Puppenstube, in deren bunte, glitzernde Innenkonstruktion aus Glas man hineinschauen konnte.
Eine Frau, die an einem Tisch gleich neben dem Cupboard saß, sah von ihrer Arbeit auf und warf Ben einen Blick zu. Er nickte freundlich, wanderte weiter. Sie dachte nicht einmal daran, ihn aufzuhalten. Natürlich nicht. Wer konnte schon wissen, ob er nicht ein wichtiger Auftraggeber war?
Erst jetzt fiel ihm auf, dass auf der rechten Seite des Büros mehrere Glaskästen vom übrigen Raum abgetrennt waren. In einem der Kästen stand ein ovaler Tisch, um den herum einige Mitarbeiter saßen, Jacketts über den Stuhllehnen, einer von ihnen hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Am vorderen Ende des Tischs stand eine etwas ältere Dame neben einem Projektor, der hinter ihr ein Bild an die Wand warf.
In dem Glaskasten direkt daneben befand sich eine Teeküche, und in dem letzten der drei Kästen stand nichts als ein gewaltiger Schreibtisch, der aussah, als habe Göring persönlich dort den Bau Carinhalls mit Speer besprochen.
Ben atmete aus, löste sich von dem Cupboard mit den Modellen und schlenderte durch den Raum auf den Glaskasten mit dem Schreibtisch zu.
Ein junger Mann in engen Stoffhosen kam ihm entgegen. Ben lächelte. Der Mitarbeiter blieb ernst, grüßte flüchtig und ging an ihm vorbei. Ben erreichte die Tür des Kastens, sah sich nicht mehr um, schob sie einfach zurück. Er fühlte, wie sein Rücken aufglühte, als würde er von Blicken durchbohrt, ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern, sondern ging um den Schreibtisch herum und setzte sich wie selbstverständlich in den breiten Stuhl dahinter.
An der Wand, die seinen Kasten von der Teeküche trennte, hingen mehrere Pläne, so dass man ihn vom Konferenzraum aus nicht sehen konnte. Von den Blicken aus dem Großraumbüro jedoch wurde er nur durch den riesigen Monitor des Computers abgeschirmt, der auf dem Tisch stand. Flüchtig schaute Ben über den Bildschirm hinweg. Kein Blick war auf ihn gerichtet. Niemand hatte ihn in den Glaskasten hineingehen sehen. Doch lange würde sein Eindringen sicher nicht unbemerkt bleiben.
Bens Blick flog über den Schreibtisch, sein Atem hatte sich merklich beschleunigt. Götz hatte offensichtlich nicht mehr die Zeit gefunden, Ordnung zu schaffen. Grundrisse, Skizzen, Kalkulationen, Briefe und Bücher stapelten sich wild durcheinander auf der Arbeitsplatte. An der linken Ecke des Tisches gleich bei der Tür lag ein größeres, gelbes Kuvert, adressiert an Julian Götz, noch verschlossen. Es musste dorthin gelegt worden sein, nachdem Götz bereits nicht mehr ins Büro gekommen war. Ohne nachzudenken, zog Ben das Kuvert an sich, schob einen Finger unter die Lasche, riss es mit einer raschen Bewegung auf. Das Geräusch des aufreißenden Papiers ließ ihn zusammenzucken wie ein Pistolenschuss. Jetzt musste alles ganz schnell gehen.
In dem Kuvert befanden sich mehrere DIN-A2-Bögen, fachmännisch zusammengefaltet. Ben klappte den ersten auf. Ein Grundriss, nicht nur eines Gebäudes, sondern eines ganzen Stadtviertels. »Bülow Quartier – Heidestraße/Humboldthafen« war in der oberen Ecke vermerkt. Darunter das Logo von Götz Town Structures. Es war eine Kopie. Hunderte, Tausende von Maßen, Zahlen, Eintragungen, Vermerken tanzten vor Bens Augen. Ein gelber Post-it-Aufkleber war auf dem Plan befestigt. »Lass uns noch mal sprechen«, hatte jemand mit rotem Kugelschreiber darauf notiert. Mit dem gleichen Kugelschreiber, mit dem an mehreren Stellen des Grundrisses Details eingekreist waren. Mauern? Ecken?
»Hallo?«
Ben fuhr hoch.
Eine junge Frau in einem schwarzen Pullover stand in der noch immer geöffneten Tür des Glaskastens. Sie sah ihn freundlich und doch auch irgendwie irritiert an. »Warten Sie auf jemanden?«
Ben schoss aus dem Stuhl empor. Dank des Computerbildschirms konnte sie nicht gesehen haben, was er machte. Seine Gedanken flogen.
»Nein!«, hörte er sich sagen.
Ihre Augen spiegelten Unverständnis.
Seine Hand schnellte nach vorn, während er auf sie zutrat. »Ben Lindenberger, ich arbeite mit Herrn Götz zusammen.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ja?«
»Entschuldigen Sie, dass ich hier so eindringe. Hat Herr Seewald mich nicht avisiert?«
»Seewald?« Sie verstand nicht.
»Der Anwalt von Herrn Götz.«
Ihr Gesicht verrutschte ein wenig, Ben konnte sehen, wie unangenehm es ihr war, auf den Prozess angesprochen zu werden. Ben senkte die Stimme, kam sich fast selbst schon schmierig vor. »Wir schreiben an einem Buch, Herr Götz und ich, wissen Sie, über die Verhandlung. Ich bin ihm da ein wenig behilflich.«
»Eine Art Ghostwriter?« Da konnte sie wieder mitreden.
»Na ja, es ist jetzt keine Autobiographie, eher ein Buch von mir über den Prozess. Aber Herr Götz hat sich bereit erklärt, mitzuarbeiten. Eine Art offizielle Version, wissen Sie.« Das klang gut, das hieß, dass er ganz nah an Götz dran war, aufs engste mit ihm zusammenarbeitete.
»Deshalb wollte ich mich auch einmal in seinem Büro umsehen, das ist ja im Grunde genommen für ihn das Wichtigste. Was er hier mit Ihnen, mit seinen Mitarbeitern, schafft und geschaffen hat. Davon redet er sehr viel.« Ben ließ seine Stimme leicht nachdenklich ausklingen.
Sie freute sich – und hatte es zugleich ein wenig eilig. »Ja, grüßen Sie ihn doch unbedingt von mir«, sagte sie, ohne ihren Namen zu nennen. »Das ist ja alles nicht auszudenken, aber …«
Ben nickte.
»Wissen Sie, wir wussten ja nicht, dass Sie heute –«
»Meine Schuld!«, fiel Ben ihr eilfertig ins Wort. »Ich hätte bei Herrn Seewald natürlich noch einmal nachfragen müssen, ob ich bereits angekündigt worden bin. Wirklich, es tut mir leid, es war eine ganz spontane Idee heute.«
Sie schaute sich um. Ein paar Mitarbeiter hatten jetzt doch mitbekommen, dass er im Arbeitszimmer des Chefs stand, und blickten zu ihnen herüber.
»Wir führen Sie natürlich gern einmal herum«, meinte sie und wandte sich wieder zu Ben. »Es gibt ja eine ganze Reihe von sehr spannenden Projekten zur Zeit. Herr Götz hat da sicherlich auch schon das ein oder andere erwähnt …«
Gedankenverloren brach sie ab, riss sich dann jedoch zusammen. »Im Moment allerdings sind wirklich alle besonders eingebunden.«
»Wollen wir einen Termin ausmachen, vielleicht nächste Woche?«, schlug Ben vor, um ihr die Qual zu ersparen, einen engen Mitarbeiter ihres Vorgesetzten hinauswerfen zu müssen. »Oder … Lassen Sie mich in meinem Büro noch mal die Termine überprüfen. Dann rufe ich Sie an, und wir verabreden einen Tag. Wäre das okay für Sie, Frau …?«
»Rufen Sie beim Empfang an, das Sekretariat dort koordiniert die Termine.« Bei aller Höflichkeit wollte sie offensichtlich nicht wirklich etwas mit ihm zu tun haben.
»Selbstverständlich.« Er trat an ihr vorbei aus dem Glaskasten. »Vielen Dank!«
Bevor er sich jedoch ganz von ihr gelöst hatte, blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. »Ach ja, das wäre natürlich toll, wenn das ginge: Ich habe gehört, Herr Götz geht abends sehr gern noch etwas im Tiergarten spazieren, wenn er bei einem Projekt nicht weiterkommt.« Ben gluckste. »Wie um die Gedanken ein wenig zu lüften. Und wo er dann entlanggeht, das würde ich auch gern einmal ablaufen, wissen Sie, das ließe sich sehr stimmungsvoll in den Bericht einbauen.«
Die randlosen Brillengläser der zierlichen Frau wirkten plötzlich wie beschlagen. Sie sah ihn ratlos an.
Ben drehte die rechte Hand einmal im Kreis, wie um zu sagen: Nicht so wichtig. »Ein Zeitungsmann, der immer mal wieder über Ihre Projekte berichtet, hat mir davon erzählt. Er meinte, er würde Herrn Götz sehr gut kennen und wüsste deshalb auch von diesen nächtlichen Spaziergängen.«
Sie sah ihn verblüfft an. »Ach ja?«
»Das sagt Ihnen nichts?«
»Nein.«
»Gleich hier unten im Tiergarten?«
Sie lachte verächtlich. »Wer hat Ihnen denn das erzählt? Herr Götz ist ein vielbeschäftigter Mann! Wir haben zurzeit allein in Berlin drei Baustellen, er hat Lehrverpflichtungen, jeden Tag stehen im Prinzip Hunderte von Millionen auf dem Spiel. Zeit, um im Park zu flanieren«, sie zog ihre Augenbrauen spöttisch zusammen, »bleibt da nicht. Zumindest wäre mir das neu.« Sie sah ihn an, stolz darauf, es so viel besser zu wissen als dieser Schmierfink, dieser Journalist, den er da erwähnt hatte.
Ben atmete auf. »Oh! Okay … gut, vielen Dank, dass Sie das sagen, dann weiß ich Bescheid.« Doch als er sich abwandte, fühlte er sich, als hätte jemand die Innenseite seiner Stirn als Gong benutzt.