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»Normalerweise ist es nicht so, aber wir hatten Glück, und in diesem Fall ist es so: Frau Götz, Pia und Svenja hatten jede eine andere Blutgruppe, nämlich – in dieser Reihenfolge – 0, A und AB. Auf diese Weise mussten wir nicht erst die DNA-Auswertung abwarten, um anhand der Blutspuren rekonstruieren zu können, was zum Tatzeitpunkt in der Villa passiert ist.«
Der Sachverständige wandte sich einer Präsentationstafel zu, die er gegenüber der Verteidiger-Bank aufgebaut hatte und auf der ein Grundriss des oberen Stockwerks der Villa Götz zu sehen war. Ben schlug eine neue Seite seines Blocks auf, kritzelte mit ein paar Strichen den Grundriss hinein und sah wieder nach vorn.
»Die wichtigste Information, die wir bei der Auswertung der Blutspuren gewonnen haben, ist, dass die ältere Tochter, Svenja, im Schlafzimmer der Eltern gewesen ist, da wir von ihr dort Blut festgestellt haben.« Der Sachverständige deutete mit seinem Zeigestock auf ein Zimmer, das direkt an der Galerie lag, die sich im ersten Stock über der Halle befand. ›Schlafzimmer‹ notierte Ben an der entsprechenden Stelle in seiner Skizze.
»Aufgrund der gesammelten Fakten gehen wir davon aus, dass Svenja ins Schlafzimmer gekommen ist, weil sie etwas gehört hat und nach dem Rechten sehen wollte.« Der Sachverständige sah über seine Brille hinweg zum Richter, der jedoch keine Anstalten machte, ihn zu unterbrechen.
»Deshalb liegt es nahe, anzunehmen, dass der Täter zuerst auf Frau Götz«, wieder pochte der Sachverständige mit seinem Zeigestab auf das Schlafzimmer, »losgegangen ist. Aus dem Schlafzimmer stammt auch die Lampe, die die Beamten später in Pias Zimmer gefunden haben. Eine zweite Lampe gleichen Designs steht noch dort, im Schlafzimmer.« Er holte Luft. »Der Täter greift nach der Lampe, aus welchem Grund, kann ich natürlich nicht sagen« – wieder ein Blick über die Brille zum Richter –, »holt aus und schlägt zu. Frau Götz geht zu Boden. Sie befindet sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Bett, sondern steht wahrscheinlich eher davor als daneben. Als sie am Boden liegt, schlägt er noch einmal zu – dieser zweite Schlag ist tödlich. Aber das weiß er nicht. Es gibt Anzeichen dafür, dass er sich, die bluttropfende Lampe in der Hand, jetzt zur Tür wendet, in der Svenja aufgetaucht ist. Das Mädchen muss durch das, was sie im Schlafzimmer sieht, vollkommen paralysiert gewesen sein. Sie läuft nicht weg. Wir haben eine Spur des Blutes ihrer Mutter an Svenjas Handgelenk gefunden, was darauf hindeutet, dass der Täter das Mädchen festgehalten hat. Es gibt jedoch, wie gesagt, auch Blut von Svenja im Schlafzimmer, gleich bei der Tür. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, dass er mit der Lampe zugeschlagen hat – ihr Schädel ist an der linken Seite zertrümmert. Der Täter kehrt jedoch danach noch einmal zurück und schlägt ein drittes Mal auf die bereits tot am Boden liegende Frau ein.«
Bens Stift flog übers Papier. Aber der Mann sprach schon weiter.
»Dann hebt er die Tochter, also die Tochter von Frau Götz, hoch, und trägt sie in ihr Zimmer.« Der Zeigestock wanderte über die Galerie, die die Zimmer des oberen Stockwerks miteinander verband, an der Treppe vorbei, die auf die Galerie führte, bis in das vordere Kinderzimmer, das zum Garten hin lag. »Er lässt das Kind auf den Boden fallen, kehrt ins Schlafzimmer zurück, durchwühlt die Frisiertoilette von Frau Götz, findet eine Schere, geht zurück zu Svenja, sticht mehrfach« – der Sachverständige blickte in die Unterlagen, die er in der anderen Hand hielt –, »insgesamt neun Mal, in den Oberkörper des Kindes, wobei er auch die Halsschlagader trifft.«
Ben sah zur Anklagebank. Von Götz war nichts zu sehen. Er hatte sich hinter seiner Holzbrüstung verkrochen. Die Mienen der Verteidiger wirkten wie erstarrt.
»Dann geht er in das Zimmer der anderen Tochter, Pia, die trotz des erheblichen Lärms weitergeschlafen zu haben scheint. Möglich ist allerdings auch, dass sie etwas gehört hat, aufgewacht ist, jedoch Angst bekommen hat und deshalb im Bett liegen geblieben ist. Wir haben in ihrem Zimmer einen Abdruck, der von einem Schuh stammt, dessen Sohle mit Blut bespritzt war. Der Abdruck ist jedoch mit einem Pullover des Kindes oberflächlich abgewischt worden, so dass er keinerlei Rückschluss auf Größe oder Schuhsorte zulässt. Der Pullover des Kindes befand sich ebenfalls in ihrem Zimmer.«
Der Zeigestock tippte wieder auf das zweite Kinderzimmer. »Offensichtlich hat sich der Täter entschieden, nicht mit der Schere auf die Sechsjährige loszugehen. Die Schere liegt zwar in Pias Zimmer, es sind aber damit keine Verletzungen zugefügt worden. Stattdessen muss er erneut ins Schlafzimmer der Eltern gegangen sein, um die Lampe zu holen. Natürlich könnte er Schere und Lampe auch gleich zusammen geholt haben, es gibt jedoch keine Spuren, die darauf hindeuten, dass er die Lampe zwischendurch abgelegt hat – und es ist unwahrscheinlich, dass er mit der Lampe in der Hand mit der Schere auf Svenja losgegangen ist. Wir gehen deshalb davon aus, dass er erneut zurück ins Schlafzimmer gegangen ist, um die Lampe zu holen, und dass er damit dann in Pias Zimmer gegangen ist, während das Kind noch immer in seinem Bett gelegen haben muss. Er hebt die Lampe über den Kopf, von den Blutstropfen an der Decke war bereits gestern die Rede, schlägt drei, vier Mal mit aller Kraft zu. Das Kind ist sofort tot. Er lässt die Lampe fallen, sieht den Fußabdruck am Boden, greift den Pullover, der auf einem der Stühle gelegen haben wird, auf denen sich die Kleider des Mädchens befanden, wischt den Abdruck oberflächlich ab, wirft den Pullover in die Ecke und verlässt das Zimmer.«
Der Sachverständige legte das Papier, das er in der Hand gehalten hatte, zurück auf den Tisch. »Wie der Täter das Haus verlassen hat, ist nicht klar. Es gibt dafür mehrere Möglichkeiten. Die Terrassentür, auch das ist bereits gesagt worden, war nicht verschlossen, aber natürlich ist auch denkbar, dass er das Gebäude durch die Haustür verlassen hat – vorausgesetzt, er verfügte über einen Schlüssel.«
Der Richter nickte. »Fragen?« Er sah zum Staatsanwalt.
»Das heißt«, sagte dieser und nahm den Sachverständigen in den Blick, »dass alle Verletzungen, die an den drei Opfern festgestellt worden sind, durch Tatwaffen erklärt werden können, die bereits vor der Tat zum Inventar des Hauses gehörten?«
»Ja, bei der Lampe besteht da gar kein Zweifel – und die Schere wurde von Frau Koch, der Reinigungskraft, ebenfalls eindeutig identifiziert. Die Schere habe schon lange zu den Dingen gehört, die Frau Götz in ihrer Frisiertoilette aufbewahrte, hat sie ausgesagt.«
»Wir müssen also davon ausgehen, dass der Täter keine Waffe mitgebracht hat.«
»Zumindest, dass er die Tat damit nicht ausgeführt hat, auch wenn er eine Waffe mitgebracht haben sollte.«
»Was wiederum dafür spricht, dass die Tat nicht vorsätzlich ausgeführt worden ist, sondern sich aus der Situation heraus ergeben hat, etwa durch einen Streit, der seinerseits wiederum im Schlafzimmer ausgebrochen sein müsste.«
»Ich denke, dass ein solcher Tatablauf sich aus den Spuren am kohärentesten ableiten lässt. Gleichzeitig kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich auch anders zugetragen haben könnte.«
»Weitere Fragen?« Diesmal blickte Hohlbeck zum Verteidiger.
›Er hat sich mit ihr gestritten, nach der Lampe gegriffen, zugeschlagen – seine Tochter hört was, er schlägt sie nieder.‹ Ben spürte, wie seine Hand verkrampfte, während er sich Notizen machte. ›Dann geht er zur Kleinsten und tötet auch sie – er kann nicht wissen, ob sie was gehört hat.‹
Er hielt mit dem Schreiben inne. Entfernt hörte er die Stimme des Verteidigers, aber seine Gedanken waren in dem Haus, in dem es passiert ist. Unwillkürlich wanderte sein Blick zur Anklagebank.
Ben stutzte. Ein Augenpaar war direkt auf ihn gerichtet! Der ganze Raum schien sich auf diesen Blick zu verengen. Götz! Er musste just in dem Moment, in dem Ben aufgesehen hatte, mit seinem Blick an ihm hängengeblieben sein. Ben schwindelte es. Es kam ihm so vor, als ob ein Tier hinter der Holzbrüstung sitzen würde.
Götz’ Blick zuckte weg. Ben spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er legte den Schreibblock zur Seite, atmete aus. Götz hatte sich wieder hinuntergebeugt, nur ein Stückchen seines Rückens war hinter der Holzbrüstung zu sehen.