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»Und? Haben Sie mir ein Kapitel mitgebracht?« Götz’ aquamarinblaue Augen funkelten.
»Ach so!« Ben lehnte sich ruckartig auf seinem Stuhl zurück. »Ich dachte, das hätte sich jetzt erledigt!«
»Ja? Na, ich meine, bringen Sie mir ruhig ab und zu etwas mit, was Sie in der Zwischenzeit geschrieben haben. Dann sehe ich auch besser, was genau wir brauchen. Also Sie, meine ich, für das Buch.«
»Ja.« Ben lächelte dem Wachmann zu, der wieder auf seinem klapprigen Stuhl am Ausgang des Besucherzimmers Platz genommen hatte. »Soll ich«, er schaute zurück zu Götz, »gleich noch mal was holen, bevor wir –«
»Unsinn! Neiiiin, bei nur einem Termin in der Woche lassen Sie uns die Zeit lieber nutzen, Ben!« Götz’ Stimme vibrierte. »Ich darf doch Ben sagen?«
»Gern, Julian.«
»Ja, natürlich, Julian …« Er zeigte die obere Reihe seiner Schneidezähne.
Ben senkte den Blick wieder auf das Papier, das vor ihm lag und auf dem er sich ein paar Notizen gemacht hatte. »Gut. Kindheit, Schule, Studium, erste Aufträge … das ist ja alles schon ganz gut, ich würde gern noch mal auf den Anfang Ihrer Arbeiten hier in Berlin zu sprechen kommen. Das erste Gebäude, am Kottbusser Tor, ein Mietshaus, wenn ich das richtig sehe?« Er schaute auf.
Götz sah ihn aufmerksam an.
»Sie haben viel in Berlin gebaut über die Jahre. Gab es da so etwas wie einen einheitlichen Gedanken, ein Leitmotiv?«
Götz hatte den Kopf etwas auf die Seite gelegt. »Ben … Ben«, er schien seiner Stimme einen besonderen Hall verleihen zu können, »so hat das doch keinen Sinn. Was wollen Sie den Leuten denn groß von meiner Architektur erzählen? Ob die Proportionen der Fenster im dritten Stock nun so oder doch eher so ausfallen – wen interessiert das, außer ein paar eingefleischten Bauexperten?«
Sicher, dachte Ben, nur das, was mich eigentlich interessiert – soll ich Sie das wirklich fragen?
»Wollen wir nicht lieber von meiner Familie reden, von Christine, Svenja, Pia. Ist es nicht das, was die Leute hören wollen? Was ich für Gefühle ihnen gegenüber habe und hatte –«
»Das hatte ich eigentlich für eine spätere Sitzung aufsparen wollen.«
»Wozu? Wir haben keine Zeit zu verlieren. Lassen Sie uns anfangen, in medias res. Sonst haben wir am Ende zehnmal über Traufhöhen gesprochen, aber damit werden wir niemanden auf meine Seite bringen. Meinen Sie nicht?«
Sein wuchtiger, kantiger Kopf mit der hohen Stirn ragte direkt vor Bens Augen auf.
»Ich war gestern in Ihrem Architekturbüro, am Potsdamer Platz.«
»Ja?«
Bens Augen hüpften zu dem Wachmann in der Ecke. Er schien abgeschaltet zu haben, die Lider waren nur noch halb geöffnet.
»Ihr Spaziergang im Tiergarten«, Ben senkte die Stimme beinahe zu einem Flüstern, »am Abend des Fünfundzwanzigsten. Es passt nicht zusammen. Haben Sie mit Seewald darüber gesprochen?«
Götz’ Mundwinkel rutschten nach unten. Als wäre er mit einem Kübel Wasser übergossen worden, lehnte er sich zurück.
Ben schwieg.
War es dumm gewesen, das Vertrauen des anderen aufs Spiel zu setzen? Er spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. Ging es ihn etwas an, ob Götz das Gericht anlog oder nicht? Sein Job war es, das verdammte Buch zu schreiben! Und dafür brauchte er Götz. Er brauchte das Honorar, er brauchte den Erfolg, er brauchte den Neuanfang. Er brauchte keine Wahrheit, keinen Argwohn, keine Probleme! Was war nur über ihn gekommen, nach dem Tatabend zu fragen!
Götz hatte sein Gesicht zur Seite gedreht, sah zur Wand, schien nachzudenken.
In Bens Kopf liefen die Gedanken im Kreis. Aber es war gelogen! Götz hatte gelogen! Oder? Warum sollte er sich an diesem Abend nicht die Füße ein wenig vertreten haben, auch wenn er es sonst nie tat? Wie sollte er, Ben, das beurteilen können?
Er bemerkte, dass Götz ihn ansah.
»Tut mir leid, das … Ich weiß, es hat nichts mit unserem Vorhaben zu tun. Für mich ist das auch eine ganz neue Arbeitsform, verstehen Sie?«
»Ja, nein, Ben, schon in Ordnung, ich hatte ohnehin mit Ihnen sprechen wollen.«
Und die Sache abblasen?
»Wegen meiner Aussage …« Götz verstummte, ließ den Blick auf seine Beine sinken, die er übereinandergeschlagen hatte.
Wegen meiner Aussage?
»Ich bin froh, dass Sie das ansprechen.« Götz legte die Hände auf den Tisch. »Ich habe schon die letzten Tage überlegt, wie ich das am geschicktesten in die Wege leite, aber … Im Grunde genommen wäre es vielleicht das Beste, ich würde mit Seewald sprechen. Nur …« Seine Stimme verlor sich wieder. Es sah ganz so aus, als hätte er seine Gedanken noch nicht sortiert.
Ben wartete ab. Eben war er vorgeprescht, jetzt wollte er nicht schon wieder einen Fehler begehen.
»Können Sie mir einen Gefallen tun?« Götz sah ihn an.
Aquamarinblau, musste Ben denken.
»Hm?«
»Einen Gefallen?« Ben schluckte.
»Ja?«
Was für einen Gefallen?
»Ben? Herr Lindenberger?«
Ben hatte unwillkürlich zum Wachmann gesehen. Aber der hatte sich augenscheinlich in einen Zustand des Dösens verabschiedet.
»Natürlich, Julian, nur … Das Manuskript muss auch fertig werden. Sie wissen ja selbst, wie die Zeit fliegt.«
»Ich würde Sie das nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.«
Götz schien sich wieder erholt zu haben von der Verwirrung, in die er durch Bens Frage nach dem Spaziergang im Tiergarten gestürzt war.
»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Julian, aber ich kann mich da nicht in etwas hineinziehen lassen, was schwer zu überschauen ist. Sie verstehen das doch sicher?«
Götz sah ihn spöttisch an. »Was? Das müssen Sie noch mal sagen.«
Und wenn Götz ihm etwas anvertrauen wollte, das seinem Buch erst den richtigen Pepp geben, das er ohne Götz niemals herausbekommen würde?
Bens Fingerspitzen wurden kühl. »Ich bin eine Art Chronist, mehr nicht.«
»Sie reden mit mir.«
»Um in Erfahrung zu bringen, wie die Dinge zusammenhängen.«
»Ganz recht. Und dabei werden Sie sich vielleicht nicht komplett aus der Sache heraushalten können.«
Es klang unangenehm.
»Hören Sie, Ben.« Da war er wieder, der wuchtige Kopf, nach vorne über die Tischplatte gebeugt. »Ich will nicht zu sehr darauf herumreiten, aber Sie sind mir auch etwas schuldig, das ist Ihnen doch klar, oder?«
»Ich finde es toll, dass Sie sich bereit erklärt haben, bei dem Projekt mitzuwirken.«
»Bei dem Projekt? Es geht um mein Leben, Ben. Erzählen Sie mir nicht, ich würde bei meinem eigenen Leben nur mitmachen.«
Jetzt hatte der Wachmann den Kopf gehoben, der Ton in Götz’ Stimme schien ihm nicht entgangen zu sein. Ben bemerkte es aus dem Augenwinkel, vermied es jedoch, zu dem Beamten hinüberzuschauen.
»Ja, natürlich, nicht dass wir uns da missverstehen …«, fing er an, wurde aber von Götz unterbrochen.
»Haben Sie mit Seewald gesprochen? Dürfen Sie an den Beratungen des Anwaltsteams teilnehmen?«
»Ja, ja, natürlich.«
»Haben Sie mit Sophie gesprochen, meiner Schwägerin? Waren Sie bei mir zu Hause?«
»Ja.«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich Ihnen zur Verfügung stehe, dass Sie sich auf mich berufen können.« Jetzt sahen Götz’ Augen aus, als wären sie nicht länger blau, sondern eher dunkelviolett, fast schwarz. »Ich sorge dafür, dass Sie das Buch Ihres Lebens lancieren können. Sie sind mir was schuldig, Ben. Sie kommen damit groß raus. Aber Ihre Familie musste dafür nicht erschlagen werden. Sie haben fast überhaupt nichts dafür getan. Sie hängen sich da einfach nur ran. Ganz so leicht kann ich es Ihnen aber leider nicht machen. Ich brauche jetzt auch etwas von Ihnen.«
Sonst?, dachte Ben.
»Sonst?«
»Ich will Ihnen nicht drohen«, wich Götz aus. »Das hier ist kein Spiel für mich. Aber ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«
Noch kannst du gehen, murmelte etwas in Bens Schädel.
Der Wachmann hatte seine Augenlider wieder auf Halbmast gesenkt.
»Also, was ist, Ben?« Die Stimme schnitt durch die Luft.
»Ich helfe Ihnen gern, Julian.«
Scheiße!
Götz nickte langsam. »Sie müssen jemanden für mich anrufen.« Seine Stimme war wieder leiser. »Sie heißt Lillian Behringer.«
Okay.
»Es geht um den Fünfundzwanzigsten.«
»Hmm.«
Jetzt drehte sich auch Götz kurz zu dem Wachmann um. Der Beamte zuckte ein wenig zusammen und setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, hatte Götz sich schon wieder Ben zugewandt. »Das überrascht Sie vielleicht«, sagte er halblaut zu Ben, »aber wie gesagt, ich habe lange darüber nachgedacht, und mir bleibt nichts anderes übrig. Es wird ja sowieso herauskommen …«
Ben hatte den Blick aufs Papier gesenkt. Kritzelte ›Lillian Behringer‹.
»Ich war am Abend des Fünfundzwanzigsten mit Frau Behringer zusammen.« Götz machte eine kurze Pause. »Nicht im Park.«
Ben sah seinem Kugelschreiber dabei zu, wie er Kreise auf das Papier malte.
Um ein Haar wäre er in Gedanken abgeschweift. Was bedeutete es, dass er das jetzt wusste? Musste er das melden, die Staatsanwaltschaft benachrichtigen, Seewald? Machte er sich schuldig, wenn er schwieg?
»Ich wollte Frau Behringer da eigentlich nicht mit hineinziehen«, hörte er Götz weitersprechen, »und natürlich dachte ich, es würde die Dinge nur unnötig komplizieren, wenn in der Verhandlung auch noch meine Beziehung zu meiner Frau Christine in Frage gestellt würde. Wenn ins Spiel käme, dass es, ja, klar, dass es auch Schwierigkeiten in unserer Ehe gab.«
Und ich soll Kontakt zu dieser Frau aufnehmen?
»Als ich den Anruf von Hanna Lenz am Abend des Fünfundzwanzigsten abgehört habe, war ich bei Frau Behringer – nicht im Park. Ich bin von ihrer Wohnung aus nach Hause gefahren.«
Ben sah auf. Er brachte kein Wort hervor.
»Frau Behringer kann das bezeugen. Deshalb möchte ich, dass Sie Kontakt zu ihr aufnehmen.«
Bens Kopf wippte nach hinten.
»Ich dachte, man würde relativ schnell ausschließen können, dass ich mit der Tat etwas zu tun habe. Aber das scheint wohl nicht der Fall zu sein. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als Lillian zu bitten, für mich auszusagen.«
»Als Alibi«, kam es aus Bens Mund.
Götz sah ihn prüfend an.
»Oder?«
»Können Sie das machen?« Götz hielt es offensichtlich nicht für nötig, Bens Frage zu beantworten. »Ich könnte natürlich Seewald fragen«, fuhr er fort, »aber Sie wissen ja, wie das ist. Seewald hat wirklich genug zu tun mit der Begleitung der Hauptverhandlung. Einer seiner Assistenten – das will ich auch nicht. Das ist schon eine sensible Sache. Ich könnte einen Freund bitten, aber … Wissen Sie, Frau Behringer ist auch nicht immer gleich anzutreffen. Sie arbeitet zum Teil im Ausland, man wird sie ein paarmal anrufen müssen, es wird nicht so einfach sein, sie zu einem Gespräch zu bekommen. Das lässt sich nicht am Telefon klären, deshalb kann ich es auch nicht selbst erledigen. Ich wüsste also nicht, wen ich um diesen Gefallen bitten sollte. Wen, wenn nicht Sie, Ben?«
»Ja.«
Ben sah, wie Götz’ Zungenspitze hervorschoss und seine Lippen benetzte.
»Ich gebe Ihnen ihre Handynummer. Sie melden sich bei ihr, machen einen Termin aus, ohne ins Detail zu gehen. Wenn Sie sich mit ihr treffen, erklären Sie ihr, dass ich lange mit mir gerungen habe, sie eigentlich heraushalten wollte, aber dass das nun nicht mehr möglich ist. Dass ich sie bitte, sich mit der Staatsanwaltschaft in Verbindung zu setzen, damit sie dort zu Protokoll geben kann, dass ich bei ihr war.«
»Und wenn sie sich weigert?«
Götz wischte die Bemerkung ärgerlich mit einer Handbewegung beiseite. »Das wird sie nicht, kann sie gar nicht. Ich war ja da. Warum sollte sie lügen?«
Und wenn es nicht stimmt? Ben konnte nicht anders, der Gedanke flog ihm einfach zu.
»Natürlich wird der Staatsanwalt ihre Aussage anzweifeln.« Götz sah ihn an, als hätte er seine Gedanken erraten. »Aber darauf kommt es mir im Moment nicht an. Mir ist jetzt wichtig, dass die Dinge endlich auf den Tisch kommen. So geht es nicht weiter.«
Ich soll ihm sein Alibi besorgen, schoss es Ben durch den Kopf.
»Können Sie sich die Handynummer notieren?«
Ben hielt den Stift hoch, den er ohnehin in der Hand hatte.
Götz diktierte ihm die Nummer aus dem Kopf. »Hinterlassen Sie ihr eine Nachricht auf dem AB«, sagte er, »sie wird Sie zurückrufen.«
»Arbeitet Frau Behringer auch in der Baubranche?«
Götz schnaubte kurz durch die Nase. »Ich bin sicher, das werden Sie sehr schnell selbst herausbekommen, Ben.« Er lehnte sich wieder zurück. »Und jetzt reden wir, wenn es Ihnen nichts ausmacht, endlich über meine Beziehung zu meinen beiden Töchtern. Dass ich Svenja letztes Jahr zu Weihnachten ein Pferd geschenkt habe, haben Sie das schon? Es steht in Düppel, Sie müssen sich das unbedingt ansehen.« Er schien den Auftrag, den er Ben gegeben hatte, bereits vollkommen vergessen zu haben. »Kann man das nicht mal fotografieren und in das Buch aufnehmen? Ich denke, das würde sich sehr gut machen, was denken Sie?«
Seine Augen hatten wieder zurück zu ihrem Blauton gefunden.