28

»Es ist mehr eine Spielerei, was denken Sie denn, aber der Effekt ist großartig, oder? Ich sag Ihnen, wir haben eine Party dort gefeiert, kurz nachdem es fertiggestellt war, haben Brillen verteilt, und die Leute sind regelrecht ausgetickt, wissen Sie?« Götz starrte ihn an. Ein Gesicht, das Ben unwillkürlich in seinen Bann zog. Das etwas Scharfes hatte, etwas Konzentriertes, Eindringliches, in dem tiefe Furchen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln reichten und die Augen, groß und kräftig herausgearbeitet, ihn buchstäblich festzuhalten schienen.

»Es ist eine Leuchtflüssigkeit«, fuhr Götz fort, »die sich jeweils zwischen der oberen und der unteren Glasplatte befindet. Wenn die aktiviert wird, indem der Druckkontakt der Scheibe ausgelöst wird, beginnt sie zu strahlen. Wahnsinnig einfach im Grunde, nur hat das eben noch nie jemand vorher so gemacht.«

Um das Eis bei ihrem Gespräch brechen zu können, hatte sich Ben, nachdem er von Seewald das Okay für den Besuch in der Untersuchungshaftanstalt bekommen hatte, in einer Fachbuchhandlung einen Band über Götzens bisherige Arbeiten gekauft, einen Hochglanz-Katalog mit beeindruckenden Farbaufnahmen. Darin war ihm vor allem ein Projekt ins Auge gefallen, eine Art Glaskubus, den man betreten konnte und dessen einzelne Glasplatten in unterschiedlichen Farben zu leuchten begannen, wenn man darin umherging.

Ben lächelte. »Ich habe mir inzwischen auch noch mal eingehender einige der Bauten angesehen, die Sie in den letzten Jahren in Berlin realisiert haben. Viel Stein, viel Masse, solide gefügt – eine Formensprache, die eher an die dreißiger Jahre erinnert, an den Flughafen Tempelhof oder das heutige Finanzministerium. Umso überraschter war ich über die Farben bei diesem Entwurf, über seine Durchsichtigkeit, das Flirren von Transparenz und Bewegung. Wirklich eine Raumgestaltung, die ich mir sehr aufregend vorstelle.«

Götz ließ ihn nicht aus den Augen.

Ben lächelte. Sollte er vielleicht weniger um den heißen Brei herumreden?

»Seewald hat gesagt, dass Sie mich sprechen wollen«, meinte Götz schließlich trocken und offensichtlich ganz unberührt davon, wie unhöflich er damit zum Ausdruck brachte, auf Bens Schmeicheleien verzichten zu können.

Ben richtete sich auf. »Es geht um Ihren Fall, Herr Götz«, erwiderte er ohne Umschweife. »Ich möchte ein Buch darüber schreiben. Ich glaube, es ist eine Geschichte, die sehr vielen Menschen sehr viel zu sagen hat.«

»Ach ja? Und was?«

Ben sah kurz zu dem Fensterschlitz in der oberen Ecke des Raumes. Er war vergittert, und die Scheiben waren seit Monaten nicht mehr geputzt worden. Hinter sich hörte Ben das entfernte Hallen eines Gitters, das zugeschlagen wurde. Ein leichter Kohlgeruch lag in der Luft.

»Dass wir alle auf einer nur sehr dünnen Schicht leben, unter der etwas kauert, das jeden Moment hindurchbrechen kann.«

Als er zurück zu Götz schaute, sah der ihn prüfend an.

»Sie haben das Leben gelebt, nach dem sich jeder sehnt«, fuhr Ben fort. »Sie hatten eine großartige Frau, zwei süße Töchter. Sie haben in einem Haus gelebt, das Sie selbst entworfen haben. Sie haben eine eigene Firma, sind einem Beruf nachgegangen, der sie ausgefüllt hat. Es war beinahe wie ein Traum. Ein Traum, in den von einem Augenblick zum nächsten das Grauen eingeschlagen hat. Ohne Ankündigung, ohne Recht, ohne Gnade. Es hat in einem Moment alles zerstört, was Sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatten. Jetzt sitzen Sie hier, wie herabgestürzt aus den Wolken. Ein Mann, der darum kämpft, dass er für den Schicksalsschlag, den er erlitten hat, nicht auch noch verantwortlich gemacht wird.« Ben nickte langsam, bevor er fortfuhr. »Seit langem schon bin ich auf der Suche nach einem Stoff, der mehr ist als nur ein gewöhnlicher Krimi, ein beliebiger Thriller. Ein Stoff, in dem Wahrheit steckt – Wahrheit und Emotion. Sie können es wahrscheinlich nicht so sehen, Herr Götz, aber für mich ist Ihre Geschichte das Größte und Packendste, was ich jemals gehört habe.«

Götz’ Kopfhaut schien sich ein wenig nach hinten zu schieben. »Sie wollen aus meinem Leben ein Buch machen«, sagte er. »Sich ranhängen an das, was ich erlebt habe. Es zu Geld machen. Sehe ich das richtig?«

Es kribbelte Ben am ganzen Körper. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Götz sofort derart auf Konfrontation gehen würde. Wenn er kein bisschen an dem Buchprojekt interessiert war, warum hatte er dem Treffen dann zugestimmt? Seewald hatte ihm doch mit Sicherheit gesagt, in welcher Angelegenheit Ben ihn sprechen wollte.

»Ich hänge mich ran, von mir aus können Sie das so sagen – aber ich hätte es nicht gewagt, Sie um ein Gespräch zu bitten, wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, dass mein Projekt für uns beide Vorteile hat – auch wenn das vielleicht ein wenig herzlos für Sie klingen mag.« Wenn Götz die Dinge beim Namen nannte, würde er es auch tun, dachte Ben.

»Und wie?«

»Das habe ich schon versucht, Herrn Seewald zu erklären: Indem ich die Ereignisse aus Ihrer Sicht darstelle. Egal wie der Prozess ausgeht, mit meinem Buch haben Sie eine in sich stimmige Beschreibung der Zusammenhänge, die nur einen Schluss zulässt: Dass Sie unschuldig sind.«

»Woher wissen Sie das?«

Ben hatte das Gefühl, Fuß zu fassen. »Sie sind ein begnadeter Baumeister, Herr Götz, kein durchgeknallter Mörder.«

Götz’ Mund war nur ein Strich.

»Haben Sie mal einen meiner Filme gesehen?«

»Was schreiben Sie, TV-Zeug?« Götz schnalzte mit der Zunge. »Tut mir leid, ich schaue mir so was nicht an.« Und dann geschah etwas, womit Ben nicht gerechnet hatte. Götz stand auf. Die Stuhlbeine schabten über den Linoleumboden. »Sorry, Herr Lindner –«

»Ich schreibe den Anfang, okay?«, fiel Ben ihm hastig ins Wort. »Ich schicke Ihnen das hierher, und Sie sehen sich das in Ruhe an.« Seine Stimme klang hell. »Und wenn es Ihnen gefällt, helfen Sie mir, die Fakten richtig hinzubekommen.«

Götz war am Tisch stehen geblieben, seine Augen, die jetzt beinahe indisch wirkten, so dunkel und groß waren sie, blinkten. »Sie sind ja mächtig motiviert, Junge, das muss ich Ihnen lassen.«

Lass mich jetzt nicht im Stich, stieß Ben innerlich hervor. »Sie kennen meinen Namen nicht, aber Seewald kann Ihnen eine Vita von mir vorlegen. Ich habe eine ganze Reihe von Drehbüchern zu Filmen geschrieben, die gut gelaufen sind. Doch es hat begonnen, mich zu langweilen, verstehen Sie? Ich habe von Ihrem Fall gehört und gewusst: Das ist es. Das ist, wonach ich gesucht habe! Ich habe alle Aufträge abgesagt und begonnen, Ihrem Prozess zu folgen.«

Götz schien noch immer nachzudenken.

»War er es – oder nicht? Das Rätsel, das sich darin verbirgt, ist wie eine Droge. Niemand kann sich dem Sog, der davon ausgeht, entziehen.« Ben spürte, wie eindringlich er klang. »Jeder, der einmal von Ihrem Fall gehört hat, wird von so etwas wie einer inneren Unruhe gepackt. Denn es kann nicht beides wahr sein: Dass Sie ein unschuldiges Opfer sind – und dass Sie ein Mörder sind, der nicht davor zurückschreckt, seine beiden Töchter zu erschlagen. Was aber ist wahr? Das ist es, was einem keine Ruhe lässt.« Ben hatte sich vorgebeugt, den Blick auf Götz’ Gesicht geheftet. »Wir werden den Menschen das geben, wonach sie sich mehr als nach allem anderen sehnen. Wir werden ihnen zeigen, dass Sie nicht zugeschlagen haben! Dass es dieses Monstrum nicht gibt, dass niemand jahrzehntelang erfolgreich sein Leben lebt und plötzlich aus heiterem Himmel beginnt, die hilflosen Liebsten um sich herum zu erschlagen. Wir werden den Menschen zeigen, dass die Welt genau das ist: so heil, wie sie sich das immer vorgestellt, ja, gewünscht haben! Dass es den Abgrund des Bösen zwar gibt: Jemand hat Ihre Familie ausgelöscht. Aber das Böse trägt nicht die Maske des Guten, es verbirgt sich nicht hinter einer Fassade des Erfolgs, das Böse lauert nicht unter der Oberfläche des Julian Götz – es lauert nicht in einer Villa in Wannsee. Der Täter hat ein anderes Gesicht, wer ihn sieht, erkennt ihn sofort. Mit uns erlebt der Leser, wie die Dinge wieder geradegerückt werden. Und dafür werde ich Sie, Herr Götz, in langen Interviewpassagen in dem Buch selbst zu Wort kommen lassen.«

Götz stützte die Hände auf die Lehne des Stahlrohrstuhls, hinter dem er stehen geblieben war. »Ich will als Architekt weiterarbeiten«, sagte er nach einer Weile. »Das ist alles, was mich interessiert. Wenn Seewald den Prozess für mich gewinnt, wenn ich freikomme, will ich nicht, dass all das, was ich aufgebaut habe, in Trümmern liegt. Ich will weitermachen, an genau dem Punkt, an dem ich am 25. September aufhören musste. Können Sie das mit Ihrem Buch erreichen?

Ben glühte. »Es ist perfekt. Genau das ist die Haltung, die wir brauchen. Wissen Sie was? Hier in der U-Haft, wissen Sie, woran Sie arbeiten sollten? An einem Bau für Häftlinge, einem modernen Gefängnis. Entwerfen Sie ein Gebäude, in dem sich die U-Haft ertragen lässt. Ich werde in meinem Bericht ja Ihre Geschichte erzählen, aber auch von der Zeit berichten, die Sie in der U-Haft verbringen. Und diese Zeit können wir anhand Ihres Entwurfs strukturieren, verstehen Sie? Immer wieder kommen wir darauf zurück, wie Ihr Gefängnisprojekt wächst. Der Architekt, der Welten in seinem Kopf entstehen lässt, auch wenn man ihn gewaltsam daran hindert, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Und am Ende – stiften Sie den fertigen Plan der Stadt!«

Götz’ Augen ruhten auf Ben.

»Währenddessen hält Ihre Familie natürlich zu Ihnen. Das ist ein wichtiger Punkt.« Ben sprach schneller, als er denken konnte. »Ich brauche Termine mit Ihrer Schwägerin, Ihren Eltern, Schwiegereltern. Ich muss berichten, wie sie sich treffen, beraten, wie sie Ihnen helfen können.«

»Haben Sie einen Verlag dafür?«, unterbrach ihn Götz.

»Natürlich! Ich habe denen ein Exposé geschickt, die haben sofort ja gesagt.«

»Bevor sie wussten, ob ich mitmachen würde.«

Ben lachte. »Ja, na ja, da haben sie sich ein Hintertürchen offen gehalten, das stimmt schon …« Ich werde einen Verlag finden, schoss es ihm durch den Kopf, lass dich davon jetzt nicht ablenken. »Aber Sie müssen auch mit Seewald reden, Sie müssen ihm klarmachen, dass ich dabei sein will, wenn er und sein Team die Verteidigungsstrategie weiterentwickeln. Ich will danebensitzen, wenn das Team die Vernehmung der Zeugen vorbereitet, ich will im Auto sein, wenn Sie, Herr Götz, am Abend nach der Urteilsverkündung vom Gerichtsgebäude wieder nach Hause fahren!«

»Unmöglich.« Götz schüttelte Kopf.

»Hören Sie, Götz«, Bens Stimme durchschlug die Luft, »meine Fernsehsachen, die ziehen fünf, sechs Millionen Zuschauer an, begreifen Sie das? Ich weiß, wie man die Menschen fesselt, so wie Sie es verstehen, ein eindrucksvolles Gebäude zu schaffen. Es gibt ein paar Gesetze der Dramaturgie – ja, warum nicht! –, und die müssen befolgt werden. Wir wollen doch keine leblose Pressemitteilung veröffentlichen, die niemand liest, richtig? Wir wollen einen Bestseller! Der Stoff ist da, aber wir müssen ihn auch richtig aufbereiten! Und das heißt, dass wir nicht nur ein Eckchen zeigen können und den Rest nicht. Das merkt der Leser. Wir müssen die Karten offen hinlegen, wir müssen den Leser überallhin mitnehmen, ihn durch jede einzelne Wendung des Mordprozesses regelrecht hindurchführen. Dann wird das Buch ein Erfolg, wie man ihn hierzulande mit einem Gerichtsprozess noch nicht erlebt hat! Das wird verfilmt, das sage ich Ihnen, die Verhandlung wird bekannt werden als der Prozess des Jahrzehnts. Wissen Sie, was das bedeutet? Das Besteck, jede Türklinke, die Sie entworfen haben? Der Wert wird sich verzehn-, verhundertfachen!«

Plötzlich hatte Ben das Gefühl, nichts könne ihn mehr aufhalten, das Gefühl, er könne den Mann, der da vor ihm stand, regelrecht um den Finger wickeln.

»Sie sind in der Branche bekannt, in Berlin, in Deutschland, meinetwegen unter Kennern auch in anderen Ländern – aber mit diesem Buch wird aus Ihnen Kult! In Japan, Italien, Spanien, Frankreich, das ist eine Story, die katapultiert Sie weit über die Grenzen des Landes hinaus. Der Verlag hat gute Kontakte in die USA. Wollten Sie nicht schon längst einmal ein Hochhaus, einen richtigen Skyscraper bauen? Die Amerikaner hatten doch schon immer ein Faible für Killer!«

Es war, als würde die Luft in dem Raum schockgefroren. Hatte er das wirklich gesagt? Ben lachte, richtig laut, wie von Herzen. »Ach, kommen Sie, Götz – das war ein Scherz!«

Er hält das aus, rauschte es in seinem Kopf, der Mann ist kein Jammerlappen, er wird einfach darüber hinwegspringen. Aber Ben spürte, dass der Schwung, in den er sich geredet hatte, schlagartig verflogen war.

Götz’ Gesicht war blass, er hatte den Stuhl losgelassen, sich aufgerichtet.

»Überlegen Sie es sich«, lenkte Ben ein, noch selbst erschrocken darüber, wie plötzlich er abgestürzt war.

»Doch, doch«, kam es da leise von Götz, »was Sie da sagen, ist vielleicht gar nicht so falsch.«

Ben zögerte, konnte die Augen nicht von seinem Gegenüber abwenden. Da war es wieder, dieses Spitze ins Götzens Gesicht, als ob jemand die Haut an seinem Hinterkopf zusammenziehen würde.

»Es eilt ja nicht«, stammelte Ben, dem all seine Überlegenheit fortschwamm, »wir brauchen das ja nicht heute zu entscheiden.«

Und plötzlich war es da, ein anderes Gefühl, aufgeplatzt in ihm genau in dem Moment, in dem Götz auf seinen Vorschlag eingegangen war. Das Gefühl, dass er vielleicht einen Fehler beging, dass er sich vielleicht niemals auf diesen Mann hätte einlassen dürfen. Und für einen Augenblick kam es Ben so vor, als würde ein mannshoher Raubvogel vor ihm stehen und seine schwarzen Flügel ausbreiten.

»Ist schon okay«, zischelte es, »ich rede mit Seewald. Ich will mit Ihnen arbeiten, Lindenberger. Sie haben mich überzeugt.«

NEIN, brauste es in Ben auf. Und die Angst, die ihn die ganze Zeit über dazu getrieben hatte, auf Götz einzureden, als ginge es um sein Leben, schien mit einem Mal in sein Herz gesprungen zu sein.

Der Architekt
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