55_Jenna

Ich habe vergessen zu sagen, dass ich dich liebe. Das hätte ich dir sagen sollen.

Durch den nächsten Schultag stolperte ich wie auf Autopilot. Beth umarmte mich die ganze Zeit und war voller Mitgefühl, aber ich konnte nicht darüber reden. Als mich der Schulbus am Nachmittag zu Hause absetzte, machte ich kehrt und ging in Richtung Kanal. Ich stand auf dem Pfad, neben dem die Freiheit festgemacht gewesen war. Gegen jede Vernunft hoffte ich, dass sie immer noch dort sein würden. Aber natürlich war es nicht so.

Er war weg. Nicht die kleinste Spur erinnerte daran, dass er jemals hier gewesen war.

Als ich abends mit Raggs rausging, traf es mich wie ein Schlag. Ryan war weg, und ein Gefühl des Verlusts stieg in meiner Kehle auf, das mich nach Luft ringen ließ. Es drohte, mich zu ersticken. Es war so stark, dass ich nicht einmal weinen konnte.

Niemand, der mir sagte, dass es keine Rolle spielte, wenn mich jemand anstarrte. Niemand, der mich wirklich spüren ließ, dass es keine Rolle spielte – weil er mein Gesicht mochte, wie es war, und andere Leute gar nicht zählten. Niemand, der mir das Gefühl gab, dass er mich brauchte. Der ein Kribbeln auf meiner Haut hervorrief, wenn er sie berührte. Der mir sagte, dass er mich liebte. Der mein bester Freund war.

Dieser Abend fühlte sich genauso an wie der Moment, als ich nach dem Unfall zum ersten Mal allein rausgegangen war. Ich war durch das Gatter auf die Koppel geschlichen und hatte zugesehen, wie Raggs ausgelassen über die Wiese rannte. Hatte mich neben die Hecke gekauert und Ausschau gehalten – die ganze Zeit über hatte ich Ausschau gehalten, ob mich irgendjemand sehen konnte. Die Koppel kam mir riesig vor, und ich wollte zurück ins Haus und die Tür vor einer Welt verschließen, die ich nicht mehr wiedererkannte. Wollte im Verborgenen bleiben, in Sicherheit sein, sodass ich nie mehr erleben musste, wie die Leute auf mein Gesicht reagierten. Das Schaudern, der Abscheu. Der Gedanke, dass Menschen, die ich kannte, mich sahen …

Es drohte, mich zu ersticken, wie mich jetzt der Verlust von Ryan erstickte.

Ich konnte wieder so werden wie damals, bevor ich ihn getroffen hatte. Aber wenn er erfuhr, dass ich mich wieder versteckte, würde er wütend werden. Ich wusste, was er sagen würde: »Ob ich da bin oder nicht, macht überhaupt keinen Unterschied. Ich fand dich scharf, oder etwa nicht? Warum pfeifst du nicht darauf, was irgendein Schwachkopf denkt?«

Ich wollte ihm keine Schande machen.

 

Während der nächsten Wochen erfuhren wir die ganze Geschichte um den Mord an Steven. Dad besuchte Mr Norman, der in einer Art Gefängniskrankenhaus untergebracht war. Er erzählte Dad, dass er in Harton Brook gewesen sei, um an der Unfallstelle neben der Brücke eine weiße Rose abzulegen. Das tat er regelmäßig. Er hatte das Licht und den Fernseher in seinem Haus angelassen, weil das seine Privatangelegenheit war und bleiben sollte. Etwas, das niemand außer ihm wusste. So ergab das Ganze für mich einen Sinn. Er war wahrscheinlich gerade erst zurückgekehrt, als Mr Crombie sah, wie er alle Türen verriegelte. Dass er nach dem Mord imstande gewesen war, in aller Ruhe sein Haus abzuschließen, verursachte mir eine Gänsehaut. Doch Dad meinte, es zeige, wie sehr sein Verstand gelitten hatte.

Als Mr Norman von Harton Brook zurückkam, hatte er Steven und seine Freunde gesehen, die darauf warteten, abgeholt zu werden. Sie alberten herum und rissen Witzchen. Die neue Freundin von Steven war auch dabei. Mr Norman sah, wie er sie küsste.

Da habe etwas in ihm ausgesetzt, sagte er zu Dad. Weil Steven am Leben war und so etwas tun konnte und Lindsay nicht. Vom Wäldchen aus beobachtete er, wie das Auto die anderen mitnahm. Steven winkte ihnen hinterher, dann drehte er sich um, um zurückzugehen, und in diesem Moment stürzte sich Mr Norman auf ihn. Er sagte, er hätte plötzlich doppelt so viel Kraft gehabt. Er packte Steven von hinten und ließ ihm keine Chance, sich zu wehren, noch nicht einmal zu schreien. Und dann schlug er Stevens Kopf gegen die Steinmauer der Brücke.

Einmal.

Zweimal.

Da war Steven schon tot, doch Mr Norman hörte nicht auf. Er hörte nicht auf, bis Stevens Schädel völlig zerschmettert war.

Dann ging er nach Hause.

In den ersten Tagen der Ermittlung hatte die Polizei natürlich auch mit ihm gesprochen. Doch er erzählte ihnen, er hätte das Haus nicht verlassen, und nach der Aussage von Mr Crombie gab es keinen Grund, daran zu zweifeln.

Er hatte nie gewollt, dass jemand anders verantwortlich gemacht würde. Er hatte sich verkrochen und von der Welt abgeschottet, er wusste nicht, dass die Polizei Dad verhört hatte. Er wusste auch nichts von Ryan. Er sagte, es sei egal, was mit ihm passierte – er hätte alles gestanden, aber er wollte Lindsay nicht verlassen.

Was ihm jetzt zu schaffen machte, sagte er zu Dad, war der Gedanke, dass sie dort allein lag und sich keiner um sie kümmerte.

»Ich habe ihm versprochen, ich würde ein Auge auf sein Haus haben. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich mich gefühlt hätte, wenn du das gewesen wärst, und wie ich mich gefühlt habe, als ich dich mit verbundenem Kopf im Krankenhaus liegen sah. Wenn ich er wäre und du lägst in meinem Garten begraben, dann würde ich auch nicht wollen, dass du dort allein bist und Unkraut auf deinem Grab wächst.«

»Aber Dad, zuerst haben sie dich verdächtigt. Bist du denn deswegen nicht wütend auf ihn?«

Er blickte ins Leere. »Als ich sein Gesicht gesehen habe … Jenna, ich kenne den Mann seit Jahren. Erinnerst du dich noch an diesen Sonntag, als die Rohre geplatzt sind und er rüberkam und geholfen hat, alles zu beseitigen und das Leck zu reparieren, weil wir keinen Klempner kriegen konnten? Er hat seine Verabredung zum Golf abgesagt, die Ärmel hochgekrempelt und ohne auch nur eine Sekunde zu zögern mit angepackt. Und dann die Weihnachtsfeiern, die er für euch Kinder im Gemeindesaal veranstaltet hat. Bevor seine Ehe kaputtgegangen ist, hatte er immer ein Lächeln auf den Lippen. Er hatte für jeden Zeit. Er nahm sich Zeit. Und jetzt … sitzt er da und seine Augen sind tot. Du kannst einem gebrochenen Menschen nichts übel nehmen.«

Ich dachte an Charlie und das Fernglas und den Nistkasten, bei dem Mr Norman ihm geholfen hatte. Wie mein Bruder geweint hatte, als er es der Polizei erzählte. Dad hatte recht.

Eine Nacht, ein Fehler … so viele Folgen. Wenn wir doch nur alles zurückdrehen könnten.

Dad sorgte dafür, dass das Haus gesichert und verschlossen wurde. Jedes Wochenende ging er rüber, um nachzusehen, ob der von ihm engagierte Gärtner alles zu seiner Zufriedenheit erledigte. Er sagte dem Mann, dass er den weißen Rosenstrauch nicht anfassen sollte. Um den kümmerte sich mein Vater selbst.

Allmählich kehrte in Strenton die Normalität ein. Die Kinder gingen wieder ohne Begleitung nach draußen. Die Carlisles zogen weg und das Haus wurde zum Verkauf angeboten. Selbst Charlie lächelte wieder, auch wenn es eine Weile dauerte. Sich um ihn zu kümmern, milderte die Sehnsucht nach Ryan irgendwie ein bisschen.

Als im Dorf entlang der Hauptstraße die Weihnachtsbeleuchtung anging, nahm Mum uns zum Einkaufen mit in die Stadt. Wir sahen die von Weihnachtsmännern, Neonbäumen und Sternen erleuchteten Straßen und der alte Charlie war zurück. Jeden Morgen sprang er aus dem Bett, um eine Tür an seinem Adventskalender zu öffnen und mir das Bild zu zeigen, dass sich hinter der Schokolade verbarg. Und dann verschlang er vor meinen Augen die Schokolade – mit offenem Mund und nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt –, gab dabei ekelhafte Schmatzgeräusche von sich und machte sich darüber lustig, dass ich keine hatte.

Zum Beginn der Weihnachtsferien erlaubten Beths Eltern, dass sie eine Party für ihre Freunde gab. Keine große Sache, zusammen mit Max waren wir ungefähr fünfzehn. Essen, Softdrinks und blöde Partyspiele – solche, die man in unserem Alter nur noch an Weihnachten spielen konnte, weil sie zu jeder anderen Gelegenheit völlig uncool gewesen wären.

In der Geborgenheit von Leuten, die an mein Gesicht gewöhnt waren, konnte ich die Narben vergessen und mich genauso amüsieren wie sie. Außer dass ich aus dem Augenwinkel immer Ryans Geist sah, der auf dem Sofa lümmelte und mich auslachte, als ich eine weitere Runde beim Eselschwanz-Spiel – mit Rudolf, dem Rentier – verlor. Und ihn zu vermissen, schnürte mir die Kehle zu.

»Denkst du wieder an ihn?«, fragte Beth, als ich ihr in der Küche dabei half, Windbeutel auf einer Platte zu arrangieren. Sie nannte nicht seinen Namen; es war nicht nötig.

»Die ganze Zeit.«

»Du kommst wirklich gut klar«, sagte sie. »Die meisten Leute glauben, dass du über ihn hinweg bist.«

Die Sehnsucht nach Ryan ging nur mich etwas an. Ich wollte das vor anderen nicht zur Schau stellen. Also weinte ich nicht wegen ihm – nur manchmal allein in meinem Zimmer, wenn ich eine schlechte Nacht hatte. Er hätte es auch nicht gewollt. Doch ein kleines Stück von mir war nie ganz da, wie bei einer zerbrochenen Porzellanvase, bei der ein Bruchstück fehlte.

Niemand sollte bemerken, wie oft ich in den ersten Tagen auf mein Handy blickte, weil ich hoffte, er würde mir eine SMS schreiben – auch wenn er gesagt hatte, dass das alles nur schlimmer machen würde. Wie oft saß ich da und war kurz davor, ihn anzurufen. Als die Wochen verstrichen und er sich nicht meldete, stellte ich mir vor, dass er ein anderes Mädchen gefunden hatte und was sie wohl zusammen machten. Wer immer sie auch war, ich hasste sie. Ich wollte ihr das Gesicht zerkratzen. Ein andermal machte ich mir große Sorgen um ihn – dass seine Mum krank war und er an einem fremden Ort allein damit zurechtkommen musste. Dass er eine Umarmung nötig hatte und dass es niemanden gab, der das nun tun würde.

Er hatte mir befohlen, ihn zu vergessen. Aber das war unmöglich. An jedem Tag, an dem er nicht da war, um etwas Lustiges zu erzählen oder mich mit seinen blöden Bemerkungen zum Lachen zu bringen, öffnete sich die Wunde aufs Neue.

Nachdem wir am Weihnachtsmorgen unsere Geschenke ausgepackt hatten, saß ich mit Mum in der Küche und half ihr mit dem Gemüse, als ich den SMS-Ton meines Handys hörte. Ich guckte nicht sofort drauf. Ich hatte den ganzen Morgen schon Nachrichten von Beth, Max und den Leuten aus der Schule bekommen.

Ich tat den Rosenkohl in den Topf, dann schaute ich nach, und für einen Moment hielt ich den Atem an.

Eine neue Nachricht.

Ryan.

»Fröhliche Weihnachten X«

Meine Daumen zitterten, als ich zurückschrieb.

»Dir auch fröhliche Weihnachten X«

Den ganzen Tag behielt ich das Handy in der Tasche, vielleicht würde er anrufen. Aber er rief nicht an und die Sehnsuchts-Wunde riss wieder auf.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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