36_Ryan
Ich brauchte all meine Überredungskunst, um Jenna zu überzeugen, mit mir zur Bonfire-Nacht in Whitmere zu kommen. Sie fand, sie sollte nicht ausgehen, um sich Explosionen anzugucken, wenn ihr zu Hause alles um die Ohren flog. Am Ende konnte ich sie überreden, indem ich ihr vorschlug, Charlie mitzunehmen – der Junge musste mal da raus. Es hörte sich an, als ob bei ihnen totaler Stress herrschte. Und weil ihr Dad noch nicht über uns Bescheid wusste und Charlie damit drohte, es ihm zu erzählen, hielt ich es sowieso für eine gute Idee, ihn bei Laune zu halten.
Als wir auf dem Festplatz ankamen, entdeckte er einen Jungen, den er kannte, und Jenna meinte, er könne verschwinden, solange er sich nicht zu weit entfernte. Charlie murmelte etwas davon, dass er nicht hier rumstehen und uns beim Knutschen zusehen würde, dann schlenderte er davon. Ich war auch mal zehn – ich verstand ihn.
Wir beobachteten, wie eine Feuerwerksrakete in einem roten, goldenen und silbernen Funkenball explodierte und dabei den See und die Gesichter der Menge erhellte. Es gab einen Knall und dann noch einen Sternenregen, diesmal in Blau und Violett.
Jenna kuschelte sich an mich.
»Ist dir kalt?«, flüsterte ich.
»Ein bisschen.« Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke auf und legte sie so weit wie möglich um sie herum, dann ließ ich mein Kinn auf ihren Kopf sinken.
Eine Reihe von lauten Krachern: eins, zwei, drei … und dann eine sprudelnde Fontäne weißer Funken am schwarzen Himmel.
»Tolles Feuerwerk«, sagte das Mädchen neben mir.
Ich lächelte und nickte – es war Jennas beste Freundin, Beth, das Mädchen vom Rugbyklub. Es war mir also einigermaßen wichtig, bei ihr einen guten Eindruck zu machen. Jenna meinte zwar, ich müsste dieser Doppelverabredung nicht zustimmen, wenn ich nicht wollte, doch ich merkte, dass sie Lust dazu hatte. Und auch ihrer Mutter war es lieber, wenn wir als Gruppe unterwegs waren. Seit dem Mord waren erst zwölf Tage vergangen, und sie hatte Angst, wenn Jenna und Charlie im Dunkeln das Haus verließen.
»Nachher gibt es noch ein zweites Feuerwerk«, sagte Max. »Nachdem sie das Feuer angezündet und die Guy-Fawkes-Puppe verbrannt haben. Die tollsten Effekte haben sie für später aufgespart.«
»Klasse.«
Mit Beths Freund war die Sache ein wenig problematisch. Wenn ich auf Leute in meinem Alter traf, dann waren es entweder auch Nomaden oder Jungs aus den Dörfern und Städten, in denen wir anlegten. Wie ich mit Umherziehenden reden musste, wusste ich, und die anderen Jungs wollten mir normalerweise immer nur den Schädel einschlagen. Aber Max war nicht so, und ich hatte keine Ahnung, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte.
Ich merkte, dass er mich aus dem Augenwinkel beobachtete, und schlang die Arme fester um Jenna. Ein paar Sekunden später sah ich, wie er näher an Beth heranrückte und sie ebenfalls fester umarmte. Interessant.
Als ich wieder bemerkte, dass er uns beobachtete, ließ ich meine Hände auf Jennas Bauch gleiten und zog sie an mich. Sie verdrehte den Kopf, um mich anzusehen, und ich küsste ihre gekräuselte Nase.
Und tatsächlich wanderten Max’ Hände langsam nach unten und er drückte Beths Bauch.
Ich lächelte, denn mir fiel ein, dass er jünger war als ich. Er wusste wohl nicht genau, wie weit er gehen konnte – und dachte, er könnte mir alles nachmachen. Vielleicht sollte ich ihn zur Seite nehmen und ihn von meiner Erfahrung profitieren lassen.
Die Versuchung, einen Wettstreit daraus zu machen, war zu groß. Ich beugte den Kopf und küsste Jennas Hals, von oben nach unten und wieder zurück. Dann berührte ich mit den Lippen ihren Wangenknochen.
Jetzt war er wieder an der Reihe.
Max starrte wie gebannt auf die Feuerwerksraketen, die über dem See explodierten. Anscheinend fehlte ihm der Mut, das auszuprobieren! Schließlich umarmte er Beth noch fester und gab ihr einen flüchtigen Kuss aufs Ohr.
»Wirst du dich wohl benehmen?«, murmelte Jenna.
»Was meinst du?«, flüsterte ich zurück.
»Ich weiß, was du da tust. Hör auf, so anzugeben.«
Ich lachte und sie gab mir einen Stoß.
Kurz darauf gingen Max und ich zum Imbisswagen, um Folienkartoffeln und Cola für die Mädchen zu holen, während diese uns einen guten Platz direkt am Feuer frei hielten. Als wir in der Schlange warteten, trat Max von einem Fuß auf den anderen.
»Also, äh, du und Jenna, das ist … äh … nun ja, es ist toll.«
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Stimmt.«
»Ich meine, sie ist toll. Ähem, nicht dass ich sie gut kennen würde. Doch Beth spricht andauernd von ihr, und sie ist ganz sicher supernett, wenn Beth sie so mag, weil … äh …«
»Stimmt.« Dämlicher Esel.
Er wand sich unter meinem Blick. »Ähem, sie bedeutet Beth sehr viel.«
»Schön.«
Er holte tief Luft. »Tja, nicht dass es mich was anginge, aber… äh, Beth wäre sehr wütend, wenn ihr jemand wehtun würde.« Er richtete sich auf, war aber immer noch einen halben Kopf kleiner als ich. »Und ich wäre es auch.«
Ich starrte ihn von oben herab an. Er hielt meinem Blick stand, obwohl ich genau merkte, dass er am liebsten weggeschaut hätte. »Prima, willkommen im Klub.«
Er stieß erleichtert den Atem aus und lächelte. »Oh, gut. Hör mal, tut mir leid. Ich habe Beth versprochen, dass ich dich … nun … äh …«
»Dass du mich abchecken würdest?«
Er wollte einen Schritt zurücktreten, blieb aber stehen. »Ähem, so was in der Art. Äh, tut mir leid …«
Ich ließ ihn noch ein bisschen zappeln, dann lachte ich und gab ihm einen Schubs, aber nicht sehr fest. »Keine Sorge. Ich würde das auch tun, wenn sie die Freundin meiner Freundin wäre.«
»Wirklich?«, seufzte Max erleichtert.
Ich grinste ihn an. Dafür mochte ich ihn. Er war echt in Ordnung. »Ja. Hey, was wollen die beiden wohl auf ihren Kartoffeln drauf haben? Ich hab vergessen, zu fragen.«
»Bestell Thunfisch. Und Cola Light«, sagte Max und verdrehte die Augen. »Beth findet sich zu dick.«
»Weißt du, was du dagegen tun kannst? Wenn du das nächste Mal ein Foto von einem dieser Supermodels siehst, du weißt schon, die, die nur aus Haut und Knochen bestehen, dann schnaufst du, sagst ›Viel zu dünn‹ und guckst richtig schön angewidert! Und anschließend gehst du mit Beth auf Tuchfühlung.«
»Meinst du?« Er lächelte vorsichtig.
»Ich weiß es. Vertrau mir.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Alles klar, mache ich. Danke.«
Als wir in der Schlange ganz nach vorn gerückt waren, winkte ich Charlie zu. Er trottete zu uns herüber.
»Was willst du auf deiner Kartoffel haben?«
»Würstchen und Bohnen. Und eine Cola, bitte.«
Nachdem der Typ hinter der Theke alles hingestellt hatte, reichte ich Charlie das Essen.
»Amüsierst du dich?«
Er sah mich an, als wäre ich ein Außerirdischer. Vielleicht hielt er mich tatsächlich für einen – schließlich hatte er gesehen, wie ich seine Schwester geküsst hatte.
»Ja.«
War es immer so schwer, mit jüngeren Kindern zu sprechen? Ich blickte zu Max.
»Hat dir das Feuerwerk gefallen?«, wandte er sich an Charlie. Selbst ich wusste, dass das ein Fehler war. Er war zehn und nicht drei.
Charlie schnaubte. »Hab schon bessere gesehen.« Er drehte sich um und ging zurück zu seinem Freund.
Max schaute ihm verärgert hinterher. »Sollte er uns nicht irgendwie cool finden?«
»Er ist ein Satansbraten«, sagte Jenna, die plötzlich neben mir auftauchte und ihr Essen entgegennahm. »Und weil er Mädchen eklig findet, hält er euch für Dummköpfe.«
Ich konnte es ganz gut verkraften, dass ihr Satansbruder mich für einen Idioten hielt, denn sie selbst sah so aus, als ginge es ihr richtig gut. Die Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen war verschwunden, und als Beth hinter Charlies Rücken eine Grimasse schnitt, lachte sie.
Die Ergebnisse des DNA-Abgleichs würden bald vorliegen. Es war schon über eine Woche her. Dann würde ihr Vater sich nicht mehr im Arbeitszimmer verbarrikadieren, ihre Mutter würde keinen Stress mehr machen und Jenna konnte sich ganz auf mich konzentrieren. Ich musste über mich selbst lachen – ganz schön armselig, was? Aber es gefiel mir, ihre ganze Aufmerksamkeit nur für mich zu haben.