5_Jenna

Ich zog Raggs den Weg entlang, weg vom Kanal, und wir nahmen den Umweg durchs Dorf, sodass ich nicht mehr an dem Boot vorbeimusste. Der blöde Köter blieb immer wieder stehen, um mich anzuschauen, als würde er sich Sorgen machen, und ich versuchte, die Tränen zurückzudrängen, die mir über die Wangen liefen.

Auch vor dem Unfall wäre der Junge eine Nummer zu groß für mich gewesen. Ich schätzte, dass er ein paar Jahre älter war als ich und mindestens 1,80 Meter groß. Aber er sah nicht so schlaksig aus wie die Jungs, die zu schnell wuchsen. Seine Schultern waren breit, und seine Muskeln waren deutlich zu sehen – wahrscheinlich trainierte er regelmäßig. Sein honigfarbenes Haar war oben noch eine Spur heller, und auf seiner Nase hatte er ein bisschen Sonnenbrand – so als ob er viel Zeit draußen verbrachte. Er sah nicht so perfekt aus wie diese Jungs, die in irgendeiner Boygroup mitmachten, aber er war ohne Zweifel ziemlich attraktiv. Besonders mit nacktem Oberkörper.

Wenn mich der Unfall nicht nur hässlich gemacht, sondern mir auch meine Gefühle genommen hätte, wäre das Leben einfacher. Doch das Flattern in meinem Bauch war immer noch da, wenn ich einen Jungen wie diesen sah. Selbst wenn er mich anschaute, als wäre ich ein Monster.

Die Tränen liefen immer schneller und die Straße vor mir verschwamm. »Das ist alles deine Schuld, du nutzloser Köter. Ich habe dir gesagt, du sollst zurückkommen. Ich hasse dich!«

Raggs kam aus dem Brombeergebüsch hervor, in dem er herumgeschnüffelt hatte, und rannte auf mich zu. Er wedelte mit dem Schwanz.

»Komm schon. Wir gehen nach Hause.« Das Wochenende war gelaufen. Ich wollte nur noch nach Hause, unter meine Decke kriechen und mich dort verstecken. Für immer.

Im Garten kickte Charlie einen Fußball über den Rasen. »Willst du ins Tor?«, rief er mir zu, während er mit seinen spindeldürren Beinen den Ball vor sich her dribbelte.

»Nein!«

Er blieb stehen und starrte mir überrascht nach, als ich ins Haus eilte und Raggs einfach bei ihm ließ. »Jen, was ist denn los?«

Ich knallte die Hintertür zu und rannte nach oben. Ganz unten in meinem Schrank, hinten an der Rückwand, hatte ich einen in ein Handtuch gewickelten Schminkspiegel versteckt. Den einzigen Spiegel, den ich noch besaß. Ich kniete mich hin und holte ihn mit zitternden Händen hervor. Übelkeit stieg in mir hoch, als ich hineinschaute. Es war so furchtbar wie immer. Wie in einem Horrorfilm. Das Hässlichste, was ich im wahren Leben je gesehen habe. Kein Wunder, dass der Junge angewidert geguckt hat. Ich wette, er hätte kotzen können, als er mich sah. Ich könnte jedenfalls kotzen.

Am liebsten würde ich mit Lindsay tauschen. Besser tot als so auszusehen.

Das Ding, das seit dem Unfall in mir schlummerte, erwachte zum Leben. Es fraß mich mit knirschenden Zähnen von innen auf. Ich wollte den Spiegel durch den Raum schleudern. Wollte losschreien. Alles zerstören, was in meiner Nähe war. Die Vorhänge runterreißen. Das Fenster einschlagen. Die Bestie einfach rauslassen.

Aber brave Mädchen tun so was nicht, sie machen kein Theater und bereiten ihren Eltern keinen Kummer. Und ich war ein braves Mädchen, deshalb rollte ich mich auf dem Boden zusammen und heulte leise vor mich hin.

Als sie im Krankenhaus zum ersten Mal die Verbände abnahmen, sah mein Dad mich an und weinte. Ich hatte meinen Vater noch nie weinen sehen, doch jetzt saß er da und weinte, als ob etwas in ihm zerbrochen wäre. Mum versuchte, ihn dazu zu bringen aufzuhören, aber er konnte nicht, und eine Schwester kam und führte ihn sanft aus dem Zimmer. Danach wussten sie nicht, ob sie mir einen Spiegel geben sollten. Von Mum und Dad wurde erwartet, dass sie mich unterstützen, doch es war nicht gerade nach Plan verlaufen. Ich musste mich trotzdem ansehen. Schließlich konnte man es nicht ewig aufschieben.

»Denk daran, dass du noch einen großen Teil des Heilungsprozesses vor dir hast. Die Transplantate müssen erst richtig anwachsen, und es dauert eine Weile, bis die Haut blasser wird. Die Kompressionsmaske minimiert die Vernarbung, wenn du sie regelmäßig trägst. In einem Jahr sieht es schon ganz anders aus«, sagte die Schwester.

Mums Hände zitterten, als die Krankenschwester den Spiegel hob und ihn mir vors Gesicht hielt.

Ich sah hinein und das letzte Fünkchen Hoffnung erlosch.

Sie gaben mir eine Beruhigungsspritze und später kam die Psychologin. Ihr Gesicht waberte verschwommen vor mir. »Jenna, hast du verstanden, was die Ärzte über deine Verbrennungen gesagt haben?«

Ja, ich bin doch nicht blöd. Zweiter Grad in besonders schwerer Ausprägung. Die oberste Hautschicht komplett verbrannt. Das haben sie mit mir besprochen, als sie mir Haut für die Transplantate entfernten, und danach noch mal.

Es bedeutet, die Verbrennungen sind oberflächlich.

Und Schönheit ist auch oberflächlich.

 

Mum klopfte an die Tür. »Jenna, ich fahre zur Bücherei. Willst du mitkommen?«

Wollte ich nicht. Ich wollte überhaupt nie wieder das Haus verlassen.

Aber damit würde ich sowieso nicht durchkommen. Als ich die Kompressionsmaske nach sechs Monaten endlich abnehmen konnte, musste ich versprechen rauszugehen. Bis dahin waren meine Eltern geduldig und hatten mich nicht gedrängt, doch jetzt nutzten sie jede Gelegenheit, um mich vor die Tür zu kriegen. Wenn ich mich weigerte, würde das nur zu einer dieser endlosen Unterhaltungen führen, für die ich nicht die Kraft hatte.

Wir setzten uns in Mums roten Corsa, und sie fuhr vorsichtig in Richtung Stadt, statt der üblichen fünfzehn Minuten brauchte sie zwanzig. Sie dachte, Autofahren würde mir jetzt Angst machen, aber das stimmte nicht. Viel schlimmer konnte es schließlich nicht mehr werden, oder?

Als wir in der Bücherei waren, ließ sie mich in der Fantasy-Abteilung allein und ging zu den Krimi- und Thriller-Regalen. Ich nahm ein Buch, das mir gefiel, und setzte mich auf einen bequemen Stuhl, um es genauer anzusehen. Ich konnte es nicht leiden, erst zu Hause festzustellen, dass ein Buch nichts taugte. Also überflog ich immer das erste Kapitel, bevor ich mich entschied.

Am Schalter direkt neben mir hörte ich eine Stimme: »Ist der Kunstgewerbeladen zu?«

Unvermittelt blickte ich auf. Der Junge vom Kanal … er trug immer noch die Shorts, aber jetzt hatte er außerdem ein weißes T-Shirt an.

»Ja, die Inhaberin macht Mittagspause«, antwortete die Bibliothekarin. »Kann ich dir weiterhelfen?«

»Meine Mutter stellt Schmuck her. Ich wollte fragen, ob Sie sich vielleicht mal ein Muster ansehen möchten«, sagte er und zog einen Beutel aus der Tasche.

Ich überlegte, ob ich mich fortstehlen konnte oder ob meine Bewegung ihn auf mich aufmerksam machen würde.

»Darüber musst du mit Claire reden. Sie ist in zwanzig Minuten zurück, wenn du so lange warten möchtest. Du kannst dich in der Zwischenzeit gern umsehen.«

Hilfe! Jetzt musste ich unbedingt verschwinden. Ich stand so unauffällig wie möglich auf und schlich in den nächsten Gang. Dort kauerte ich mich dicht am Regal auf den Boden und ließ mir die Haare übers Gesicht fallen, als ob ich lesen würde.

Auf dem Teppichboden näherten sich gedämpfte Schritte, das leise Tappen von Turnschuhen. Und dann …

»Oh!« Als er um die Ecke bog, lief er direkt in mich rein. Das Buch flog mir aus der Hand und landete unter dem Regal.

»Tut mir leid!« Er hockte sich hin, um es wieder hervorzufischen. »Ich habe dich nicht gesehen. Bist du …« Er verstummte, und ich wartete darauf, dass er zusammenzuckte.

Er grinste mich an.

Wie bitte?

»Noch mal hallo!« Er gab mir das Buch zurück. »Schön, dass ich dich hier wiedertreffe … genau genommen bin ich ja sogar über dich gestolpert! Ich wollte dir schon heute Morgen sagen, dass … dein Hund … er ist nett. Total lieb, stimmt’s? Ich mag Hunde. Tut mir leid, dass ich vorhin so unhöflich war.«

Ich war zu geschockt, um mich zu bewegen oder irgendwas zu sagen. Und … er schaute mir voll ins Gesicht …

Er hatte nette Augen – sie waren braun, mit einem warmen, lächelnden Ausdruck.

»Du hast mich einfach überrascht, das war alles«, fuhr er fort. »Deine Narbe« – er berührte sein Gesicht – »hat mich überrascht. Ich wollte nicht unhöflich sein, ehrlich.«

Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Niemand erwähnte jemals die Narben. Die meisten sahen woanders hin oder drehten sich weg oder taten so, als ob sie sie überhaupt nicht sehen könnten. Keiner sprach mich direkt darauf an. Selbst meine Familie redete nicht darüber – außer in den demütigenden und qualvollen Momenten, wenn Mum fand, dass eine ernste Unterhaltung über meine Fortschritte angebracht war. Aber wie er es gerade getan hatte? So direkt? So sachlich?

Er kratzte sich am Hals. Sein Lächeln sah jetzt ein wenig gequält aus. »Was ich sagen wollte, ist, tut mir leid, wenn ich es vermasselt habe.«

Vermasselt? Oh ja, das hast du. Für ein paar Minuten in acht schrecklichen Monaten hatte ich mein Gesicht vergessen und mich einfach nur gefreut, mit Raggs draußen zu sein. Und dann hatte er mir das Gefühl gegeben, wie eine hässliche Missgeburt auszusehen. Stimmte ja, aber ich wollte nicht daran erinnert werden.

Ich zwinkerte heftig und öffnete mein Buch, in der Hoffnung, dass er verschwinden würde.

»Ist das Buch gut? Hast du schon mal was von dem Autor gelesen?«

Ich zuckte mit den Schultern, weil ich nicht in der Lage war, etwas zu sagen. Und wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich nicht gewusst, was. Abgesehen von Charlie war das der erste Junge, der seit dem Unfall mit mir redete. In der Schule ging ich ihnen aus dem Weg und selbst vor dem Unfall wäre ich diesem Typen gegenüber schüchtern gewesen. Von Nahem betrachtet war er noch süßer – der zog die Mädchen sicher an wie ein Magnet. Meine Haut juckte vor Nervosität, weil er mir so nah war und weil seine Augen auf meinem Gesicht ruhten.

»Ich habe ein paar von ihm gelesen. Sind nicht schlecht. Ein bisschen langatmig vielleicht.« Der Junge lachte. »Tja, bist du oft hier?«

Ah, jetzt hatte ich es kapiert. Darum redete er mit mir. Weil ich eine Witzfigur war. Eine einzige, verdammte Witzfigur. Sprich mit der Missgeburt und lach dich hinter ihrem Rücken über sie kaputt.

Ich sprang auf. »Hau ab!«

»Hey, was ist denn los? Ich war –«

»Hau ab!«

Die Leute drehten sich zu uns um, und ich musste heulen vor Scham, als sie mich anstarrten. Als er mich anstarrte.

Ich rannte zu Mum.

Sie eilte schon auf mich zu, als ich in den Gang stürzte. »Jenna, hast du da so geschrien? Was um Himmels willen ist denn los?«

»Ich will nach Hause! Jetzt

»Beruhige dich doch. Was ist passiert?«

»Jetzt sofort!«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Junge uns beobachtete, doch er verschwand, als Mum ihre Bücher in ein Regal stopfte und mich zum Ausgang brachte.

Als wir im Auto saßen, zögerte sie. »Bist du sicher, dass du nach Hause willst?«, fragte sie. »Es ist bloß … nun ja, dein Vater hat eines seiner Treffen.«

»Ach, deshalb wolltest du mich aus dem Haus haben. Hätte ich mir denken können.«

»Schatz, ich weiß, dass es dich aufregt und –«

»Ich will nach Hause!«

Sie zuckte zusammen und legte den Rückwärtsgang ein. Während der Heimfahrt starrte ich schweigend aus dem Fenster.

Dads Treffen. Seine Aktionsgruppe. Der wundeste aller wunden Punkte. Er hatte noch nicht einmal den Anstand besessen, es mir zu erzählen. Eines Morgens hatte Dad aus Versehen die Lokalzeitung aufgeschlagen auf dem Tisch liegen lassen. Ich wollte sie gerade zusammenfalten, als mir die Überschrift auf der Titelseite ins Auge sprang:

Bürger von Strenton startet Initiative gegen Bedrohung durch leichtsinnige Autofahrer.

Ich runzelte die Stirn und setzte mich hin, um den Artikel zu lesen. Mir wurde ganz heiß, und je länger ich las, desto stärker krampfte sich alles in mir zusammen.

Der ortsansässige Geschäftsmann Clive Reed stellte seine Initiative im Parlament vor, für die er den Parlamentsabgeordneten Trevor Davies aus Whitmere gewinnen konnte.

Nach einem Autounfall, bei dem seine 14-jährige Tochter entstellt und zwei Jugendliche getötet wurden, engagiert sich Clive Reed aktiv im Kampf gegen leichtsinniges Fahrverhalten auf unseren Straßen. Dass der 18-jährige Unfallfahrer Steven Carlisle lediglich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, löste einen Sturm der Entrüstung aus. Umso entschlossener bemüht sich Reed nun, dem Thema landesweit Aufmerksamkeit zu verschaffen. Carlisle fuhr unter Alkohol- und Drogeneinfluss. Er verließ als freier Mann den Gerichtssaal, weil einige Mitglieder des Whitmere Rugbyklubs zu seiner Verteidigung ausgesagt und ihm einen positiven Charakter bescheinigt hatten. Carlisle erhielt lediglich ein Fahrverbot. Mr Reeds Aktionsgruppe profitierte von der allgemeinen Erregung und konnte viele Anhänger gewinnen.

David Morris, dessen Tochter bei dem Unfall ums Leben kam, hat der Kampagne seine volle Unterstützung zugesichert. »Clive hat Großartiges geleistet«, sagte er. »Nachdem Charlotte getötet wurde, waren meine Frau und ich zu verzweifelt, um etwas Ähnliches auf die Beine zu stellen. Clive bringt die Leute dazu, hinzuhören und zu verstehen, dass wir etwas zum Schutz unserer Kinder tun müssen.«

Mr Reed äußerte gestern: »Dieses Urteil untergräbt unser Rechtssystem. Das einzig Gerechte wäre eine Gefängnisstrafe gewesen. Wir streben die Wiederaufnahme des Verfahrens an, fordern härtere Strafen und eine größere Polizeipräsenz auf unseren Straßen.« Mr Reeds Leid wurde deutlich, als er hinzufügte: »Ich will anderen Eltern ersparen, was wir durchmachen mussten.«

Als ich mit Lesen fertig war, zitterte ich am ganzen Körper. Und ich zitterte auch, als Dad abends nach Hause kam und ich ihn darauf ansprach. »Wann wolltest du es mir erzählen?«, fragte ich und knallte die Zeitung auf den Tisch.

Müde ließ er sich auf einen Stuhl fallen. »Wenn du bereit gewesen wärst.«

»›Entstellt‹ – du hast zugelassen, dass sie das abdrucken. Und da unten« – ich gab der Zeitung einen Stoß – »steht, dass ein Foto von mir in eure Broschüre soll. Du wolltest mein Foto benutzen. Ohne es mir zu sagen. Ohne mich zu fragen.« Ich brüllte. »Was zum Teufel gibt dir das Recht, das zu tun?«

»Das ist aus dem Zusammenhang gerissen«, verteidigte sich Dad. »Es war nur ein Vorschlag von Charlottes Vater. Er dachte, es wäre hilfreich. Deine Mutter meinte, es wäre der falsche Zeitpunkt, um mit dir darüber zu sprechen. Wir hätten es nicht ohne deine …«

»Genau so, wie du mir von der ganzen Aktion erzählt hast, was?«

»Jenna, verdammt noch mal, wir mussten doch irgendetwas tun. Der Junge hat dein Leben zerstört!«

Dad hatte das kaum gesagt, als er ein Gesicht machte, als könnte er sich die Zunge dafür abbeißen. Ich sprang auf und rannte raus. Er folgte mir die Treppe rauf und stellte seinen Fuß in meine Zimmertür, als ich versuchte, sie zuzuknallen.

»Jenna, ich wollte damit nicht sagen, dass dein Leben vorbei ist. Natürlich ist es das nicht, es liegt alles noch vor dir. Aber überleg doch mal, was du wegen ihm durchmachen musstest, die Schmerzen, die Operationen. Du hättest auch sterben können!«

»Und du hättest warten können, bis diese Scheißmaske abkommt.« Ich riss an dem Kunststoffding auf meinem Gesicht, doch er packte meine Hände, um mich daran zu hindern. »Ich muss sie tragen. Ich!«

Er hielt mich weiter fest. »Hör auf, du tust dir nur weh. Bald kommt sie ab. Dann wird alles gut und du gehst wieder raus und triffst deine Freunde.«

»Ja, klar, nur dass meine beste Freundin tot ist. Wird für sie auch alles gut, oder wie? Es wird nie wieder wie früher sein.« In dem Moment hasste ich Dad. Ich wusste, dass er mit Mum darüber sprach, wie Lindz sich verändert hatte, seit ihre Mutter ausgezogen war. Und ich sah, wie er die Stirn in Falten legte, wenn wir zusammen ausgingen. Er meinte, sie hätte einen schlechten Einfluss auf mich. Er konnte sie nicht so sehen, wie ich sie sah. Dass sie heller leuchtete als andere Menschen und dass ich so leuchtend sein wollte wie sie.

»Aber du lebst, Jenna. Gott sei Dank lebst du.«

»Ja, aber ich wünschte, es wäre nicht so!«

Dad ließ mich los und wich zurück. Mum kam die Treppe hochgerannt, schob ihn zu Seite, und er überließ es ihr, mit mir fertigzuwerden.

Ich vergaß nicht, was er gesagt hatte. Es gab keinen Weg, dem zu entkommen. Ich konnte nicht zu meinen Eltern laufen, damit sie alles in Ordnung brachten – wie früher, als wir klein waren und ich mir beim Spielen mit Charlie das Knie aufgeschürft hatte. Oder wenn ich bei den Mathehausaufgaben nicht weiterwusste. Das hier würde nie, niemals weggehen. Ich würde immer angestarrt werden wie der Mann am Marktstand. Mein ganzes Leben lang würde ich anders sein. Es gab kein Zurück. Nichts würde mich mehr normal machen.

 

Allzu schnell waren wir an unserer Auffahrt angekommen. Mum musste auf dem Rasen parken, weil dort so viele fremde Autos standen.

»Warum findet die Versammlung hier statt?«, murmelte ich leise. Einerseits wollte ich es wissen, andererseits aber auch nicht mit ihr sprechen.

Sie zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Als sie sich das letzte Mal in der Stadthalle getroffen haben, hat jemand die Autos beschädigt. Den Lack zerkratzt und die Luft aus den Reifen gelassen.«

Ich wusste, wer das getan hatte. Wir alle wussten es.

»Sie sind in der Küche«, sagte Mum. »Geh gleich die Treppe rauf, wenn du sie nicht sehen willst. Ich bringe dir einen Kakao.«

Charlie übte in seinem Zimmer Trompete, also legte ich mich aufs Bett und drehte meinen iPod voll auf, damit ich ihn nicht mehr hören musste. Manchmal hatte ich Angst vor mir selbst. Manchmal konnte ich es nicht mehr unterdrücken und wieder Mum und Dads »normale« Jenna sein, nicht mal, wenn ich zu Hause – und damit in Sicherheit – war. War denn überhaupt noch was von diesem normalen Mädchen übrig? Vielleicht hatte das Ding in mir es aufgefressen. Vielleicht spielte ich dieses Mädchen nur noch.

Vor dem Unfall träumte ich immer davon, einen Jungen kennenzulernen, der kein Interesse an Lindsay oder einem Mädchen wie ihr hatte. Er sollte nur mich wollen. Ein verrückter Gedanke, denn alle Jungs flogen auf Lindsay. Sie konnte jeden um den Finger wickeln. Ich beobachtete, wie sie es machte – hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Eifersucht, so würde ich niemals sein. Als sie ein Auge auf den reichen und unerreichbaren Steven Carlisle geworfen hatte, kriegte sie sogar den rum. Aber der Junge aus meinen Träumen interessierte sich nur für mich. Wir würden ganz normale Sachen machen: ins Kino gehen, mit Freunden bowlen, Händchen halten und uns irgendwann auch küssen. Eben Sachen, für die ich bereit war. Sachen, mit denen Mum und Dad einverstanden wären. Sachen, die Lindz für kindisch halten würde.

Ein paar Mal habe ich nach dem Unfall noch davon geträumt. Dass jemand über die Narben hinwegsehen, sie gar nicht beachten würde. Es waren die sinnlosen Träume eines dummen kleinen Mädchens.

 

Dad setzte sich auf mein Bett und ich zuckte zusammen. Wegen der Kopfhörer hatte ich nicht gehört, dass er reingekommen war.

»Es gibt Kaffee und Kuchen. Komm runter und sag Hallo.«

Ich stellte den iPod aus. »Warum? Damit du der Menge dein Monster vorführen kannst?«

In seinen Augen spiegelten sich Schmerz und Enttäuschung. »Was ist bloß los mit dir? Wo sind deine Manieren? Den Leuten da unten liegt dein Wohlergehen am Herzen. Die meisten kennst du, seit du ein kleines Mädchen warst. Sie tun das für dich.«

»Wenn ihnen mein Wohlergehen so wichtig ist, sollten sie mich am besten in Ruhe lassen.« Ich wollte meinen iPod wieder anmachen, aber Dad riss ihn mir aus der Hand.

»Sei nicht so egoistisch und unhöflich. Ich will, dass du in fünf Minuten unten bist.«

Also ging ich fünf Minuten später runter und spielte Dads liebes, bedauernswertes Töchterchen. Ich lächelte den Leuten zu und sie lächelten mein linkes Ohr an. Mrs Crombie vom Dorfladen schnitt mir ein riesiges Stück Schokoladenkuchen ab und drängte mich, es aufzuessen. Charlottes Dad erkundigte sich interessiert danach, wie es in der Schule lief, was ich tapfer fand, wenn man es recht bedachte. Mrs Atkins aus Belle Vue Cottage erzählte mir von ihren Katzenbabys.

»Wird euch schlecht, wenn ihr mich seht?«, hätte ich gern gefragt, doch Mum und Dad hätten mir das nie verziehen. Also spielte ich die alte Jenna, bis ich zurück in mein Zimmer flüchten konnte.

Später, als alle weg waren, schlich ich runter in die Küche, um mir ein Glas Milch zu holen. Mum und Dad saßen im Wohnzimmer und flüsterten miteinander. Ich blieb an der halb offenen Tür stehen und lauschte.

»Ich mache mir Sorgen, Tanya. Sie kommt kaum mehr aus ihrem Zimmer. Sie redet nicht mit anderen Leuten, es sei denn, wir zwingen sie. Sie trifft sich nie mit ihren Freunden. Du hast gesagt, es würde besser, wenn die Maske erst mal weg wäre.«

»Das ist doch erst ein paar Wochen her. Gib ihr Zeit, sich umzustellen. Sie geht wieder in die Schule, das ist doch ein Anfang.«

»Aber es kommt mir so vor, als ob alles schlimmer würde, nicht besser. Und was war da heute in der Bücherei los?«

»Keine Ahnung. Sie wollte es mir nicht sagen.«

»Ich seh doch, dass du dir auch Sorgen machst. Sie kapselt sich ab. Ich will nicht, dass sie so wird wie Lindsays Vater. Seit sie tot ist, geht er so gut wie nie unter Menschen.«

Ich ertrug es nicht, noch länger zuzuhören. Ich schlich wieder die Treppe rauf – die Milch hatte ich völlig vergessen – und kehrte zurück in mein Zimmer, wo ich die Tür vor allen verschließen konnte.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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