24_Ryan
Später lag ich auf meinem Bett und dachte darüber nach, was an diesem Nachmittag bloß in mich gefahren war. Ich hätte mir einen großen gelben Volltrottel-Aufkleber besorgen und mitten auf meine Stirn kleben müssen. Tolle Idee – »lass uns küssen üben«. Ist doch keine große Sache. Nur um sicher zu sein, dass sie Bescheid wusste, wenn dieser Idiot, mit dem sie sich verabredet hatte, es bei ihr probieren würde.
Ich ließ mir alles noch mal durch den Kopf gehen und versuchte herauszufinden, was mich dazu gebracht hatte. Zunächst mal war ich schockiert, als sie es mir erzählte. Sie war meine Freundin, nicht seine. Und dann war er vielleicht genau so ein blöder Wichser wie der Typ aus dem Rugbyklub. Was sie von ihm erzählte, klang aber nicht so. Und außerdem war das doch eine absolut vernünftige und echt geniale Idee. Ich wollte ein guter Freund sein. Und dass ich kurz dachte, er soll nicht das kriegen, was ich mir verkniffen habe, spielte natürlich gar keine Rolle. Ich wollte einfach nur helfen.
Doch dann waren die Dinge ein bisschen außer Kontrolle geraten.
Zuerst lief’s prima. Ich konzentrierte mich darauf, sie nicht zu sehr zu drängen, damit sie sich daran gewöhnen konnte und keine Angst mehr hatte. Ich war ein bisschen überrascht, weil es mir so gut gefiel, aber das war in Ordnung. Bis sie langsam dahinterkam. Bis ich merkte, dass es ihr Spaß machte. Das hatte eine seltsame Wirkung auf mich, weil … Ich durfte nicht auf diese Weise an sie denken. Das ging zu weit.
Dann wollte ich nicht mehr aufhören. Normalerweise brauchte ich mich nicht zurückhalten, bei Jenna schon. Und je länger ich sie küsste, desto schwieriger wurde es.
Ich ging weiter als geplant. Nicht zu weit, aber ich hatte nicht vor, mich so reinzusteigern. Und dann fing sie auch noch an zu zittern und sagte meinen Namen, als ich ihr Gesicht küsste – als ob sie gleich weinen müsste. Da hab ich irgendwie für ein paar Minuten den Kopf verloren. So war es mit all den anderen Mädchen, die ich geküsst hatte, nie gewesen. Ich konnte nicht genau sagen, worin der Unterschied lag, aber es gab einen.
Wieder und wieder rammte ich meinen Kopf in das Kissen. Sie musste mich jetzt entweder für einen totalen Mistkerl oder für einen Spinner halten. Man rannte doch nicht herum und bot sich an, seine Freunde zu küssen, nur um es ihnen zu zeigen. Und wenn man es schon tat, sollte einem dabei wenigstens keiner abgehen. Wenn sie morgen diesen Typen küsste, würde ich ihm zu gern jeden Fingernagel einzeln ausreißen. Warum? Weil sie meine Freundin war und ich nicht wollte, dass irgendein anderer Kerl sie begrapschte? Genau, und das war eine ganz normale Reaktion.
Ich rollte mich auf den Rücken und lag eine Weile still da. Mum war in eine Art Putzwahn geraten und ich hörte durch die Wand das Klappern und Krachen von Sachen. Aber ich war nicht in der Stimmung, mich mit ihr auseinanderzusetzen – ich hatte selbst genug Probleme.
Jenna schickte mir eine SMS aus der Bowlinghalle. Sie schrieb, sie würde um sieben wieder zu Hause sein, also schrieb ich zurück, sie solle mich dann im Stall treffen.
Ich sah auf die Uhr. Fünf vor sieben. Ich wartete schon seit Stunden. Gleich wäre sie ganz offiziell zu spät. Mein Bein federte gegen die Kante des Strohballens, auf dem ich saß. Auf und ab.
Die Minuten verstrichen.
Wieder sah ich auf die Uhr.
Punkt sieben und keine Spur von ihr.
Mein Bein federte schneller.
Eine Minute nach sieben tauchte der Strahl einer Taschenlampe am anderen Ende der Koppel auf.
»Du bist zu spät«, murmelte ich, als sie in den Stall kam. Ich machte ihr auf dem Heuballen Platz.
»Wir waren noch Nachos essen.«
»War’s schön?«
Sie lächelte. »Ja.«
Ich wartete. Und wartete.
»Und weiter?«
»Meine Güte, hast du schlechte Laune! Und nichts weiter. Wir waren bowlen. Wir haben Nachos gegessen. Das war’s.«
»Hat er versucht –«
»Ryan, kann ja sein, dass du dich auf jedes Mädchen stürzt, sobald es zur Tür reinkommt, aber das machen nicht alle Jungen.«
Absurderweise war ich sauer auf den Kerl, denn vielleicht war sie enttäuscht, dass er es nicht versucht hatte. »Ich stürze mich auf niemanden, der das nicht will.«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid«, sagte sie, und ich sah ihr an, dass sie es auch so meinte. »Doch manche Leute wollen eben einfach nur Freunde sein, oder sie sind schüchtern, oder –«
»Oder sie sind komisch«, versuchte ich zu ergänzen. »Ist überhaupt was passiert?«
»Er hat mir eine Cola gekauft.«
»Oh, echt raffiniert!«
Sie warf mir einen bösen Blick zu. »Ich fand es nett. Und wenn ich mit Bowlen an der Reihe war, hat er mir meinen Platz frei gehalten.«
»Er ist ein richtiger Womanizer, oder?« Jetzt war ich wütend auf ihn, weil er sich doch für sie interessierte, und darüber war ich auch sauer.
»Willst du weiter so unausstehlich sein?«
»Nein.« Ich seufzte und versuchte, so auszusehen, als ob ich nicht länger gehässig sein wollte. »Was ist noch passiert?«
»Ich rede nicht mehr darüber.«
»Wolltest du, dass er dich küsst?«
»Nein. Jetzt hör endlich auf. Es tut mir leid, dass du gestern nur deine Zeit verschwendet hast.«
Habe ich nicht. »Keine Sorge. Das wird sich schon noch auszahlen.« Es hörte sich so furchtbar an, dass ich mich dafür ohrfeigen wollte. »Tut mir leid, ich bin nicht gut drauf. War ein blöder Tag.« Ich wollte zwar nicht darüber sprechen, aber ich musste dringend das Thema wechseln.
Es funktionierte. Der Wunsch, mich zu schlagen, verschwand aus ihrem Gesicht. »Oh? Wieso?« Sie rutschte ein Stück näher zu mir.
Ich schnappte mir einen Strohhalm und wünschte, ich hätte den Mund gehalten. »Mum geht es mal wieder schlecht.«
»Was ist denn mit ihr?«
»Sie kann nicht schlafen, putzt wie verrückt, ist gereizt und gemein, und dann … nun ja, das Übliche. Jetzt wird es immer schlimmer, bis sie irgendwann den Tiefpunkt erreicht. Dann kommt sie wochenlang nicht aus dem Bett.« Jenna nahm meine Hand. Es gefiel mir. Ich mochte ihre Nähe und fühlte mich wie ein trauriger kleiner Wicht, als ich mir das eingestand. Sie hatte so weiche Hände, so zarte Haut. »Diesmal weiß ich nicht, was ich machen soll. Weil ich bei der Arbeit bin, kann ich sie nicht davon abhalten, irgendwas Dummes zu tun. Ich hätte vorher daran denken müssen, habe ich aber nicht.«
»Vielleicht kann ich dir helfen? Ich komme früher aus der Schule als du von der Werft. Ich könnte bei ihr bleiben, bis du zurück bist.«
Als sie das sagte, hätte ich mein Gesicht am liebsten an ihrem Hals vergraben. Und sie lange ganz fest umarmt. »Nein, sie kann wirklich sehr gemein sein, wenn sie krank ist. Ich bin daran gewöhnt, aber du nicht.«
Sie kniete sich auf den Heuballen, sodass sie größer war als ich, und legte beide Arme um mich. Ich schloss die Augen und lehnte mich gegen ihre Schulter.
»Wahrscheinlich kann ich nicht oft raus, solange sie so ist. Wenn ich von der Arbeit komme, muss ich bei ihr bleiben.«
»Schick mir doch einfach eine SMS, wenn sie in der Verfassung für Besuch ist. Dann komme ich vorbei.«
Ich schlang meine Arme um ihre Taille, damit sie noch ein bisschen länger so mit mir sitzen blieb. Wir sahen Raggs zu, der sich im Stroh herumwälzte und sich kratzte. Ich wünschte, sie würde mich küssen, damit ich herausfinden konnte, ob das gestern ein Zufall war. Aber sie küsste mich nicht.
Als ich zurück zum Boot kam, war Mum nicht da. Ich war es leid, herumzusitzen und darauf zu warten, dass sie zurückkam, und ich hatte Kopfschmerzen, deshalb ging ich ins Bett. Sie war zwar schon länger nicht mehr abgehauen, aber es war auch nicht das erste Mal. Ich dachte, die Dinge hätten sich geändert. Anscheinend nicht.
Wieder wanderten meine Gedanken zu Jenna. Vielleicht wollte ich sie nur, weil ich sie nicht haben konnte. So war es doch immer – man wollte manche Dinge umso mehr, weil sie tabu waren. Jenna tat genau das, was sie tun sollte: Sie ging mit einem Jungen in ihrem Alter aus, der wahrscheinlich genauso unerfahren war wie sie. Den ihre Eltern gut finden konnten und der in sechs Monaten auch noch da sein würde.
Verdammte Scheiße … Ich wollte nicht schon wieder weiterziehen. Mir gefiel es hier: der Job, mit ihr zusammen sein. Ich konnte mein Lächeln nicht unterdrücken – ich mochte es, wie sie mich ansah: als wäre ich clever und wüsste Sachen, von denen sie keine Ahnung hatte. Als hätte ich eine Antwort auf alles und könnte die Dinge ins Lot bringen. Ich versuchte, dieses Gefühl abzustellen, weil es ja doch zu nichts führte, aber es kam immer wieder zurück, sobald ich diesen Blick in ihrem Gesicht sah.
Ich wünschte, sie wäre jetzt bei mir. Ich wünschte, sie wäre älter. Ich wünschte, ich müsste nie wieder weg. Was, wenn wir weiterzogen und sie wieder all diese Komplexe wegen ihrer Narben bekam? Vielleicht machte es mir einfach weniger aus, weil ich sie nie ohne gekannt hatte. Sie war eine Freundin und ich fand sie nicht hässlich.
Mädchen machten sich immer zu viele Gedanken über ihr Aussehen. Die meisten von ihnen waren hübsch. Doch wenn man ihnen die Kleider auszog, fingen sie an zu jammern, wie fett sie wären und so Zeug. Das machte mich total verrückt, ich wäre doch nicht mit ihnen zusammen, wenn sie mir nicht gefielen. Okay, Sadie trug Push-up-BHs, dafür waren andere Teile ihres Körpers echt toll – ich gebe zu, dass ich bei ihr nicht auf den Charakter geachtet hatte. Auch Jennas Brüste waren nicht gerade riesig, aber kleine waren doch genauso schön. In diesen Reithosen sah ihr Hintern echt süß aus, und sie hatte Haare, in denen man sein Gesicht vergraben und die man die ganze Zeit anfassen wollte.
Ich musste aufhören, so an sie zu denken. Wenn Cole hier wäre, würde er mir helfen, wieder einen klaren Kopf zu kriegen.
Vielleicht war es ganz gut, wenn ich Jenna eine Weile seltener sehen würde. Es fühlte sich aber nicht gut an. Innen drin war ich leer, und alles schmerzte – vor allem bei dem Gedanken, dass sie mit diesem Typ rummachen könnte, während ich mit Mum beschäftigt war.
Wie aufs Stichwort ging krachend die Tür auf. Mum lachte. Eine andere Stimme ebenfalls, eine männliche. Ich hörte sie etwas sagen und dann seine Antwort. Er war betrunken. Sie nicht. Schlimmer. Sie war high. Davon, was in ihrem Kopf abging. Sie stolperten in ihr Schlafzimmer. Ich legte mir das Kissen über den Kopf, um ihre Geräusche nicht hören zu müssen. In diesem Zustand war sie nie leise.