39_Jenna
Während sie durch das Fenster beobachtete, wie die Leute an den Ständen zusammenpackten, zerkrümelte Karen kleine Kuchenstücke zwischen ihren nervösen Fingern. Ryans Hand hörte langsam auf zu zittern.
»Kommst du noch ein bisschen mit zu uns?«, fragte er leise.
Ich holte mein Handy raus und rief Mum an. »Hallo, ich bin’s«, sagte ich, und meine Stimme klang zu fröhlich für das Schweigen am anderen Ende. »Ich komme ein bisschen später. Ich gehe noch mit zu Ryan. Ja, er bringt mich dann nach Hause. Mach dir keine Sorgen.«
»Bleib zum Abendessen«, murmelte er.
»Ich esse bei ihm zu Abend. Ja, ich hab dich auch lieb.«
Ich klappte das Handy zu.
»Hast du genug gesehen?«, schrie Karen das Fenster an.
Ryans Hand verkrampfte sich wieder. Der Mann draußen vor dem Café schaute weg und eilte davon.
Karen sank in sich zusammen und betrachtete das Glitzern der Straßenlaternen, die entlang des Gehsteigs standen. »Es wird Winter«, sagte sie. »Die Sonnenwende steht kurz bevor, und die Welt macht sich zum Winterschlaf bereit – wie ein schlummernder Drache tief unten im Berg.«
Ich blickte zu Ryan.
»Es ist eine Legende«, sagte er matt und starrte auf seinen Muffin.
»Aber es ist doch bald Weihnachten, Karen. Ich mag Weihnachten, Sie nicht?«
Mit dem Zeigefinger drückte sie die Krümel um den Teller platt. »Als ich klein war, hatten wir immer den größten Weihnachtsbaum im ganzen Dorf. Meine Schwestern und ich saßen in der Diele und schauten in den dunklen Garten hinaus, wo die bunten Lichter brannten. Für mich gab es nichts Schöneres. Es war wie Magie. Am letzten Sonntag vor Weihnachten ging der Kirchenchor von Haus zu Haus. Als Letztes kamen sie zu uns und sangen Weihnachtslieder vor unserem Baum. Meine Mutter brachte ihnen Glühwein und Lebkuchen nach draußen. Wir standen dicht beisammen, umarmten uns und hörten ihnen zu. Ein Quintett. Die perfekte Familie.«
Ryan zog seine Hand weg und rieb sich mit langsamen und müden Bewegungen die Stirn. Ich schaute vom einen zum anderen.
»Besucht ihr sie denn an Weihnachten, ich meine, Ihre Eltern?« Ich versuchte, fröhlich zu klingen, doch eigentlich hatte ich gehofft, dass Ryan über Weihnachten hier sein würde.
Sie lachte klirrend rau. »Wir waren keine perfekte Familie.«
»Ich habe sie noch nie gesehen«, sagte Ryan und stand auf. »Wir sollten jetzt gehen, damit wir den nächsten Bus kriegen.«
Als wir wieder auf dem Boot waren, bestand Karen darauf, uns ein richtiges Essen zu kochen. Anschließend räumte Ryan die Teller ab, dann nahm er meine Hand und zog mich in sein Zimmer. Karen beachtete uns gar nicht. Sie saß mit geschlossenen Augen da, hielt einen Kristall in der Hand und sang vor sich hin.
»Es tut mir leid«, sagte er, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Wofür entschuldigst du dich?«
»Für alles. Für sie. Dafür, dass ich auf dem Markt so feige war. Dafür, dass du das alles tun musstest. Es wäre meine Aufgabe gewesen.«
»Aber du hast es schon oft getan, oder?«
Sein Atem ging ruckartig und schwer und übertrug sich von seiner Brust auf meine. »Ja.«
»Also hattest du diesmal einfach Pause.«
Er zog mein Gesicht zu sich, und als er mich küsste, sah ich, dass Wut in ihm aufflackerte. Er war aber nicht auf mich wütend. Er führte mich rückwärts aufs Bett zu und presste seinen Mund weiter fest auf meinen. Ich schlang die Arme um seinen Hals.
Er legte sich halb auf mich und seine Hand schlüpfte unter mein Top. Eine Weile kreiste sie an meiner Seite, dann wanderte sie weiter. Sie bedeckte meine Brust und die Berührung ließ mich nach Luft schnappen.
Er zog seine Hand zurück und hielt inne. »Tut mir leid.«
»Nein, alles ist gut. Wirklich.«
»Sicher?«
»Ja.«
Die Wut war aus seinem Blick verschwunden, und etwas anderes lag jetzt darin – ich konnte es nicht genau deuten, doch mir wurde davon ganz flau im Magen.
Wieder küsste er mich und zum zweiten Mal fühlte ich seine Hand auf meiner Brust. Er streichelte sie und schickte süße Schauer durch meinen Körper. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ließ meine Hände unter sein T-Shirt gleiten, um seinen Rücken zu berühren. Vor lauter Courage blieb mir die Luft weg. Und auch wegen der Art, wie er sich mir nun entgegenschob.
Wenn er gewusst hätte, wie mutig ich mir deswegen vorkam, hätte er mich bestimmt für bescheuert gehalten.
Seine Lippen wanderten meinen Hals hinab und er ließ seine Hand ruhen. Er drückte sein Gesicht fest gegen mich, sodass ich ihn kaum verstehen konnte. »Ich liebe dich.«
Ich erstarrte. Ich hörte sein Herz schlagen. Und meins setzte aus – eben war die Welt noch die alte und jetzt würde sich alles verändern.
Ich atmete wieder.
Er nahm seine Hand weg und legte sie auf meine Taille, Haut an Haut. »Schon in Ordnung«, murmelte er. »Du musst das jetzt nicht auch sagen.«
»Doch, tue ich aber. Weil es wahr ist.« Ich legte meinen Mund an sein Ohr und flüsterte es hinein. Er streckte sich aus und zog mein Gesicht an seine Schulter – ein bisschen zu fest, als ob er nicht abwarten konnte, dass mein Kopf dort lag. Als ob er ihn nie wieder loslassen würde.
Er hielt mich fest.
Langsam, so langsam, wie eine Feder zu Boden sinkt, fingen die Sekunden wieder an zu verrinnen.
Er atmete.
Ich atmete.
Ryan stieß ein Lachen aus und lockerte seinen Griff. »Ich hatte eine Scheißangst davor, dir das zu sagen.«
Ich wand meinen Arm los, sodass ich ihn umarmen konnte. »Hast du es schon mal jemandem gesagt? Einem Mädchen, meine ich.«
»Nein«, sagte er halb verächtlich, halb beschämt. »Du?«
Ich rollte ein Stück von ihm weg, damit ich ihm ins Gesicht sehen konnte. »Was glaubst du denn?«
Er sah mich triumphierend an. Wenn man für einen selbstzufriedenen Gesichtsausdruck olympisches Gold gewinnen könnte, hätte er sich die Medaille jetzt wirklich verdient.
»Musst du das tun?«
»Was denn?«
»Damit so angeben.«
»Ja.«
Ich musste lachen.
Er brachte mich zum Schweigen, indem er mich küsste.
Als er innehielt, schaffte ich es, »Warum?« zu fragen.
»Soll ich alle deine tollen Eigenschaften aufzählen?«
Ich öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, aber er tippte mir unters Kinn und schloss ihn wieder. »Es ist einfach so.« Mit dem Daumen streichelte er über die Narben auf meiner Wange. »Alles an dir.«
Beth hatte mir erzählt, Max würde ihr sagen, wie schön sie sei. Er mailte ihr Liebeslieder, die ihn an sie erinnerten. Um keinen Preis hätte ich das gegen Ryans Einsilbigkeit eingetauscht.
Ich stöhnte und stupste ihn mit dem Kopf an. »Dann muss ich dich wohl bald mit nach Hause nehmen und meinem Vater vorstellen.«
»Um Himmels willen, Frau, ich habe nicht gefragt ob du mich heiraten willst!«
Ich schnaubte. »Wieso glaubst du, ich würde Ja sagen?«
Er kitzelte mich zwischen den Rippen. »Du bist verrückt nach mir.«
Ich setzte mich auf, versuchte, die Stirn zu runzeln und empört zu gucken, während er mich auslachte. »Hast du dich vielleicht mit irgendeiner Krankheit angesteckt, die dich so dermaßen eingebildet macht?«
»Du siehst wirklich süß aus, wenn du sauer bist, weißt du das?«
Ich unternahm einen armseligen Versuch, ihn zu hauen, dann gab ich auf und kuschelte mich wieder neben ihn. »Dad wird trotzdem ausflippen.«
»Ich schätze, er wird mich mit der Forke aufspießen, wenn er es rausfindet.«
»Wäre möglich. Vielleicht schrumpft dein Ego dann ein bisschen, das wäre gar nicht schlecht.«
»Du solltest jetzt eigentlich ›Nein, ich werde dich beschützen!‹ sagen und solche Sachen.«
»Bist du verrückt? Er zahlt doch mein Taschengeld.« Ich zwirbelte die Enden der Lederschnur, die Ryan um die Taille trug, zwischen meinen Fingern. »Aber jetzt mal im Ernst, ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich habe Dad noch nie so fertig gesehen. Er schläft nicht mehr und sieht furchtbar aus.«
»Der DNA-Abgleich wird bald da sein und dann ist er aus dem Schneider. Weißt du, was ich glaube, warum sie den Täter noch nicht gefunden haben? Weil es jeder sein könnte. Dieser Mistkerl hatte eine verdammt große Klappe. Vielleicht ist er mit jemandem aneinandergeraten, der noch viel härter drauf war als er selbst.«
»Der ihn gleich umbringt? Und dann so …«
Ryan umarmte mich fester. »Psychos gibt es überall. An einem Ort wie diesem erwartet man sie nur nicht.« Ruckartig hob er den Kopf und sah auf die Uhr. »Mist! Weißt du, wie spät es ist? Ich bring dich jetzt besser nach Hause. Ich will nicht, dass deine Mum sauer auf mich ist. Sie ist alles, was noch zwischen mir und der Forke steht.«
»Gleich. Ich möchte dich noch was fragen.«
»Die Antwort lautet Ja.«
»Was? Du kennst die Frage doch gar nicht.«
»Doch. Du willst wissen, ob ich gut im Bett bin.«
Ich dachte daran, ihn mit dem Kissen zu ersticken, doch es wurde spät, und ich musste nach Hause. »Wird es mit deiner Mum bald wieder besser? Und mit dir?«
Sein Grinsen verschwand. »Ja. Ich habe dir ja gesagt, dass sie nicht gefährlich ist. Sie benimmt sich nur manchmal ein bisschen verrückt. Meist kommt sie schnell wieder runter. Sehr schnell. Ihre Tiefs sind schlimmer als ihre Hochs und sie dauern auch länger.«
»Was passiert dann?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sie … macht nichts mehr. Überhaupt nichts mehr. An einigen Tagen steht sie nicht mal auf, außer ich bringe sie dazu. Sie liegt im Bett und starrt an die Wand. Und weint. Und dann starrt sie wieder.«
»Und wie lange dauert das?«
»Das ist unterschiedlich. Meistens ist es ein paar Wochen lang richtig schlimm. Einmal hat es auch ein paar Monate gedauert.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war blöd, aber ich streichelte seinen Arm, als ob das helfen könnte. Und er wuschelte mir durch die Haare, als ob es wirklich half.
Der Spaziergang nach Hause war zu schnell vorbei. Ich wollte mich noch nicht von ihm trennen. Er gab mir einen letzten langen Kuss und murmelte unbeholfen »Ich meine es wirklich so« in mein Ohr. Dann lief er die Straße runter.
Als ich mich zu Mum aufs Sofa setzte, hob sie eine Augenbraue und blickte bedeutungsvoll auf die Uhr.
»Wo ist Dad?«
»Ich habe ihn gebeten, mit Charlie und seinen Freunden zum Bowling zu gehen. Er musste mal raus und was ganz Normales machen. Und mit einem Haufen zehnjähriger Jungen im Schlepptau kann man nicht ins Grübeln kommen.«
»Oh, schön. Gute Idee.«
»Es war wirklich eine gute Idee, besonders, wenn man bedenkt, wie spät du nach Hause gekommen bist.«
»Ich habe mir überlegt, dass ich Dad Ryan bald vorstellen sollte, aber ich will ihn nicht noch mehr stressen.«
Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht wäre das sogar ganz gut. Dann kann er mal über was anderes nachdenken. Aber bitte warne den armen Jungen diesmal vor. Ich dachte schon, ich müsste ihn wiederbeleben, als du ihn mit mir konfrontiert hast.«
»Wenn ich es ihm vorher gesagt hätte, wäre er bloß nervös gewesen.«
»Warum macht es ihn nervös, uns kennenzulernen?«
»Das Hausboot, Mum. Die Leute haben Vorurteile.«
»Ja, wirklich? Ich fand ihn sehr höflich. Und ziemlich schüchtern.«
»Mum, so schüchtern ist er auch wieder nicht.«
Ich versuchte, ein Kichern zu unterdrücken, und sie beobachtete mich scharf. Je mehr ich es unterdrückte, desto ernster blickte sie. »Jenna, müssen wir uns unterhalten?«
»Nein, Mum, müssen wir nicht!«
Eltern! Warum glaubten sie eigentlich, dass Teenager nichts als Sex im Kopf hatten? Wahrscheinlich war das Fernsehen schuld.