19_Jenna

Licht sickerte durch mein Zimmerfenster, ich drehte mich um und schlang die Arme um mein Kissen. Sonntagmorgen, ich musste nicht aufstehen.

Beim Anblick der schwarzen Jacke aus Segeltuch, die über der Stuhllehne vorm Kosmetiktisch hing, lächelte ich. Ich dachte daran, warum sie dort hing. Ein guter Grund aufzustehen – ich musste sie zurückgeben. Aber ich blieb noch ein bisschen liegen und ließ die Ereignisse des letzten Abends an mir vorüberziehen: Ryan, der mein Gesicht mit seinem Ärmel trocken reibt … wie er Ed zu Boden schlägt … sein Arm, den er um mich gelegt hat … sein Grinsen … sein Hintern beim Fahrradfahren – wirklich knackig genug, um mir die Sprache zu verschlagen.

Ich sprang aus dem Bett.

Als ich nach unten kam, hatte Mum schon Frühstück gemacht, und wir setzten uns an den Küchentisch.

»Bei Toby zu Hause gibt’s Nougatcreme«, maulte Charlie und schmierte Honig auf seinen Toast.

Dad schlug eine Seite der Times um und versuchte, sie so zu falten, dass sie nicht über dem Tisch hing. »Toby ist ein echter Glückspilz!«

Charlie gab dem Honigglas einen heftigen Schubs, sodass es quer über den Tisch auf mich zu schlitterte.

Mum stöhnte. »Charlie, bitte reich es ihr vernünftig rüber.«

»Was denn? Sie hat es nicht fallen lassen, oder?«

Mum ging nicht weiter darauf ein und Charlie verschlang seinen Toast.

»Kann ich jetzt an die Playstation?«, fragte er und rutschte schon von seinem Stuhl. Sonntags durfte er immer zwei volle Stunden Playstation spielen. Mum nickte und schien nicht zu merken, dass er noch eine halbe Scheibe Toast in der Hand hatte.

»Du musst aber nachher Trompete üben, vergiss das nicht!«, rief sie ihm hinterher, als wir hörten, wie seine Tür zuknallte.

Ich trank in kleinen Schlucken Kaffee und aß einen Toast. Dabei blickte ich durchs Küchenfenster auf den Ahorn neben der Hecke, dessen Blätter sich rot färbten. War Ryan schon wach oder schlief er noch? Es war sein freier Tag. Vielleicht war er schon seit Stunden auf, um möglichst viel davon zu haben. Oder verkroch er sich unter seiner Bettdecke und vertrödelte den Morgen, weil er es sich heute erlauben konnte?

Das Schweigen am Tisch machte mich irgendwie stutzig. Dad hatte die Zeitung weggelegt, er und Mum tauschten bedeutungsvolle Blicke.

»War es schön gestern Abend?« Mums gezwungene Fröhlichkeit ließ mich sofort auf der Hut sein.

»Ja, es war toll.«

»Hast du neue Leute kennengelernt?«

»Ein paar. Beths neuer Freund war da.«

Dads Augenbrauen schossen nach oben. »Beth hat einen Freund?«

»Ja, Dad. Beth hat einen Freund. Wir sind beide vierzehn. Da soll so was schon mal vorkommen.«

Bevor er antworten konnte, mischte sich Mum ein. »Ist er denn nett?«

»Sehr nett.«

Jetzt redete Dad Klartext. »Woher hast du die Jacke, mit der du nach Hause gekommen bist?«

»Ich war in der Stadt, um mir einen Burger zu holen, weil das Essen auf der Party eklig war. Es war kalt, deshalb hab ich mir eine Jacke geliehen.«

»Wem gehört sie?«

»Es war kalt, Clive«, sagte Mum.

»Sie gehört einem Jungen, Tanya. Ich frage sie nur, welchem Jungen.«

»Einem Freund. Er ist ein Freund, mehr nicht!« Das war nicht gelogen. Ryan hatte gesagt, wir wären Freunde.

»Also, wer ist es?«

»Clive, sie braucht Freunde …«

»Sie braucht Freunde, über die wir Bescheid wissen!«

»Beim letzten Mal wusstest du alles von ihnen«, brach es aus mir heraus. »Und welchen Unterschied hat das gemacht? Glaubst du, ich bin blöd? Glaubst du, ich möchte das noch mal durchmachen?«

»Ich glaube, dass du dich leicht zu etwas verleiten lässt«, gab er zurück.

Ach, die Leier schon wieder. Das Gegenteil war der Fall. Ich tat nie etwas, das ich nicht wollte. Nur manchmal wusste ich nicht, ob ich etwas wollte, bevor ich es ausprobiert hatte. Aber das war meine Entscheidung. Ich hatte Dad das nie erzählt. Wir konnten über so was nicht reden. Seit Lindz’ Tod konnte ich mit niemandem mehr darüber reden.

Dad starrte mich an, und ich starrte zurück, bis ich meinen Toast auf den Teller warf und nach oben stürmte. Ich saß auf dem Bett, zitterte vor unterdrückter Wut und zerknüllte Ryans Jacke in meinen Händen. Wegen der Bodylotion von gestern Abend roch der Stoff nach Kakaobutter. Ihn konnte ich trotzdem noch riechen.

Langsam beruhigte ich mich. Dad würde mir das nicht kaputt machen. Er konnte es mir nicht wegnehmen. Ryan wollte, dass wir Freunde waren. Das reichte mir. Einfach nur mit jemandem befreundet zu sein, der mich behandelte, als ob ich ganz normal wäre. Selbst wenn ich mittlerweile maximal in ihn verknallt war. Es gab keinen Grund, sich dafür zu schämen, solange ich es für mich behielt. Das war absolut in Ordnung. Mein persönliches kleines Geheimnis.

Ich sah auf die Uhr. Zeit, sich anzuziehen. Ich ging duschen und machte mich wie üblich fertig – außer, dass ich nach dem Anziehen meine Schminksachen durchwühlte. Ich wollte aber nicht zu aufgedonnert aussehen. Schließlich bearbeitete ich meine Wimpern mit der Wimpernzange und legte ein bisschen Wimperntusche und ein farbiges Lipgloss auf. Das musste reichen für einen ganz gewöhnlichen Sonntagmorgen.

Mum bereitete den Braten fürs Mittagessen vor und Raggs verfolgte sie hoffnungsvoll durch die Küche. Dad war im Arbeitszimmer und tippte auf seiner Computertastatur herum, wahrscheinlich machte er schon wieder was für seine dämliche Aktionsgruppe. Charlie war oben und spielte Playstation, also sah keiner, wie ich mit Ryans Jacke unter dem Arm durch die Haustür verschwand.

Als ich beim Boot ankam, wäre ich fast stehen geblieben und wieder umgedreht – irgendwie schien es mir keine so gute Idee mehr, hierhergekommen zu sein. Rauch quoll aus dem Abzug auf dem Dach, also waren sie bereits aufgestanden. Aber wie klopfte man an die Tür eines Hausboots? War es unhöflich, das Deck zu betreten? Sollte ich lieber am Kanalufer warten?

Die Tüllgardine an einem der Fenster bewegte sich und mein Magen krampfte sich zusammen. Was war, wenn seine Mutter aufmachte? Was sollte ich sagen? Doch als sich die Tür öffnete, kam Ryans Kopf zum Vorschein. »Hey, ich hab dich durchs Fenster gesehen.«

Mit dem Schauder, der mich bei seinem Anblick überlief, hatte ich nicht gerechnet. »Ich bringe dir deine Jacke zurück.«

Er kam nach draußen. Ich schüttelte den Kopf und musste lachen, obwohl mir gleichzeitig der Mund trocken wurde – er trug schon wieder kein T-Shirt. Er hatte eine tief sitzende Armeehose an, sodass ein bisschen was vom Gummizug seiner Boxershorts hervorlugte. Ich musste mich zwingen, nicht zu sehr hinzustarren.

Er schaute an sich herunter und grinste. »Ja, ich weiß, ich weiß. Aber drinnen ist es extrem warm. Mum hat wie blöd den Ofen angeheizt. Heute ohne Hund?«

Ohne dass ich es wollte, richteten sich meine Augen auf seinen Bauch. Ich schluckte, um besser sprechen zu können. »Er ist zu Hause bei Mum. Sie kocht und er bettelt.«

Er nahm mir die Jacke ab. »Danke, dass du sie zurückbringst. Hast du Zeit, mit reinzukommen und was zu trinken? Wir haben aber keinen Kaffee. Nur Kräutertee.«

Eine Entschuldigung lag mir schon auf der Zunge, als mir einfiel, dass ich das nicht bringen konnte. Egal, wie sehr ich es hasste, Fremden zu begegnen, ich konnte mich nicht davor drücken, seine Mutter kennenzulernen. Nicht nach dem, was er mir letzte Nacht erzählt hat, er würde glauben, dass ich sie deswegen mied.

»Habt ihr Himbeertee?«

»Bestimmt. Wir haben jede Sorte.« Er reichte mir die Hand, um mir aufs Deck zu helfen. Seine Handfläche war rau; das hatte ich schon gestern Abend gemerkt, und ich überlegte, ob es wohl von seiner Arbeit auf der Bootswerft kam.

Als Ryan die Tür öffnete, blickte seine Mutter überrascht auf.

»Mum, das ist Jenna. Eine Freundin aus dem Dorf.«

Ich folgte ihm die Stufen hinunter ins Bootsinnere. Seine Mum sprang auf und schob einen Tisch zur Seite, auf dem reihenweise Edelsteine und Kristalle lagen. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn und ihrer Oberlippe.

»Komm rein, komm rein und setz dich. Ryan, räum die Sachen von dem Stuhl.« Ihr Akzent verblüffte mich – sie sprach in diesem schrecklich vornehmen, akademischen Ton wie die Frauen aus den Kultursendungen im Fernsehen.

Ryan hob einen Armvoll kleiner Schachteln auf und verstaute sie irgendwo hinten im Boot. Ich setzte mich auf den hölzernen Schaukelstuhl, den er frei geräumt hatte. Seine Mum sah ihm nicht sehr ähnlich. Sie war winzig und trug jede Menge Schmuck – Silber und Perlen überall. Ein paar steckten sogar in ihren aufgetürmten, rot getönten Locken – unmögliche Farbe. Sie sah anders aus als die Mütter, die ich bisher gesehen hatte. Keine von ihnen trug bunte Westen mit Peace-Zeichen in der Mitte. Oder Schlabberhosen mit Ethno-Muster. Aber die Sachen standen ihr. Ihr Gesicht war ungeschminkt. Weil sie noch keine Falten hatte, nahm ich an, dass sie jünger war als meine Mutter.

»Zieh deinen Mantel aus, Liebes. Hier drinnen ist es heiß. Ich trockne gerade meine Lackarbeiten.« Sie deutete auf ein paar Schmuckstücke, die auf einem Gestell neben dem gusseisernen Ofen in der Ecke lagen.

Ich zog meine Jacke aus und sah mich um. Das Boot war mit hellem Holz verkleidet. Hinter dem Wohnraum befand sich die kleine Küche. Ich entdeckte eine Waschmaschine und einen Kühlschrank, was mich überraschte. Die Stühle hatten fröhlich gemusterte Sitzpolster und an den Fenstern hingen schwarze Vorhänge mit goldenen Sternen. Auf dem Boden in der Mitte lag ein rot-grün-goldener Flickenteppich. Es war so viel farbenfroher als bei uns zu Hause.

Bevor seine Mutter weiterreden konnte, war Ryan wieder da. »Ich setze Wasser auf. Willst du auch Tee, Mum? Und haben wir Himbeertee für Jenna?«

»Ja, in der roten Fliegenpilzdose. Für mich bitte Brennnessel.«

Er verzog das Gesicht, was ich verständlich fand.

»In der Schwangerschaft ist Himbeertee gut«, sagte seine Mutter zu mir. »Als ich mit Ryan schwanger war, habe ich ihn literweise getrunken. Er lockert die Beckenmuskulatur und erleichtert die Geburt.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Als ich verstohlen zu Ryan blickte, hatte er seinen Kopf gegen den Küchenschrank gelehnt und machte ein Gesicht, als ob er Schmerzen hätte. Es ließ ihn irgendwie jünger aussehen und unglaublich süß.

»Und wofür ist Brennnesseltee gut?«, brachte ich schließlich heraus.

»Brennnessel ist reinigend und ein hervorragendes Diuretikum.« Sie hielt kurz inne, weil sie merkte, dass ich kein Wort verstanden hatte. »Er bringt dich zum Pinkeln.«

Aus der Küche kam ein Stöhnen. Während sie redete, flatterten ihre Hände durch die Luft, und ich fragte mich, ob das normal war oder ob sie gerade eine schlechte Phase hatte. Plötzlich streckte sie die Hand aus und berührte mein Gesicht. »Ich kann dir eine Creme dafür geben.«

»Mum!« Bevor ich merkte, dass er sich überhaupt bewegt hatte, stand Ryan neben uns.

Sie wedelte abwehrend mit der Hand. »Geh Tee kochen und lass uns allein.«

»Mum, hör auf!«

»Das Wasser kocht«, sagte sie ruhig und stupste ihn gegen das Bein.

»Es tut mir leid«, sagte er leise und ging an uns vorbei.

Ich schenkte ihm ein Schon-okay-Lächeln. Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich okay war, aber ich wollte nicht, dass er sich Sorgen machte. Dann schoss mir ein komischer Gedanke durch den Kopf. Wenn er Sadie mit nach Hause brachte, würde seine Mutter ihr dann eine »entorangisierende« Creme anbieten? Ich unterdrückte ein Kichern.

»Kein Arzt könnte dir was Besseres verschreiben«, sagte seine Mutter jetzt stolz. »Ich hole dir welche, du kannst sie mit nach Hause nehmen. Ist selbst gemacht.«

In der Küche packte Ryan sie am Arm. »Mum, hör auf, bitte«, knurrte er.

Sie tätschelte seine Hand. »Was für ein liebenswertes Mädchen«, sagte sie und verschwand irgendwo hinten im Boot.

Er brachte den Tee und reichte mir einen fröhlich aussehenden Emaillebecher, auf den große Blumen gemalt waren. »Pass auf. Das Blech wird heiß und verbrennt dir den Mund. Lass ihn erst abkühlen.« Er warf einen Blick hinter sich. »Es tut mir so, so leid.«

»Muss es nicht. Sie ist nett.« Verglichen mit meiner Mutter und all den anderen Müttern, die ich kannte, war sie wirklich seltsam. Aber sie hatte mich direkt angesehen und war nicht zurückgezuckt, und ich glaube nicht, dass er sie vorgewarnt hatte. Als sie meine Narben betrachtet hatte, lag kein Mitleid in ihrem Blick, sondern etwas anderes. Etwas, das man, glaube ich, Empathie nannte. Als ob sie mich verstand. Als ob sie Dinge wahrnahm, die andere nicht bemerkten.

Sie tauchte mit einem Glasgefäß wieder auf. »Probieren wir’s mal aus.«

»Oh, ich muss sehr aufpassen, was ich auf …«

»Da ist nichts drin, was dir schaden könnte, Liebes.« Sie schraubte den Glastiegel auf und hinter ihr trat Ryan von einem Fuß auf den anderen. Dann entnahm sie mit dem Mittelfinger einen Klecks Creme. »Da sind nur eine ganze Menge guter Sachen drin. Die Farbe kommt von den Karotten, doch es sind auch Heilkräuter aus der Erde und dem Meer dabei. Das ist eine Verbrennung, oder?«

»Mum!«

»Ach, Ryan, setz dich hin!« Sie begann am oberen Rand des Narbengewebes und verstrich die Creme sanft auf meiner Wange. »Er ist manchmal so unruhig. Sie ist transplantiert worden, oder? Ich denke, die Farbe verblasst mit der Zeit. Wie fühlt sich das an?«

»Gut«, sagte ich, überrascht darüber, dass es wirklich so war.

Sie trug noch mehr Creme auf mein Gesicht und meinen Hals auf. »Auch Narben sind schön. Sie sind ein Abzeichen, das wir tragen, um aller Welt zu zeigen, dass wir gelebt haben.« Sie schob einen Finger unter mein Kinn und hob es an. »Und dass wir überlebt haben. Sie haben eine ganz eigene Schönheit.« Sie schraubte den Deckel wieder auf das Glasgefäß und gab es mir. »Behalte sie.«

Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder war sie komplett durchgeknallt oder sie hatte recht. Zweifellos war es eine völlig andere Art, die Dinge zu betrachten. Obwohl mit Sicherheit nie eine Zeit kommen würde, in der sich Models ein heißes Bügeleisen auf die Haut klatschten, um vorzutäuschen, dass sie »gelebt« hatten.

Ryan hatte die Augen geschlossen und sah aus, als ob er durch den Boden und dann direkt im Kanal versinken wollte. Ich verstand ihn, Eltern konnten echt eine Qual sein. Meine jedenfalls.

Ich sah auf seinen Becher. »Was trinkst du?«

»Ingwer. Macht wach.« Wütend funkelte er seine Mutter an, die neben ihrem Sessel in einer Kiste wühlte, aber sie beachtete ihn gar nicht. »Hast du Hunger?«

»Nein, ich hab schon gefrühstückt, und wenn ich zurückkomme, ist bestimmt das Mittagessen fertig. Ehrlich, manchmal denke ich, das Einzige, was wir sonntags machen, ist essen. Abends fühle ich mich immer total vollgestopft.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du viel isst«, sagte er und musterte mich. Ich war unsicher, ob ich mich geschmeichelt fühlen sollte, weil er mich nicht für fett hielt, oder ob ich besorgt sein musste, weil er mich zu dünn fand.

»Doch. Ich esse unglaublich viel. Aber Mum steht auf Bio und Vollwert, deshalb ist es alles nur gesundes Zeug.«

Er nickte düster und voller Mitgefühl.

»Das ist sehr weise«, erwiderte seine Mutter, die auf ihrem Schoß Kristalle zählte. »Essen kann uns heilen oder vergiften –«

»Ich zeige Jenna jetzt mal das Boot!«, sagte Ryan und sprang auf. Wir starrten ihn an und er zuckte mit den Schultern. »Sie war noch nie auf einem Hausboot. Jenna, nimm deinen Tee mit.«

Gehorsam stand ich auf. Er hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und wartete auf mich. Seine Mutter lächelte in sich hinein und schwieg.

Die Küche war praktisch eingerichtet, auf wenig Raum war viel untergebracht, es gab sogar einen kleinen Herd. Hinter der Küche befand sich das Badezimmer, ebenfalls winzig, aber irgendwie passten trotzdem eine Toilette, ein Waschbecken und eine Dusche rein. Ich sah einen Rasierer auf der Ablage über dem Waschbecken. Den brauchte er also.

Als Nächstes zeigte er mir das Zimmer seiner Mutter. Der Bettüberwurf war lila und schwarz gemustert, von der Decke hingen Ketten mit farbigen Kristallen. An der Wand standen dicht gedrängt Schränke und Kommoden, selbst unter dem Bett gab es Schubladen.

»Euer Aufbewahrungssystem ist absolut genial. Ich hätte nie gedacht, dass man auf einem Boot so viel unterbringen kann. Wie lebt es sich hier so?«

»Ich weiß nicht genau. Ich hab noch nie anders gewohnt. Trotzdem hätte ich lieber eure Küche als unsere.«

»Wieso, eure ist richtig süß.«

»Und eure ist riesig.«

»Als ob’s auf die Größe ankäme.«

Er wandte sich zu mir um und grinste. »Mmh, wer weiß?«

Ich brauchte einen Moment, bevor ich kapierte, was er meinte. »Sei still! Du weißt genau, dass ich das nicht sagen wollte.« Langsam hatte ich den Eindruck, es gefiel ihm, mich in Verlegenheit zu bringen.

In seinem Zimmer hingen keine Kristalle und an den Wänden standen vollgestopfte Bücherregale und Schränke. Sein Bett war zerwühlt, und am Kopfkissen sah man immer noch, wo er gelegen hatte. Er öffnete ein Schränkchen und grinste. »Wenn es dich zu sehr ablenkt, zieh ich gern ein T-Shirt an.«

»Du bist so was von eingebildet. Wie kommst du eigentlich mit dem Kopf durch die Tür?«

Ryan kicherte und warf sich aufs Bett, ohne die Sache mit dem T-Shirt weiterzuverfolgen. Ich drehte ihm den Rücken zu und betrachtete seine Bücherregale.

»Sind das alles deine?«

»Fast. Ein paar habe ich von Mum geklaut.«

Er hatte eine seltsame Mischung an Büchern – Romane, Bücher über Bootsmotoren, einen riesigen Stapel von Heften mit Eselsohren und alte Lehrbücher. Mir fiel wieder ein, dass seine Mutter ihn unterrichtet hatte.

Ich nahm ein Buch vom obersten Regalbrett. »Im Schlachthaus Teil 5 – worum geht es da?«, fragte ich, um ihn zu testen.

»Es ist ein Roman über die Bombardierung von Dresden im Zweiten Weltkrieg. Der Typ kann durch die Zeit reisen und er trifft auf Aliens und –«

»Schon gut, du liest sie also.« Ich stellte das Buch zurück.

Er lachte. »Nein, ich lese nur die Rückentexte.« Er streckte die Arme über den Kopf und ließ die Knöchel knacken.

»Bah! Das ist ekelhaft.« Unbehaglich drückte ich mich vor dem Bücherregal herum. Ich wusste nicht, wie ich mich in diesem winzigen Raum verhalten sollte. Er hatte sich auf dem Bett so breitgemacht, dass ich ihn berühren würde, wenn ich mich danebensetzte. Sein Grinsen bewies, dass er ganz genau wusste, wie sehr er mich verunsicherte.

»Willst du mal den Maschinenraum sehen? Es ist total eng da drin, und ich quetsche auch noch mein Fahrrad mit rein, aber du kannst zumindest den Kopf durch die Tür stecken.«

Motoren interessierten mich nicht, aber alles, was mich aus diesem Zimmer befreien würde, bevor ich knallrot anlief, war gut. Also sagte ich Ja.

Er sprang vom Bett auf und führte mich zu einer Tür am Ende des Zimmers. Ich betrachtete irgendeine Maschine, deren Funktionsweise ich nicht verstand, und er schob mir den Kopf über die Schulter und zeigte mir verschiedene … Dinge. Ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, was er sagte … irgendwas über den Motor … weil er sich gegen mich lehnte und sein Arm meinen berührte, während er mir die Technik erklärte. Der Gestank von Öl und Diesel konnte seinen Geruch nach Deo und Ingwer, warm und ganz nah, nicht überdecken.

Ja, er wusste, wie er auf mich wirkte. Ich war mir sicher. Er machte das absichtlich, um sein Ego aufzupolieren, dieser eingebildete Kerl.

»Ich geh jetzt besser. Bestimmt ist das Mittagessen bald fertig«, sagte ich und schob ihn kurzerhand aus dem Weg.

»Nochmals danke, dass du die Jacke zurückgebracht hast«, sagte er, als wir zurück in den Wohnraum gingen. In Gegenwart seiner Mutter benahm er sich sofort wieder wie ein Musterknabe. Es war komisch, seine kindliche Seite zu erleben.

Sie stand auf und drückte mir eine Halskette in die Hand. Glatte rosafarbene Kristallsplitter wechselten sich mit silbernen Perlen ab. Mir wurde klar, dass sie die Kette eben erst gemacht hatte. »Für dich«, sagte sie. »Rosenquarz. Für eine innere und äußere Heilung. Je öfter du sie trägst, desto besser.«

Ich schnappte nach Luft – sie war wunderschön. Im Laden würde sie einen Haufen Geld kosten. »Oh, vielen Dank, Mrs …« Ich brach ab, denn ich kannte Ryans Nachnamen nicht.

»Karen, nenn mich einfach Karen.«

Ich öffnete den Verschluss und legte mir die Kette um den Hals. Ryans Hand streifte meinen Nacken, weil er meine Haare zur Seite geschoben hatte. Meine Haut kribbelte bei der Berührung.

»Sie ist unglaublich«, brachte ich heraus. »Wollen Sie mir die wirklich schenken?«

»Eine Freundin meines Kleinen ist auch meine Freundin«, sagte sie, und ich entdeckte in ihren Augen das gleiche spöttische Funkeln wie bei Ryan. Sie sahen einander zum ersten Mal ähnlich.

Er stieß ein entsetztes Schnauben aus, stapfte an Deck und wartete dort auf mich.

Karen lachte leise. »Er hasst es, wenn ich ihn so nenne, ich mache es manchmal absichtlich, um ihn zu ärgern. Ich kann Männer nicht leiden, die sich selbst zu ernst nehmen, deshalb erziehe ich ihn anders.«

Ich dachte daran, wie er im Pferdemist gelegen hatte, und lächelte sie an. »Ich glaube, es funktioniert.«

Sie streichelte meine Wange, diesmal die unversehrte. »Schau mal wieder vorbei. Du bist jederzeit willkommen.«

Ryan wartete am Ufer. Mit einem belämmerten Gesichtsausdruck half er mir vom Boot. Ich tat so, als ob ich sein Schmollen gar nicht bemerkt hätte.

»Wenn du heute Abend mit dem Hund spazieren gehst, komme ich mit, wenn du möchtest.«

»Oh, um diese Jahreszeit ist es hier unten schon ein bisschen zu dunkel.« Ich kaute auf meiner Lippe. Einerseits wollte ich nur zu gern von seinem Angebot Gebrauch machen, andererseits wollte ich nicht im Kanal landen oder mich zwischen den Weiden verirren. »Normalerweise bleibe ich auf den Wegen.«

»Klar!« Er schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich. Hast du dein Handy dabei?« Ich griff in die Tasche meiner Jacke und zog es heraus. Er nahm es und tippte seine Nummer in mein Adressbuch ein. »Hier. Schick mir eine SMS, wenn du losgehst, und wir treffen uns an eurem Gatter.«

»Du hast ein Handy?«

»Jenna, ich lebe auf einem Boot und nicht hinterm Mond.«

Ich grinste. »Tut mir leid. Aber wahrscheinlich gibt’s da auch schon längst Handys.«

Er lachte und sah mich dann streng an. »Ist mit dir wirklich alles in Ordnung? Ich meine, wegen letzter Nacht?«

Gerade jetzt, wo ich mir selbst eingeredet hatte, dass er eben doch ein eingebildeter Typ sei, sagte er so etwas. Ich nickte nur, weil ich ihm nicht in die Augen sehen konnte. Das lag aber nicht daran, dass ich mich wegen diesem dämlichen Ed immer noch schlecht fühlte.

»Gut so«, sagte er und strubbelte mir durch die Haare, wie Dad es bei mir und Charlie immer machte. »Jetzt geh und denk an mich, wenn du den Braten isst.« Er machte sein mitleiderregendstes Gesicht, aber es bestand auch so absolut keine Gefahr, dass ich nicht an ihn denken würde.

 

Fünfzehn Minuten später kam ich zurück in die Küche und war mir ziemlich sicher, dass niemand meine Abwesenheit bemerkt hatte. Mum sah mich einen Augenblick lang misstrauisch an, dann sagte sie nur: »Kannst du die Möhren abgießen? Das Essen ist gleich fertig.«

Als ich den Topf vom Herd nehmen wollte, klingelte das Telefon. Ich ging hin, um abzunehmen.

»Lass es! Beachte es einfach nicht!«

»Wieso?«

»Es klingelt schon seit einer Stunde andauernd. Komisch, dass du es nicht gehört hast. Ein Telefonstreich. Bitte gieß die Möhren ab.«

Ich nahm den Topf vom Kochfeld und runzelte die Stirn. »Was sagen sie denn?«

»Nichts. Am anderen Ende ist nur Schweigen. Also nimm gar nicht erst ab. Das spornt sie nur an weiterzumachen. Wahrscheinlich sind es Kinder, die Unfug treiben.«

Oder Steven Carlisle und seine Freunde.

Später taten wir alle so, als ob wir uns den Film im Fernsehen ansehen würden. Nur Charlie war wirklich dabei. Dad starrte auf die Wand hinter dem Fernseher, sein Gesicht war versteinert. Eine halbe Stunde zuvor hatte er das Telefon ausgestellt. Mum und ich sagten nichts dazu.

Ich schaute durch die Terrassentür. Hinter dem Garten, der Koppel und dem Gebüsch floss der Kanal. Ich vergaß Steven Carlisle und den widerlichen Ed. Ich vergaß Dads Wut und Mums besorgtes Gesicht und dachte an Ryan.

Eigentlich dachte ich, dass ein Freund, den es nur in der Fantasie gab, der beste Freund überhaupt war. Man musste sich keine Gedanken machen, ob er einen mochte. In meiner Vorstellung tat und sagte er stets das Richtige. Er fand mich toll, perfekt und schön, und das war niemals peinlich. Er tat nichts, weswegen ich mich unwohl oder unglücklich fühlen musste. Er brach mir nie das Herz.

In den letzten paar Jahren hatte ich viele solcher Freunde gehabt.

Jetzt hatte der Junge in meinem Kopf Ryans Gesicht. Seine Stimme. Sein Lächeln.

Das schadete ja nichts. Es spielte sich nur in meinem Kopf ab und niemand würde je davon erfahren.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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