7_Jenna

Am Montagmorgen warteten Charlie und ich an der Kreuzung am Rand des Dorfes auf den Schulbus. Als er auftauchte, stupste Charlie mich mit dem Ellbogen an.

»Was ist?«

»Kannst du im Bus auf meinen Koffer aufpassen?«

Sein Trompetenkoffer – er hatte heute Unterricht. Mum und Dad wollten, dass er ein Instrument lernte, also hatte er sich das Allerlauteste ausgesucht. »Was kriege ich dafür?«

Er grinste mich an. Seine blonden Locken waren mit Gel an den Kopf geklatscht, weil Mum ihm nicht erlaubte, sich die Haare so kurz schneiden zu lassen, dass sie ganz verschwanden. »Heute Abend übe ich erst, wenn du aus dem Haus bist und die Ponys fütterst.«

»Das ist ein Deal.« Charlie war nicht gerade ein Naturtalent. Wenn er übte, hatten wir alle zu leiden.

Der Bus fuhr vor, und Charlie ließ mich stehen, um sich zu seinen Freunden zu gesellen. Ich suchte mir vorn einen Fensterplatz und stellte meine Tasche und Charlies Trompetenkoffer neben mich, damit sich dort niemand hinsetzen konnte. Dann zog ich ein Buch hervor. Jetzt, wo ich nicht mehr mit Lindz quatschen konnte, las ich immer. Die Fahrt von Strenton zur Schule dauerte fünfundvierzig Minuten, der Bus schlängelte sich über schmale Landstraßen, um die Schüler in Whitmere und all den anderen Käffern aufzusammeln. Ab und zu schaute ich aus dem Fenster und kontrollierte, wo wir waren, doch ansonsten hielt ich den Kopf gesenkt.

Nachdem er ausgestiegen war, schenkte mir Charlie nicht mehr Aufmerksamkeit als im Bus. Er schnappte sich im Vorbeigehen seine Trompete. Zu Hause konnte man mit seiner großen Schwester prima spielen, doch wenn Kinder aus seiner Klasse dabei waren, beachtete er mich nicht. Die Grundschule befand sich in einem Extragebäude, und er rannte mit seinen Freunden los, um auf dem Hof dort noch ein bisschen Fußball zu spielen, bevor es läutete. Ich ging direkt zum Raum mit den Spinden der Mädchen. Lärm schlug mir entgegen, als ich hineinging, der gesammelte Klatsch des vergangenen Wochenendes: Wer was gemacht hatte, mit wem und wann. Ich hängte meinen Mantel auf und schnappte mir ein paar Schulbücher, die ich am Vormittag brauchte. Hier hatten nur die Mädchen aus der Zehnten ihre Spinde, also kannte mich jeder; es war sicher.

Draußen im Gang war es schon etwas anderes. Eine Gruppe jüngerer Mädchen blieb stehen. Als sie mich sahen, verzogen sie ihre Münder, bevor sie sich wegdrehten. Und dann das Geflüster …

Wann würde es endlich aufhören? Ich war seit ein paar Wochen wieder da und immer noch eine Sensation – »Shrek geht aufs Gymnasium«. Würden sie sich jemals an mich gewöhnen?

Zwei Jungs aus der Achten liefen in mich hinein, weil sie nicht nach vorn geschaut hatten, und ich schubste sie aus dem Weg, bevor sie mich umrennen konnten.

»Bah, das ist so ekelhaft«, flüsterte der pickeligere, uncoolere der beiden seinem Freund zu. »Sie sollte eine Tüte oder so was übers Gesicht ziehen.«

Selbst so ein kleiner Widerling wie der fand mich abstoßend.

Der zweite Junge lachte, und weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass sie mir hinterherliefen, eilte ich zu den Mädchentoiletten und schloss mich in einer Klokabine ein.

Ich lehnte mich gegen die Tür, während ich darauf wartete, dass sich mein Puls wieder beruhigte und die übliche Welle von Wut und Demütigung abebbte. Diesen Gang entlangzulaufen, war eine extreme Herausforderung, und jedes Mal musste ich gegen die Erinnerung ankämpfen. Die Erinnerung an meinen ersten Tag in der Schule nach dem Unfall.

Bei den Spinden war es schon schlimm genug gewesen. Die Mädchen aus meinem Jahrgang kamen zu mir, um »Hey, wir haben dich vermisst …« zu sagen – bis sie mich sahen. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, obwohl sie alle wussten, was mir passiert war. Doch es zu wissen ist nicht dasselbe, wie es zu sehen. Mir war klar, welche Gedanken ihnen durch den Kopf schossen: Wenn mir das passiert wäre … oh Gott … ich würde sterben … es ist … es ist … Sie versuchten, so zu tun, als wäre alles normal, aber sie konnten den Schock nicht verbergen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte rausrennen, Mum anrufen und dann auf irgendeiner Wiese sitzen und heulen, bis sie mich abholte.

Aber wir hatten so oft darüber gesprochen, deshalb glaubte ich nicht, dass sie überhaupt gekommen wäre. Sie hätte in der Schule angerufen, und sie hätten jemanden losgeschickt, um mich zu suchen. Meine Klassenlehrerin wollte mich sowieso schon am Bus abholen, aber ich hatte mich geweigert. Wäre ich den Gang gemeinsam mit ihr entlanggelaufen, hätten die Leute nur noch mehr gestarrt – Ausstellungsstück eins: potthässliches Narbengesicht mit Mrs Barker als Leibwächterin. Stattdessen hatte Beth bei den Spinden auf mich gewartet, ihren Arm in meinen geschoben und war mit mir zum Klassenraum marschiert.

Als eine neue Schülerin bei meinem Anblick vor Schreck nach Luft schnappte, wurde Beths Gesicht starr wie die Plastikmaske, die ich nur eine Woche zuvor abgelegt hatte. Mein Herz raste so sehr, dass ich fast in Ohnmacht gefallen wäre, und ich stützte mich auf ihren Arm, um nicht umzukippen. Im Gang wurde es still – eine La-Ola-Welle aus Schweigen breitete sich aus, als die Leute uns sahen.

Hört auf, mich anzuschauen! Lasst mich in Ruhe!, schrie es so laut in meinem Kopf, dass ich eine Schrecksekunde lang glaubte, ich hätte es wirklich gerufen.

Alle um mich herum sahen plötzlich irgendwie verschwommen aus, als ob ich durch einen Albtraum wandelte. Diffuse Flecken von Gesichtern, die mich mit hervorquellenden Augen anstarrten. Beth musste mich den Gang entlangzerren; ich hätte es nicht allein geschafft.

 

Ich holte tief Luft und öffnete die Klotür, gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, mich von den Spiegeln wegzudrehen. Ein tiefer Atemzug und ich trat wieder auf den Gang.

Beth saß im Klassenzimmer auf ihrem Tisch und wechselte die Patrone in ihrem Füller aus. Sie blickte auf, als ich hereinkam, und ich merkte, dass sie Neuigkeiten hatte. Wichtige Neuigkeiten.

»Hey, Jen!«

»Hey, hattest du ein schönes Wochenende?« Ich setzte mich auf den Platz neben ihr.

»Ja, das Rollenspiel war großartig! Das beste, bei dem ich je war.«

Beths Eltern gehörten einem Historienverein an, in dem man sich verkleidete und berühmte Ereignisse nachspielte, die hier in der Gegend stattgefunden hatten. Beth war nicht gerade das coolste Mädchen der Schule. Eine riesengroße Zahnspange, ihre Brille und die krausen Haare, die sich nicht mal mit dem heißesten Glätteisen bändigen ließen, taten ihr Übriges – Lindsay war immer richtig fies zu ihr gewesen. Aber wir waren seit dem ersten Schultag befreundet, und ich mochte Beth, ganz egal, was irgendwer über sie sagte.

»Ich hatte ein richtig tolles Kostüm an – ein blaues Gewand mit einem bernsteinfarbenen Unterkleid und einem Gürtel aus Kordel. Mum hat mir die Haare frisiert und Bänder hineingeflochten. Das sah total authentisch aus.«

Sie war bestimmt nicht nur wegen ihres Kostüms so aus dem Häuschen. Da steckte noch etwas anderes dahinter. »Und?«

Sie kicherte. »Ich hab da diesen Jungen kennengelernt …«

»Ach ja?«

»Mmh, und er ist echt nett.«

Tja, schön für sie. Ich hingegen hatte den weltgrößten Idioten getroffen.

»Er heißt Max und geht in die Elfte. Und er hat mich gefragt, ob ich mit ihm zum Herbstball des Historienvereins gehe. Ich hab dir davon erzählt, weißt du noch? Der Ball mit dem Mittelaltermotto.«

Ich sah ihr an, dass sie noch mehr zu berichten hatte. »Ja, ich erinnere mich. Und?«

Beth wurde rot. »Äh … er hat mich geküsst.«

»Das gibt’s doch nicht! Du Glückliche! Ist er hübsch?«

»Ich glaube schon«, sagte sie vorsichtig. Ich beschloss, dass das wohl Nein heißen sollte. Es bedeutete, dass Natasha Green und ihre Freundinnen – die Oberzicken unseres Jahrgangs – ihn nicht gut aussehend finden würden. Sie würden bei seinem Anblick ihre perfekt gezupften Augenbrauen heben und loslachen, sobald Beth außer Sicht war.

»Erzähl schon, wie sieht er aus?« Sie konnte ja lügen, wenn sie wollte. Wahrscheinlich würde ich ihn niemals treffen.

»Er hat ungefähr die Größe«, sagte sie und zeigte auf einen durchschnittlich großen Jungen, der sich vor dem Klassenzimmer mit einem Mädchen unterhielt. »Und braune Haare. Und einen netten Charakter.«

Also sah er furchtbar aus. Nicht dass Beth oder ich uns erlauben könnten, hohe Ansprüche zu stellen – schließlich war es höchst unwahrscheinlich, dass eine von uns in naher Zukunft die Welt der Models aufmischen würde.

»Ist er von hier?«

»Er lebt in der Nähe von Whitmere, eher bei dir in der Gegend als bei mir. Er geht aufs Badeley College, in der Woche wohnt er dort, und an den Wochenenden fährt er nach Hause.«

»Aufs Badeley?«

»Äh, ja. Ich habe ihn gefragt, ob er Steven Carlisle kennt, und er meinte, er erinnert sich an die Zeit, als er noch nicht von der Schule geflogen war. Sein älterer Bruder ist in einer Rugbymannschaft mit Steven, aber Max sagt, er könne ihn nicht besonders leiden.«

Ich schnaubte. »Max’ Bruder hat einen guten Geschmack.«

»Hast du Steven in letzter Zeit mal gesehen?«

»Nein, aber ich glaube, er hat die Autos der Mitglieder von Dads Aktionsgruppe demoliert.«

»Was macht er denn jetzt?«

»Arbeitet immer noch für seinen Vater. Egal, ich habe keine Lust, über diesen Loser zu reden. Sag mal, hast du Max denn vorher nie getroffen?«

»Doch, schon. Ich habe ihn bei anderen Treffen gesehen, hatte aber nie Gelegenheit, mit ihm zu reden. Immer waren unsere Eltern dabei, es war einfach zu peinlich. Aber diesen Samstag war es total verrückt – wegen der Schlacht, die wir nachgestellt haben, waren wir die ganze Zeit zusammen. Seine Leute und meine Leute haben auf der anderen Seite gekämpft. Wir haben uns wirklich gut verstanden, und als unsere Seite am Ende des Kampfes losgejubelt hat, hat er mich geküsst.«

»Richtig?«

»Zuerst nicht. Er hat es so aussehen lassen, als ob es Teil des Rollenspiels wäre. Aber ich habe nicht protestiert, deshalb …«

»Und wie war’s?«

Sie grinste. »Super!«

Ich gab ihr einen Schubs. »Du kleine Schlange! Ich hab dir ja gesagt, dass du als Erste an der Reihe bist!«

»Jen, vielleicht solltest du das nächste Mal mitkommen. Ich weiß, es ist nicht dein Ding, aber …« Sie zögerte. »Es wäre mal was anderes. Rauskommen, was Neues erleben, du weißt schon.«

»Ja, ich würde bestimmt richtig Eindruck machen.« Ich deutete auf meine Wange. »Ganz authentisch zerfetzt von einer Musketenkugel.«

Beth zuckte zusammen. »Sag so was nicht. So habe ich es nicht gemeint und das weißt du auch.«

»Tut mir leid«, sagte ich lautlos, denn in dem Moment kam unsere Klassenlehrerin rein. Schnell glitten wir von den Tischen runter, damit sie uns nicht anmachte, weil wir auf den Schulmöbeln saßen.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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