31_Jenna
»Eine Leiche?« Meine Beine gaben nach und ich suchte an einem Stuhl nach Halt.
»Ja.« Mum sah runter auf ihre Hände. »Steven Carlisle.«
Ich wurde fast ohnmächtig vor Erleichterung. Nicht Ryan. Nicht Ryans Mum.
Dann traf es mich wie ein Schlag. Steven. »Wie … ist er …«
»Ted hat gesagt, dass sein Schädel eingeschlagen war«, erwiderte sie schwach. »Sie glauben, es war Mord.«
Mein erster Gedanke war: Gut so!
Der zweite war: So was darf ich nicht denken. Gefolgt von: Doch jetzt ist endlich alles vorbei. Der Kreislauf war durchbrochen. Ich musste Steven nie mehr begegnen. Musste ihn nie mehr meiden oder ihn zusammen mit einem anderen Mädchen sehen, mit dem er demonstrierte, wie egal ihm war, was er meiner besten Freundin angetan hatte. Dad konnte seine dämliche Aktionsgruppe auflösen und wir konnten zu einer Art Normalität zurückkehren. Vielleicht würden mir die Narben auch nicht mehr so viel ausmachen, weil es sich anfühlte, als ob sich letztendlich doch die Gerechtigkeit durchgesetzt hatte.
Ich wusste, ich sollte irgendein Bedauern, irgendeine Art von Mitleid für ihn empfinden. Doch im Moment spürte ich bloß Erleichterung. Als ich von Mum zu Dad schaute, kapierte ich langsam, dass sie anders fühlten. Sie waren nicht traurig, dass ein weiteres Leben ausgelöscht worden war, sie hatten auch kein Mitleid mit seinen Eltern oder so. Sie hatten Angst.
Dad knetete seine Finger zwischen den Handflächen. »Wahrscheinlich kommt später die Polizei vorbei. Die wollen bestimmt mit uns reden.« Er hörte sich an, als müsste er sich anstrengen, damit seine Stimme nicht kippte.
Ich tappte wie durch einen Nebel auf etwas zu, das ich nicht richtig sehen konnte. Irgendetwas Gefährliches lauerte da draußen. »Warum?«
Mum nahm meine Hand. »Bevor er nach Hause gekommen ist, war dein Dad noch kurz bei David Morris. Als er wieder rauskam, war das Auto mit Viehdung beschmiert. Die Windschutzscheibe, die Fenster, sogar der Auspuff war damit vollgestopft.«
Ich sah, wie Dads Fingerknöchel weiß wurden und hervortraten, meine Nackenhaare stellten sich auf. Viehmist … David Morris … Charlottes Vater wohnte auf der anderen Seite des Dorfes, und wenn Dad dort war, hatte es fast immer etwas mit der Aktionsgruppe zu tun. Und das wusste auch Steven Carlisle …
»Es war Kuhdung. Vielleicht vom Feld neben Davids Haus. David und dein Vater haben das abgewaschen, bevor er nach Hause gefahren ist. Er hat noch mal im Dorf angehalten, um die neuesten Newsletter in den Briefkasten zu werfen, und da saß Steven mit ein paar anderen. Als Dad vorbeiging, hat Steven gemuht, und seine Freunde haben gelacht und mitgemacht. Es war offensichtlich, dass er das Auto so zugerichtet hat. Sie hatten Streit und Dad drohte ihm mit der Polizei. Steven hat ihm ins Gesicht gespuckt und dein Vater hat die Beherrschung verloren und ihn zu Boden gestoßen.«
»Ich habe ihn kaum berührt. Er war betrunken. Er ist vom Bordstein auf die Straße gefallen«, sagte Dad.
Ich drehte mich zu ihm. »Du glaubst doch nicht, dass du ihn umgebracht hast? Dass er sich den Kopf angeschlagen hat, als du ihn gestoßen hast?« Ich hörte mich diese Worte sagen, und in mir drin schrie es, dass das nicht wahr sein konnte. Dad konnte nicht … niemals … nicht mal Steven. Er wurde schon beim bloßen Anblick von Blut ohnmächtig. Als wir klein waren, hat er mir und Charlie nicht mal einen Klaps gegeben, egal, wie schlecht wir uns benommen hatten.
Mum umklammerte meine Hand noch fester. »Natürlich nicht. Als dein Vater wegfuhr, ging es Carlisle gut. Er war auf den Beinen und hat herumgepöbelt. Aber die Polizei wird deinen Vater befragen müssen. Sie … sie werden ihn vielleicht mit auf die Wache nehmen. Wir wissen es nicht genau.«
»Aber es besteht die Möglichkeit«, sagte Dad.
»Du warst es nicht«, sagte ich. Es war mehr eine Aussage als eine Frage, weil mein Dad … nein, einfach nur nein.
Er nahm meine andere Hand. »Weiß Gott, Jenna, ich habe mir seinen Tod gewünscht, habe mir so oft gewünscht, dass er bei dem Unfall umgekommen wäre. Aber …«
»Clive! Bitte sag das nicht.« Mums Augen weiteten sich vor Angst. »Jenna, das darfst du der Polizei nicht erzählen.«
Ich entzog ihr meine Hand. »Mum! Ich bin doch nicht blöd.«
»Ich weiß, aber ich habe solche Angst, dass ich nicht mehr geradeaus denken kann.« Sie griff sich an den Kopf, als ob er wehtat. »Was sollen wir bloß Charlie erzählen? Er darf nichts davon wissen. Er ist noch zu klein.«
Dad zog meine Hand näher zu sich heran. »Ich will nicht mehr, dass du alleine rausgehst. Charlie auch nicht. Wenn der Junge ermordet wurde, dann ist der Mörder vielleicht immer noch in der Gegend und …«
Doch ich hörte nicht mehr zu. Ein Gedanke traf mich mit solcher Wucht, dass ich fast aufschrie. Dad war nicht der Einzige, der sich gestern mit Steven geprügelt hatte. Was, wenn die Polizei das rausfand?
Nein … nein … nein …
Ich stand auf und warf dabei den Stuhl um.
»Mir ist ein bisschen schlecht. Ich lege mich hin.«
Dann rannte ich hinaus. Mum kam bis zur Treppe hinter mir her. »Das ist der Schock. Willst du, dass ich mitkomme und mich zu dir setze?«
Ich schüttelte den Kopf und floh.
Ich lag auf meinem Bett und die Decke über mir drehte sich. Ryan hatte gesagt, dass er sich mit Steven geprügelt hatte … und er war so durcheinander. Nie zuvor hatte ich ihn so erlebt. Trotzdem konnte er es nicht getan haben. Ich kannte ihn noch nicht sehr lange, aber selbst so …
Was war, wenn er Steven einen Schlag verpasst hatte und der hingefallen und sich dabei den Schädel gebrochen hatte? Vielleicht war Ryan weggelaufen und hatte nicht mal gemerkt, dass Steven tot war. Er war betrunken. Hatte er es getan und wusste nichts davon? Aber der Streit mit seiner Mutter schien ihm viel mehr ausgemacht zu haben als die Prügelei mit Steven. Andererseits, wenn er sich nicht erinnern konnte …
Ich streckte die Hand nach dem Handy aus, das neben meinem Bett lag. Eine neue Nachricht.
Ich wusste nicht, ob ich im Moment mit ihm sprechen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.
Ich hielt das Handy fest in der Hand und starrte auf die wirbelnden schwarzen Punkte an der Decke. Er hatte Steven nicht getötet. Wie konnte ich das überhaupt nur gedacht haben? Doch irgendjemand hatte es getan.