6_Ryan

Nachdem das Mädchen und seine Mutter weg waren, schlich ich mich aus der Bücherei.

Erfolg auf ganzer Linie. Große Klasse. Ich hatte sie wieder zum Weinen gebracht. Aber diesmal hatte ich keinen Schimmer, wieso.

Vielleicht war sie verrückt. Ich hatte doch gar nichts gemacht.

Wenn ich sie noch mal treffe, halte ich mich von ihr fern.

Ich stand auf dem zentralen Platz der Stadt und zog meinen selbst skizzierten Plan aus der Tasche. Wo ging es zum Kanal? Als ich aufblickte, um mich zu orientieren, starrten mich drei Typen, die um ein schwarzes Auto herumlungerten, mit zusammengekniffenen Augen an. Ich starrte gerade so lange zurück, bis sie wussten, dass ich sie bemerkt hatte, dann lehnte ich mich an einen Laternenpfahl und studierte den Plan. Nur eine weitere Clique von Kleinstadttypen, die sich für harte Kerle hielten. Ich entdeckte die Straße, die ich gesucht hatte, und ging los. Ich spürte, wie ihre Augen mir folgten, und als ich an ihnen vorbeischlenderte, richteten sie sich auf und spannten die Muskeln an. Ich lief einfach weiter, ohne sie zu beachten, und sie wandten sich wieder dem Auto zu. Alles nur eine Frage der Körpersprache, hatte Cole gesagt. Die Art zu stehen und zu gehen. Mach es richtig und niemand krümmt dir ein Haar.

Bevor Cole auftauchte, hatte ich es immer falsch gemacht, aber er brachte es mir bei. Vor vier Jahren war er mit seiner Harley in unser Leben gebrettert. In Mums walisischer Phase hatten wir in einem dreckigen kleinen Kaff am Llangollen-Kanal angelegt. Mum und ich waren einkaufen. In dem Moment, in dem wir den Laden betraten, heftete sich die Verkäuferin an unsere Fersen. Die Hitze stieg mir ins Gesicht, während Mum durch den Laden schlenderte, Linsen, Möhren und Paprikaschoten in ihren Korb legte und die Frau uns mit gerunzelter Stirn beobachtete.

»Mum, beeil dich, bitte.«

»Immer mit der Ruhe, Ryan. Hetz mich nicht.«

»Kann ich draußen warten?«

»Oh, geh nur. Aber lauf nicht weg.«

Ich ging raus und setzte mich auf eine Bank. Ein paar Jungen in meinem Alter spielten auf dem leeren Parkplatz Fußball. Es sah aus, als ob sie eine Menge Spaß hätten, aber ich ging nicht hin, um mitzumachen. Es hatte keinen Zweck.

Eine Viertelstunde verging und Mum war immer noch nicht aus dem Laden gekommen. Die Jungen bemerkten mich und schauten zu mir rüber, sie flüsterten miteinander. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich wusste, was nun passieren würde, aber Mum hatte gesagt, ich sollte nicht weggehen.

Sie kamen zu mir und ihr Gang wurde immer angeberischer.

»Bist du ein Zigeuner?«, fragte einer. Er war kleiner, aber kräftiger als ich.

Ich schüttelte den Kopf.

»Du siehst aber so aus, stimmt’s, Rhys?« Er wandte sich an den Jungen, der direkt neben ihm stand.

Ich ballte meine schweißnassen Hände zu Fäusten. In den gebatikten Scheißklamotten, die Mum mich damals tragen ließ, fiel ich eben auf.

»Kannst du nicht sprechen?«, fragte der Dritte und kam noch näher.

»Doch.«

»Ha. Er ist Engländer. Ein englischer Zigeuner.«

»Bin ich nicht.«

Die fünf umringten mich. Der Typ, der Rhys hieß, schlug mir auf den Kopf. Ich rappelte mich auf, wollte über die Lehne der Bank springen und in den Laden rennen, doch der Kräftige packte mich und trat mir gegen die Knie.

Kracks!

Ich schlug hart auf dem Boden auf und riss mir die Arme vors Gesicht. Der erste Tritt war nicht so fest, wie ich erwartet hatte – das war die Kostprobe. Vielleicht hatten sie so was noch nie gemacht. Aber er landete in meinem Magen und mir blieb die Luft weg.

»Mach weiter, Huw! Gib’s ihm!«

Der zweite Tritt traf meine Arme, weil der Junge mein Gesicht erwischen wollte. Sie lachten.

»Zigeuner!«

»Bastard!«

»Tretet ihm den Schädel ein!«

Von allen Seiten trafen mich Tritte, am Rücken und an den Beinen, an meinen Armen, mit denen ich immer noch meinen Kopf schützte, an der Brust, im Magen. Ich hatte keine Chance zurückzuschlagen.

Bitte lass Mum nicht rauskommen und das hier sehen. Bitte.

Bitte mach, dass es aufhört.

Es hörte aber nicht auf. Außer dem Lachen war da plötzlich ein anderes Geräusch. Ein Motorengeräusch. Das näher kam.

Die Tritte von vorn ließen mit einem Mal nach.

»Ihr seid ja ein paar mutige kleine Scheißer. Fünf gegen einen.«

Die Tritte von hinten auch.

»Macht, dass ihr wegkommt. Es sei denn, ihr wollt, dass ich auch mitmache.«

Füße trommelten auf dem Asphalt, rannten davon. Kräftige Hände zogen mich hoch.

»Alles in Ordnung, Junge? Lass mich mal sehen.«

Jemand schob mir meine Hände vom Gesicht. Ein großer Mann in Lederhose und schwarzer Weste, mit Tattoos auf beiden Armen – keltische Muster –, braunen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden waren, und Bart. Seine Brusthaare quollen aus dem Ausschnitt seiner Weste. Neben uns dröhnte der Motor der Harley.

»Hast ein bisschen Ärger gehabt, was?« Er grinste mich an und wischte mir das Blut von der Nase. Seine Hand war warm von der Sonne und so haarig wie der ganze Rest von ihm.

Ich nickte.

»Nichts passiert?«

»Nein, mir geht’s gut.« Ich setzte mich auf. »Danke.«

»Keine Ursache.« Er streckte mir die Hand entgegen. »Cole.«

»Ryan!«, kreischte Mum, ließ ihre Taschen fallen und rannte auf uns zu. »Was ist passiert?«

Cole stand auf. »Er hatte ein bisschen Ärger mit den Dorfjungs, aber ihm geht’s gut.«

Mum blieb abrupt stehen.

Er sah sie an. Und sie sah ihn an. Und das war’s.

Eine Woche später zog er bei uns ein.

 

Ich lief durch die Stadt und hielt für Mum Ausschau nach Läden, in denen Kunsthandwerk verkauft wurde. Es gab ein paar, die infrage kamen. Ich notierte mir die Namen. Ich wollte Mum mit irgendwas gnädig stimmen, denn wenn sie rausfand, was ich plante, würde sie ausrasten.

Whitmere sah wie die meisten anderen Kleinstädte aus, in denen wir anlegten – nur dass sich am Stadtrand ein See befand. Es gab ein paar Straßen mit Läden und eine bunte Mischung von Häusern – von großen vornehmen Villen bis hin zu armseligen Bauernhütten. Wahrscheinlich konnte man in weniger als einer halben Stunde von einem Ende zum anderen laufen. Ich ging am Rand einer Siedlung mit Sozialwohnungen vorbei und bog dann in eine Straße ein, die laut Hinweisschild zum Jachthafen führte.

Die Bootswerft war größer als erwartet, aber es schien nicht viel los zu sein, wenn man berücksichtigte, dass eine ganze Menge Boote dort lagen. Eine Katze mit rotem Fell sonnte sich auf dem Dach eines Transporters und beobachtete mich. Ein alter Mann arbeitete in den Docks am Rauchabzug eines Hausboots, sein kahler Schädel war von der Sonne verbrannt. Er blickte auf, als ich zu ihm rüberging, und kniff die Augen zusammen, bevor er sie mit der Hand abschirmte.

Ich beschloss, den ersten Schritt zu machen. »Entschuldigen Sie bitte, ist der Besitzer da?«

Er musterte mich von oben bis unten. »Ja, Junge, da drüben, ganz hinten im Schuppen, er prüft eine Lieferung.«

»Danke.«

Der Schuppen war so groß wie eine Scheune. Zuerst konnte ich niemanden sehen. Ich ging hinein und entdeckte einen Mann, der sich im hinteren Teil des Schuppens über eine Kiste beugte und Taurollen zählte.

»Hallo?«, rief ich.

Er richtete sich auf. »Ja?«

»Entschuldigen Sie bitte die Störung. Äh, haben Sie vielleicht kurz Zeit?«

Er lachte und legte eine Taurolle weg. »Das hängt ganz davon ab, wie viel dir das wert ist.« Er kam zu mir rüber und klopfte sich die Hände an seiner Jeans ab. »Was kann ich für dich tun?«

Mein Magen beruhigte sich, als ich die Tattoos auf seinen Armen und den Ring in seiner Augenbraue sah. Er war ungefähr in Coles Alter und hatte die gleiche Größe und Statur.

»Ich suche Arbeit. Vielleicht können Sie Hilfe gebrauchen?«

Er sah sich um. »Ich seh hier kein Schild, auf dem ich einen Job anbiete, du?«

»Nein.« Ich hob die Schultern und versuchte zu lächeln. »Ich dachte, ich frag trotzdem mal, kostet ja nichts.«

Er schnaubte. »Wie alt bist du?«

»Sechzehn.«

»Schon mal auf einer Bootswerft gearbeitet?«

»Nein, aber …«

»Überhaupt schon mal gearbeitet?«

Ich senkte den Kopf. »Nein.«

In der Stille, die nun folgte, bereitete ich mich innerlich darauf vor, mich zu entschuldigen und dann zu verschwinden. Es gab andere Werften, bei denen ich es versuchen konnte, diese war einfach die nächstgelegene. Er lachte wieder.

»Dann hast du dir auch noch keine schlechten Gewohnheiten zugelegt.« Ich blickte rasch auf und er zwinkerte mir zu. »Komm schon, überzeug mich.«

Ich holte tief Luft. »Hm … äh … Ich suche nach einer Arbeit, die mit Booten zu tun hat, weil ich davon was verstehe. Es ist das erste Mal, dass ich es versuche. Die Werft ist groß, also dachte ich, hier gibt es vielleicht ein paar Sachen, die ich für Sie machen kann. Ich kenne mich mit Hausbooten aus. Wir haben eins, solange ich denken kann. Ich bin damit aufgewachsen und mache alles, was so anfällt. Vor harter Arbeit habe ich keine Angst oder davor, mir die Hände schmutzig zu machen, und …«

»Hoho! Nun mal langsam!« Er hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen, aber er lächelte dabei. »Bist du von hier?«

»Äh … nein …« Jetzt kam der schwierige Teil.

Er runzelte die Stirn. »Gerade hierhergezogen?«

»Ja.«

»Und woher stammst du dann?«

Ich stieß einen Seufzer aus. Genauso gut konnte ich gleich gehen. »Nirgendwoher. Wir ziehen rum. Den Winter über bleiben wir hier.«

Er rieb sich das Kinn. »Du bist einer dieser Nichtsesshaften? Ohne festen Wohnsitz?«

Ich nickte.

»Bist du polizeilich bekannt?«

»Nein.«

»Vorstrafen? Irgendwelche Verwarnungen?«

»Nichts von alledem.«

»Also, du sagtest, du hättest ein Boot. Das heißt, du wohnst da drauf?«

»Ja, ich und meine Mutter. Sie macht Schmuck. Gute Sachen, nicht so wertloses Zeug.«

Seine Lippen kräuselten sich nachdenklich. »Du hast ehrlich gesagt, was los ist. Du hättest auch lügen können«, sagte er schließlich.

»Ich lüge nicht.«

»Ich habe zwar keine Hilfe gesucht, doch jetzt, wo du vor mir stehst und mir welche anbietest – ich könnte hier doch gut ein Paar Hände mehr gebrauchen. Die Urlaubssaison ist fast vorbei, und ich kriege bald Boote rein, die komplett überholt werden müssen. Ich könnte noch mehr Hausboote annehmen, wenn ich jemanden hätte, der sich damit auskennt.« Er nickte langsam. »Du siehst nicht aus, als ob du beim Abpumpen des Abwassertanks umkippst oder zusammenbrichst, wenn du mal was Schweres tragen musst.«

Ich schüttelte den Kopf und fragte mich im gleichen Augenblick, ob ich besser nicken sollte.

Trotzdem hatte er mich verstanden. »Einen festen Vertrag kann ich dir nicht geben. Du fängst als Gelegenheitsarbeiter an, und wenn du dich hier beweist, gebe ich dir ein gutes Empfehlungsschreiben mit auf den Weg.«

»Damit bin ich einverstanden.«

»Höflich genug bist du auch. Ich könnte dich samstags im Laden gebrauchen. Wir haben ziemlich viel Laufkundschaft am Wochenende. Kann ich dir die Kasse anvertrauen?«

Ich biss die Zähne zusammen. »Ja, das können Sie.«

Er schmunzelte. »Wie ich sehe, kannst du dich auch gut beherrschen. Das ist wichtig im Umgang mit Kunden, vor allem mit einigen dieser eingebildeten Saukerle, mit denen du hier zu tun hast. Nur die Ruhe, Junge. Ich bin nicht blöd. Ich kann Ärger sozusagen riechen. Und bei dir rieche ich nichts. Du kannst es bei mir versuchen, wenn du willst. Es tut gut, jemanden in deinem Alter zu sehen, der den Arsch hochkriegt und arbeiten will.« Er streckte mir die Hand hin. »Ich heiße Pete und das da drüben ist Bill.«

Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht, als ich ihm die Hand schüttelte. »Ryan. Und vielen Dank auch!«

Mein erster Job. Mann!

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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