33_Jenna

Mein Handy klingelte, und ich sprang auf, um ranzugehen. Ryans Stimme klang aufgewühlt.

»Jenna? Ich bin beim Stall. Können wir uns sehen?«

»Ich weiß nicht genau. Ich versuch’s. Gib mir ein paar Minuten Zeit. Wenn ich nicht kommen kann, rufe ich dich an.«

Als ich runterkam, saß Mum immer noch am Küchentisch.

»Wo ist Dad?«

»Er telefoniert mit der Polizei. Ich habe Charlie zum Spielen nach oben geschickt. Er weiß, dass irgendwas nicht stimmt, aber ich will nicht, dass er etwas mitbekommt. Wie fühlst du dich?«

»Ach, ganz okay. Du hattest recht – es war der Schock. Es hat sich noch keiner um die Pferde gekümmert. Ich geh kurz runter und sehe nach ihnen.«

Auf ihrer Stirn erschien eine Falte. »Soll ich mitkommen?«

»Nein, du bleibst hier bei Dad. Ich nehme Raggs mit. Es ist doch mitten am Tag, und wenn da irgendjemand ist, wird er losbellen. Ich habe mein Handy dabei und bin ja wirklich nicht weit weg.«

»Ich weiß nicht …«

»Ich bleibe nicht lange. Und Dad braucht dich vielleicht. Wir können die Ponys nicht noch länger sich selbst überlassen, sonst frisst sich Ollie durch die Hecke. Es wird schon alles gut gehen. Mir passiert nichts auf der Koppel.«

»Na schön«, sagte sie zögerlich, »aber beeil dich.«

Ich rannte durch den Garten und Raggs stürmte neben mir her. Als ich den Riegel des Gatters mit einem Klacken wieder verschloss, tauchte Ryans Kopf hinter der Seitenwand des Stalls auf. Ich lief zu ihm. »Geht es dir gut? Bist du … uff!«

Er umarmte mich so fest, dass er mir fast die Luft abschnürte, und ich umarmte ihn ebenfalls, während Raggs seine Turnschuhe fleißig mit der Zunge bearbeitete. Ich versuchte, mich aus seiner Umarmung zu befreien. »Ich kann nicht lange bleiben. Mum macht sich totale Sorgen. Wie ist es gelaufen?«

Ryan küsste mich auf die Nase und gab mich frei. »Die Polizei wollte wissen, ob wir etwas gehört hätten. Mum hat mich gedeckt, und sie hat mir befohlen, nichts von der Prügelei zu erzählen, also habe ich auch nichts gesagt. Ich habe behauptet, ich sei vom Rad gefallen.«

»Haben sie dir geglaubt?«

»Ich denke schon. Schwer zu sagen.«

»Sie müssen erst mal jeden verdächtigen. Das ist ihr Job. Ich weiß noch, wie es war, als sie mich nach dem Unfall befragt haben.«

»Da ist noch was«, sagte er und sah mir forschend ins Gesicht. »Ich musste ihnen erzählen, dass du meine Freundin bist. Sie haben gefragt, ob ich Carlisle kannte. Ich habe ihnen nicht alles erzählt, aber … ach, das würde einfach zu weit führen. Es tut mir leid. Ich will nicht, dass du Ärger bekommst, aber ich konnte es nicht verhindern.«

Sein Gesicht war blass, wodurch die blauen Flecken umso deutlicher hervorstachen. Wieder legte ich ihm meine Arme um die Taille.

»Bin ich deine Freundin?«

Er blickte mich verwirrt an.

»Ich frage nur, weil du mir das noch gar nicht erzählt hast.« Ich rang mir ein Lächeln ab, um die Anspannung, die ich in seinen Muskeln fühlte, zu lösen. »Oder mich gebeten hast, es zu werden.«

Er lachte und zog meinen Kopf näher zu sich heran. »Ja, das bist du.«

»Und ich habe dazu nichts zu sagen?«

»Nein, das habe ich für dich entschieden.«

Ich stieß ihn sanft gegen die Brust. »Eingebildeter Kerl.«

Er legte sein Kinn auf meinen Haaren ab. »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du morgen mit mir ins Kino gehst, aber ich glaube kaum, dass sie dir das jetzt erlauben.«

»Kaufst du mir Popcorn?«

»Jawohl.« Ich spürte, wie er grinste. »Vielleicht lad ich dich sogar zur Pizza ein.«

»Dann ist es abgemacht. Und du kannst es mir überlassen, wie ich das erkläre. Ruf mich um … äh, um welche Zeit an?«

»Um elf. Wir können vorher noch was zu Mittag essen.«

»Gut, dann um elf. An unserer Hintertür. Was gucken wir uns an?«

»Das ist eine Überraschung. Aber soll ich dich wirklich bei dir zu Hause abholen? Was ist –«

»Ich hab doch gesagt, ich kläre das.«

»Okay, wenn du dir sicher bist … oh nein!«

Ich riss den Kopf hoch, um ihn anzusehen. »Was ist denn?«

Er lächelte schief. »Ach, nur das hier.« Und dann küsste er mich. Richtig.

»Du bist echt durchtrieben«, sagte ich, als ich mich einige Minuten später von ihm löste. »Oje – ich hab nicht mehr viel Zeit und ich muss noch die Pferde füttern. Hilfst du mir?«

»Womit fütterst du sie denn?«

»Ich kippe eine Tüte von den Pony-Pellets in die Futterraufe.«

»Überlass das mir. Ich mach das dann schnell. Wir können doch nicht unsere wertvolle Zeit vergeuden.« Er blickte hinunter auf seine Füße. »Deine Töle zerkaut übrigens gerade meine Schnürsenkel.«

»Raggs, hör auf damit!«

Wie immer beachtete Raggs mich gar nicht.

»So gut erzogen«, murmelte Ryan und beugte den Kopf, um mich wieder zu küssen.

Als wir hoch zum Gatter gingen, hielt er meine Hand. »Du glaubst mir, oder? Ich weiß, ich habe ihn geschlagen, aber –«

Ich legte ihm den Finger auf die Lippen, aber seine haselnussfarbenen Augen hörten nicht auf, mich fragend anzusehen. »Ich weiß. Ja, ich glaube dir.«

Ich fühlte mich schuldig, dass ich das überhaupt in Betracht gezogen hatte. Auf keinen Fall konnte er so betrunken gewesen sein, dass er jemanden umgebracht hatte, ohne es zu merken.

Ich beugte mich vor, um mir Raggs unter den Arm zu klemmen, und zog Ryans Kopf für einen letzten Kuss zu mir herab. »Bis morgen!« Dann rannte ich schnell durch den Garten, bevor Mum herauskam, um nach mir zu sehen.

 

Als es an der Tür läutete, war ich oben und sortierte die Wäsche für Mum. Ich spähte durch das Fenster und sah einen Polizeiwagen in der Auffahrt. Die Tür zu Charlies Zimmer war immer noch zu, und die Geräusche seiner Playstation schallten hindurch – bei diesem Lärm hatte er bestimmt nichts mitbekommen. Ich hörte, wie Dad die Polizisten ins Arbeitszimmer führte, dann hastete ich mit der Wäsche unter dem Arm nach unten. Mum saß in der Küche am Tisch und drehte die Ringe an ihren Fingern.

»Leg einfach alles da drüben hin«, sagte sie. »Sie wollen auch mit uns sprechen.«

Ich brachte die Wäsche weg und setzte mich zu ihr an den Tisch. Bis auf das Ticken der Wanduhr war es im Haus seltsam ruhig. Aus dem Arbeitszimmer drang kein Laut.

Es musste mindestens eine halbe Stunde vergangen sein, bevor die beiden Polizisten wieder herauskamen. Mum stand wortlos auf und zeigte ihnen den Weg ins Wohnzimmer. Ich blieb allein zurück, saß da und starrte die Tür des Arbeitszimmers an, weil ich hoffte, Dad würde herauskommen. Aber er kam nicht. Bei Mum brauchten sie nicht so lange, und als sie fertig waren, führte sie die Beamten in die Küche.

Die Polizistin lächelte mich an. »Ich bin Hauptkommissarin Evans, Jenna, und das ist mein Kollege, Hauptkommissar Plummer. Wir haben nur ein paar Fragen. Es dauert nicht lange. Du musst keine Angst haben.«

»Okay.«

»Es geht um gestern: Kannst du uns ganz genau erzählen, was du gemacht hast, nachdem du aus der Schule gekommen bist?«

»Ja, natürlich.« Damit würde ich spielend fertigwerden. Nach dem Unfall hatte ich unzählige Befragungen über mich ergehen lassen müssen, all die Fragen, all die unbedeutenden Details. »Äh, ich bin mit dem Bus nach Hause gefahren und hier gegen halb fünf angekommen. Mum und ich sind mit meinem kleinen Bruder zum Supermarkt gefahren. Da haben wir eine Kleinigkeit gegessen – Charlie mag so gern Fisch und Chips in dem Café dort.«

Die Kommissarin lächelte. »Klingt, als wäre er mein Sohn. Wann wart ihr vom Einkaufen wieder zurück?«

»Zwischen halb sieben und sieben. Charlie und ich haben Hausaufgaben gemacht und dann haben wir ein bisschen Fernsehen geschaut. Charlie ist gegen zehn ins Bett gegangen. Kurz danach ist Dad nach Hause gekommen.«

»Weißt du vielleicht noch genau, wie spät es da war?«

»Zwischen fünf und zehn Minuten nach zehn. Auf keinen Fall später, weil wir BBC 1 geschaut haben und die Nachrichten gerade erst angefangen hatten.«

»Hast du deinen Vater gesehen, als er hereinkam?«

»Er war zuerst ein paar Minuten in der Küche, hat sich mit Mum unterhalten und sich was zu trinken gemacht. Dann kam er ins Wohnzimmer zum Fernsehen. Ich war noch ein bisschen auf, doch dann bin ich ins Bett gegangen.«

»Und dein Vater hat da immer noch Fernsehen geschaut?«

»Ja.«

»Und wie spät war es da?«

»Ungefähr halb zwölf.«

»Es war nach elf?«

»Ja.«

»Und da bist du dir sicher?«

»Ja, ganz sicher.«

Sie nickte. »Was hatte dein Vater an, als er nach Hause kam?«

»Seine Büroklamotten. Seinen blauen Nadelstreifenanzug. Ach ja, und ein rosa Hemd. Ich kann mich deswegen so gut daran erinnern, weil ich ihm schon so oft gesagt habe, wie doof das zu dem Anzug aussieht. Aber er hört ja nicht auf mich.«

Jetzt lächelten beide. »Noch eine letzte Frage«, sagte der Kommissar. »Ist dir irgendetwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?«

Er ist nicht völlig blutbespritzt nach Hause gekommen, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen! »Nein, nichts, alles war ganz normal.«

Hauptkommissarin Evans stand auf und wandte sich an Mum. »Ich denke, das war’s dann erst mal. Es ist nicht nötig, dass wir zu diesem Zeitpunkt mit Ihrem Sohn sprechen, denn er war ja schon im Bett, als Ihr Mann nach Hause kam. Es könnte allerdings sein, dass wir ihn später doch noch befragen müssen, das hängt von den Ergebnissen der kriminaltechnischen Untersuchung ab. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Da wäre jetzt nur noch die Sache mit der Kleidung Ihres Mannes …«

»Ja, ich hole sie gleich«, sagte Mum.

»Warum denn das?«, fragte ich empört. Sie behandelten ihn wie einen Verdächtigen, dabei hatte er doch gar nichts getan.

»Reine Routine«, erklärte Hauptkommissar Plummer. »So können wir deinen Vater aus unseren Untersuchungen herauslassen.«

Mum ging mit ihnen nach oben, und kurze Zeit später kamen sie mit einem durchsichtigen Plastikbeutel, in dem sich Dads Klamotten befanden, zurück. Mum rief nach Dad, er kam aus dem Arbeitszimmer, und die Kommissare bedankten sich bei ihm, bevor sie gingen.

Ich hatte das Gefühl, das ganze Haus seufzte vor Erleichterung, als ihr Auto knirschend von der Auffahrt fuhr. Dad lehnte an der Tür des Arbeitszimmers, sein Gesicht schien innerhalb eines Tages um zehn Jahre gealtert zu sein.

»Ich hab Hunger.« Charlie stand oben an der Treppe und trat gegen die Fußleiste.

Mum keuchte auf. »Ach, mein Schatz, es tut mir leid. Jenna macht dir schnell was zu essen, nicht wahr, Jen?«

Ich wurde mit ihm in die Küche geschickt, während sie und Dad sich im Arbeitszimmer unterhielten.

Mein Bruder setzte sich auf den Tisch und ließ die Beine baumeln. Ich machte ihm ein getoastetes Sandwich. Er beobachtete mich und schürzte dabei die Lippen. Wenn er das tat, sah er wie eine Miniausgabe von Dad aus.

»Was ist denn los, Jen?«

»Erwachsenenkram. Willst du Tomaten drauf haben?«

»Nein. Ich will wissen, was los ist.«

»Tja, darfst du aber nicht.« Ich legte das Brot in den Sandwichtoaster und verschränkte die Arme.

»Wenn du es mir nicht erzählst, sage ich Dad, dass du die ganze Nacht weg warst.« Als er sah, wie ich zusammenzuckte, grinste er. »Also sag es mir lieber.«

»W-war ich nicht.«

»Doch, warst du. Ich hab dich gesehen, als du zurückgekommen bist.«

Mein Puls beschleunigte sich. »Du lügst.«

»Ach so? Ha! Das glaube ich kaum. Ich bin heute ganz früh aufgewacht. Ich hatte schlecht geträumt und bin runtergegangen, um mir Kekse zu holen. Raggs wollte raus, deshalb habe ich ihn rausgelassen. Und dann kam er nicht mehr zurück und ich musste ihn wieder einfangen.«

Er bluffte. Ganz bestimmt.

»Er wollte unbedingt auf die Koppel. Ich musste ihn richtig wegziehen.«

Vielleicht stimmte es doch – mir fiel ein, dass Raggs gar nicht rausgewollt hatte, als ich am Morgen ins Haus gekommen war.

»Ich war gerade dabei, wieder zurück ins Bett zu gehen, da habe ich gesehen, wie du durch den Garten gekommen bist.« Er blickte mich triumphierend an. »Siehst du!«

»Halt den Mund, Charlie! Das darfst du Dad nicht erzählen.«

Er grinste. »Dann erzählst du mir jetzt lieber, was hier los ist, oder ich sage ihnen, dass du dich mit einem Jungen triffst.«

»Was für ein Junge? Es gibt keinen Jungen. Sei kein Dummkopf.«

»Und wen hast du dann am Gatter geküsst? Ein Gespenst?« Er verzog das Gesicht. »Igitt! Es war so ekelhaft. Ich habe euch beobachtet. Ihr habt euch überall abgeschleckt.«

»Haben wir nicht!«

Er boxte in die Luft. »Na bitte! Du hast es zugegeben.«

»Miese kleine Ratte!«

Er kicherte. »Tja. Also, sagst du es mir …«

Ich sah ihn missmutig an. Ich musste ihm irgendwas erzählen. Er würde das mit Steven Carlisle sowieso in der Schule erfahren, aber Dad ließ ich aus dem Spiel.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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