50_Ryan
Mein Handy vibrierte und ich klappte es auf.
Bitte lass es nicht Cole sein, der jetzt doch nicht kommen kann.
Es war nicht Cole.
»Meine Freundin«, sagte ich zu der Polizistin, die auf mich aufpasste.
»Willst du rangehen?«
»Nein, jetzt nicht.«
Ich steckte das Handy weg und blickte mich zum zweihundertsten Mal im Warteraum um. Es gab nicht viel zu sehen. Nackte Wände, an denen ein paar Plakate mit Telefonnummern von Beratungsstellen hingen. Ich hatte sie schon so oft durchgelesen, dass ich die Nummern fast auswendig konnte. Der Raum war größer als jedes einzelne Zimmer auf unserem Boot, trotzdem fühlte ich mich wie in einer Gefängniszelle.
»Es dürfte nicht mehr allzu lange dauern«, sagte die Polizistin und blickte auf die Uhr. »Willst du noch was trinken?«
Ich schüttelte den Kopf. »Könnte ich bitte zur Toilette gehen?« Meine Blase meldete sich schon seit einer Stunde – bestimmt die Nervosität –, aber ich wusste nicht, ob das überhaupt erlaubt war.
»Natürlich.«
Sie stand auf, um mich zu begleiten, und ich kam mir vor wie ein Idiot – sie hätten mich ja wohl kaum auf den Boden pinkeln lassen.
Zurück im Warteraum, vergingen weitere fünfzehn Minuten, bis sich die Tür öffnete und ein Polizist Cole hereinwinkte.
Bei seinem Anblick brannten meine Augen vor Erleichterung. Da war er – groß, haarig, ganz in Leder, seine Präsenz erfüllte den Raum. Ich stand auf und stieß dabei den Tisch zur Seite.
»Komm her, Junge«, sagte er und zog mich in eine bärige Cole-Umarmung. »Verdammt, Ryan, du bist schon wieder gewachsen. Bald bist du größer als ich, du langes Elend.« Er brach in sein »Scheiß auf Autoritäten«-Ganzkörperlachen aus und ich umarmte ihn noch fester.
Ich wollte niemals größer werden als er.
»Ich möchte ein paar Minuten mit ihm allein sein«, sagte er zu der Polizistin. »Wären Sie so nett, uns einen Kaffee zu holen, meine Liebe? Und haben Sie schon den Pflichtverteidiger verständigt? Sonst wird er gar nichts sagen.«
Sie antwortete irgendetwas, aber ich hörte nicht zu. Cole kümmerte sich jetzt um alles. Mein Kopf lag auf seiner Schulter und ich atmete den Geruch von Leder und Sicherheit ein.
»Ich habe Karen abgeholt. Sie ist draußen. Ich musste sie mitbringen, vielleicht brauchen sie ihre Zustimmung, damit ich dein Beistand sein kann. Außerdem wollte sie hier sein. Möchtest du sie sehen?«
»Ich kann nicht. Nicht jetzt. Ist sie okay?«
»Ja, natürlich. Karen ist Karen. Sie kocht vor Wut. Sie klärt gerade den diensthabenden Beamten in voller Lautstärke über die Verfolgung von Kindern und Minderheiten auf.«
»Neeeein …«, stöhnte ich.
Wieder lachte er und wiegte mich so stark hin und her, dass ich von einem Fuß auf den anderen wankte. »Mach dir keine Sorgen. Lass sie toben. Es hebt ihre Stimmung, sich wegen dir so aufzuregen.«
»Aber es geht ihr nicht gut.«
»Das habe ich gemerkt. Aber jetzt ist sie ja hier und zeigt es ihnen. Hat sich einfach aus ihrem schwarzen Loch herausgeschimpft. Überlass es denen, damit fertigzuwerden. Du bist ihr Kind – sie erwarten doch, dass sie ihnen das Leben schwer macht.«
Ich löste mich von Cole, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. Ich wollte dort bleiben, wo ich – sicher war. »Ich war’s nicht.«
Er wuschelte mir durch die Haare. »Das weiß ich doch, dämlicher Mistkerl.«
»Ich hab mich aber mit ihm geprügelt. Wahrscheinlich haben sie DNA-Spuren von mir bei ihm gefunden. Ich vermute, dass die Ergebnisse da sind.«
»Hm, Karen hat es mir erzählt.« Er nahm mein Gesicht zwischen seine tellergroßen Hände. »Jetzt hör mir zu: Du wirst ihnen alles sagen. Dass es deine Mutter war, die dir befohlen hat, den Mund zu halten. Dass sie krank ist. Du sagst einfach alles, klar? Erzählst ihnen ganz genau, was mit ihr nicht stimmt. Egal, welche Konsequenzen das hat. Verstanden, Ryan? Du weißt nicht, was sie wissen. Dir bleibt nichts anderes übrig, als genau zu erzählen, was wirklich in dieser Nacht passiert ist.«
Aber Jenna … das kann ich ihnen nicht erzählen …
»Danke, Cole. Dass du gekommen bist. Ich wusste nicht … ich hatte nicht …«
»Dafür nicht.« Er stieß seinen Kopf gegen meinen. »Jetzt konzentrier dich, wir müssen dich hier rausholen.«
Der Pflichtverteidiger kam kurz nach Cole. »Ryan Gordon?« Er streckte die Hand aus. »Meine Name ist James Gregson.«
»Ich war’s nicht«, sagte ich sofort, dann merkte ich, dass ich ihm die Hand geben sollte. »Oh, tut mir leid.«
»Er hat es wirklich nicht getan«, sagte Cole. »Und Sie sagen ihm jetzt, wie er sich verhalten soll, um hier rauszukommen.«
»Nun, äh … jetzt, es ist leider ziemlich –«
»Himmel!« Cole seufzte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Erklären Sie ihm einfach seine Rechte.«
Mr Gregson informierte mich über die Rechtslage. Ich kapierte nicht alles, Cole schon. Dann erschienen zwei Kommissare, beide waren ungefähr Mitte dreißig. Sie stellten sich vor und setzten sich mir gegenüber.
Als sie fragten, ob ich bereit sei, nickte ich mit trockenem Mund.
»Erzähl uns, was in der Nacht, in der Steven Carlisle ermordet wurde, passiert ist.«
»Ich bin von der Arbeit nach Hause gekommen. Meine Mutter und ich hatten einen Streit, dann bin ich abgehauen und zum Dorfladen gegangen. Ich habe mir eine Flasche Wodka gekauft. Als ich aus dem Laden kam, hat sich Carlisle auf mich gestürzt. Wir haben uns geprügelt und dann ist eine Frau aus einem Haus gekommen und hat losgeschrien. Carlisle ist in die eine Richtung weggerannt und ich in die andere.«
»Und um welche Zeit war das ungefähr?«
»Gegen halb sieben.«
»Erzähl weiter.«
»Ich wollte nicht nach Hause, weil meine Mutter so wütend war, deshalb bin ich zu meiner Freundin gegangen. Unterwegs habe ich den Wodka ausgetrunken. Ich bin in die Futterkammer, direkt neben dem Pferdestall. Es war kalt, und mir war ganz schwindelig vom Alkohol, deshalb habe ich ein bisschen Stroh aus einem Strohballen gezogen und darauf meinen Rausch ausgeschlafen. Am nächsten Morgen bin ich wieder aufgewacht und noch so lange dort geblieben, bis es hell wurde.«
»Als du Carlisle das letzte Mal gesehen hast, war es also halb sieben?«
»Genau.«
»Warum hat er dich angegriffen?«
»Weil er mich nicht mochte.«
Der Kommissar, der die Fragen stellte, starrte mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten konnte. »Warum?«
»Weil wir herumziehen. Und weil ich mich mit Jenna treffe. Außerdem hatte er was gegen ihren Vater, der diese Aktionsgruppe leitet.« Ich dachte an Coles Aufforderung, absolut ehrlich zu sein. »Und weil ich einem Kerl, den er kennt, eine verpasst habe, als er etwas wirklich Mieses mit meiner Freundin gemacht hat.«
Er blickte auf seine Notizen. »War das der Zwischenfall im Whitmere Rugbyklub?«
»Ja.«
»Erzähl uns, was passiert ist.«
Ich ging alles noch einmal durch: wie ich Ed zu Boden geschlagen hatte und Carlisle hinter mir herkam, wie er mich bedroht hatte, bis der Typ vom Klub auftauchte.
»Hast du seine Drohungen ernst genommen?«
»Nein, ich hab ihn nur für ein Großmaul gehalten, das vor seinen Freunden angeben will. Wenn man herumzieht, gewöhnt man sich an so was. Bis zu diesem Abend in Strenton habe ich ihn nicht mehr wiedergesehen.«
»Hast du Steven Carlisle umgebracht?«, fragte der zweite Kommissar plötzlich und erwischte mich damit kalt.
»Nein!« Ich schluckte und versuchte, ruhig zu bleiben. »Nein. Als ich ihn zum letzten Mal sah, war er noch am Leben und rannte davon. Das schwöre ich.«
Sie glaubten mir nicht, ich sah es an ihren Gesichtern.