45_Jenna
»Das Abendessen ist im Backofen«, rief Mum. »Wann kommt Ryan vorbei?«
Ich ging in die Küche. »In ungefähr zehn Minuten.«
»Ich weiß nicht, wann wir wieder da sind. Manche Eltern brauchen wirklich eine Ewigkeit – ziemlich rücksichtslos.« Sie lächelte. »Ich nehme nicht an, dass dir das etwas ausmacht?«
Nein, ganz bestimmt nicht.
Charlie kam hinter mir hereingeschlurft. »Muss ich wirklich mit? Es ist doch keine Pflicht.«
Dad erschien, er hielt Charlies Jacke in der Hand. »Das ist dein Elternabend. Du kannst dir ruhig anhören, was deine Lehrer zu sagen haben. Oder erwartet uns etwa eine Enttäuschung?«
Mein Bruder schob die Unterlippe vor und hob die Schultern. Ich stupste ihn an und fischte ihm heimlich einen Mitleids-Keks aus dem Glas.
Bevor es an der Hintertür klopfte, war Raggs schon kläffend an uns vorbeigesprungen. Sein Schwanz wedelte wie verrückt.
Mum lachte. »Ich glaube, Ryan ist da.«
Wieder war Ryan so still. Beim Essen redete ich entschlossen auf ihn ein – in der Hoffnung, ihn aufzuheitern. Doch er schien damit zufrieden zu sein, nur zuzuhören, und steuerte kaum etwas zur Unterhaltung bei. »Sehr leckeres Hühnchen« war alles, was er unaufgefordert von sich gab.
»Komm mit nach oben. Ich will dir was zeigen«, sagte ich, nachdem ich die Teller abgeräumt hatte.
In meinem Zimmer guckte er sich mit einem Interesse um, das schon mehr an den normalen Ryan erinnerte. »Schönes Zimmer«, sagte er und fasste an die cremefarbene Tapete. »Ich dachte immer, Mädchen hätten Hunderte von Teddybären in ihren Zimmern.«
Ich hob Barney, meinen abgewetzten schwarzen Bären, hoch und drückte ihn an meine Brust. »Nein, nur diesen einen. Er ist zu besonders, um Rivalen zu haben. Ich habe ihn seit meiner Geburt.«
Ryan schüttelte den Kopf. »Verschwende dich nicht an ihn. Lass das lieber jemandem zugutekommen, der es zu schätzen weiß.«
Ich lachte und setzte Barney zurück auf den Sessel. »Dann komm her.«
Er schlang die Arme um mich, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich eher ihn in den Armen hielt als er mich.
»Ich nehme an, wenn du den Bären nicht betrügst, dann betrügst du mich auch nicht«, sagte er aus dem Nichts heraus.
»Natürlich nicht. Was ist denn bloß los mit dir?«
»Nichts. Sollte eigentlich ein Scherz sein. Ist nur falsch rübergekommen. Was wolltest du mir zeigen? Nein, nicht weggehen …« Er klammerte sich noch fester an mich. »Erzähl es mir.«
»Das kann warten.« Karen ging es wahrscheinlich immer noch schlecht. Manchmal war es bestimmt schwer, ein Junge zu sein. Wenn ich traurig war und umarmt werden wollte, war es völlig in Ordnung, das offen zu zeigen. Für Jungs war das nicht so leicht. Ryan war nicht viel älter als ich und musste trotzdem zu Hause der Erwachsene sein. Wenn er sich also nach Streicheleinheiten sehnte, dann konnte ich das sehr gut verstehen.
Nach ein paar Minuten ließ er mich los. »Nun sag schon, was ist es?«
Ich schob ihn zum Bett. »Setz dich.« Ich wühlte hinten im Schrank herum. »Die habe ich noch nie jemandem gezeigt, seit …«
Als ich mit der Schachtel wieder auftauchte, klopfte er aufs Bett. »Komm her.«
Ich setzte mich neben ihn und holte die verhasste Plastikmaske hervor. »Ich weiß nicht, was ich damit tun soll. Man kann sie nicht verbrennen, denn es könnten giftige Dämpfe entstehen, hat Mum gesagt. Ich kann sie auch nicht in den Müll schmeißen, sie wird niemals verrotten, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie auf einer Müllhalde liegt, wo sie irgendjemand sehen könnte. Ich möchte sie zerstören, sodass nichts mehr von ihr übrig bleibt, aber ich weiß nicht, wie.«
Er griff sich die Maske und drehte sie in seinen Händen. »Die musstest du sechs Monate lang tragen?«
»Ja, dreiundzwanzig Stunden am Tag. Nur zum Waschen durfte ich sie abnehmen. Ich bin fast verrückt geworden. Sie war heiß und unbequem und hat mir in die Haut geschnitten. Ich sah aus wie ein Monster und habe mich nicht mehr wie ein Mensch gefühlt. Ich bin nirgends mehr hingegangen, deshalb haben mir Mum und Dad Raggs gekauft. Damit ich wieder rausgehe. Ich bin mit ihm bis zum Stall gelaufen, und wir haben Stöckchen werfen gespielt, aber sonst bin ich nirgendwohin gegangen. Es hat ja schon zwei Monate gedauert, bis ich es überhaupt zum Stall geschafft habe.« Bei der Erinnerung daran schloss ich kurz die Augen. »Ganz schön gestört, was?«
Er schüttelte den Kopf und hielt mir die Maske vors Gesicht. »Zeig es mir.«
»Das will ich nicht.«
»Das bist immer noch du darunter.« Er legte mir die Maske vorsichtig aufs Gesicht. Ich wehrte mich nicht, aber ich half ihm auch nicht.
Er lehnte sich zurück und sah mich lange an, dann lächelte er. »Es ist nur eine Maske. Etwas, was dir geholfen hat, und nichts weiter. Trotzdem gut, dass du sie jetzt nicht mehr tragen musst.«
Ich nickte und wich zurück.
Er schüttelte den Kopf. »Du denkst, ich hätte das gesagt, weil sie mich abstößt. Manchmal bist du wirklich komisch.«
»Oh, vielen Dank!«
Er nahm mein Gesicht in die Hände. »Ich habe es gesagt, weil sie im Weg wäre, wenn ich dich küssen will.« Plötzlich drückte er mich rücklings aufs Bett. Ich quiekte auf, als sich sein Ellbogen in meinen Arm bohrte. »Mist, tut mir leid, hab ich dir wehgetan?«
»Ja, küss es wieder gut.«
Er strich mir mit seinen Lippen quer über den Mund. »Das kann der blöde Bär nicht, oder?«
Ich glaube, wir hatten die Zeit vergessen. Wir lagen auf meinem Bett und küssten uns, dann sahen wir einander an, um uns anschließend wieder zu küssen. Er streichelte mein Gesicht und ich fuhr mit dem Finger seine Augenbrauen nach. Das hatte ich schon die ganze Zeit tun wollen. Sie faszinierten mich – sie waren kräftig und beschrieben nur einen ganz schwachen Bogen. Jetzt im Winter war seine Haut blasser und die blonden Strähnen in seinem Haar waren nachgedunkelt und hatten sich seiner übrigen Haarfarbe angepasst. Er schnappte sich meine Fingerspitzen, küsste sie und lächelte mich an.
Krach!
Meine Zimmertür knallte gegen die Wand.
Ich fuhr hoch.
Dad stand in der Tür.
»Raus!«, brüllte er Ryan an und ballte die Hände zu Fäusten, bis sie weiß wurden.
»Dad!«
»Verschwinde, bevor ich dich rauswerfe!«
»Es war meine Schuld, nicht ihre«, sagte Ryan auf dem Weg zur Tür, während ich meinen Vater anbrüllte. »Bitte seien Sie nicht wütend auf sie. Es war meine Schuld.«
»Ja, da bin ich mir verdammt sicher. Und jetzt raus aus meinem Haus.«
»Tut mir leid«, sagte er zu Dad und dann zu mir: »Tut mir leid.«
Ich hörte Mums Stimme auf der Treppe. »Was um Himmels willen ist denn hier los?« Und dann Ryans Füße, die die Treppe hinunterliefen.
Dad knallte mir die Tür vor der Nase zu, und ich schoss hinter ihm her, um sie wieder aufzureißen.
Mum stand auf der anderen Seite und wollte gerade in mein Zimmer kommen. Ich rannte fast in sie hinein.
»Ist er weg?«
»Ja. Jenna, was hast du dir denn bloß gedacht? Du weißt doch, dass du keinen Jungen mit auf dein Zimmer nehmen darfst.«
»Das hast du mir noch nie gesagt.«
»Ich habe nicht gedacht, dass das nötig wäre!«
»Wir haben überhaupt nichts gemacht. Dad hat das einfach so vorausgesetzt. Aber es ist gar nichts passiert.«
Sie seufzte. »Tja, viel Glück, wenn du ihn davon überzeugen willst. Ich glaube, es ist besser, er beruhigt sich erst mal, bevor du es versuchst. Wie kannst du erwarten, dass wir dir vertrauen, wenn du so was machst?«
»Aber wir haben gar nichts gemacht!«
»Hör auf rumzubrüllen. Das wird die Laune deines Vaters bestimmt nicht verbessern.« Sie kam in mein Zimmer und setzte sich aufs Bett. »Ehrlich, weißt du, wie viel Zeit es mich gekostet hat, ihn zu überreden, dir eine Chance zu geben? Ihn davon zu überzeugen, dass du in der Lage bist, dich verantwortungsvoll zu benehmen? Und jetzt frage ich mich, ob ich mich die ganze Zeit getäuscht habe.«
»Ach, hör auf, Mum! Ich habe dir gesagt, es ist nichts passiert. Ryan ist traurig, weil seine Mutter krank ist und –«
»Seine Mutter ist krank? Was hat sie denn?«
»Sie hat eine bipolare Störung und –« Ich brach ab, als ich sah, wie sie alarmiert die Augen aufriss. »Was ist?«
»Jenna, vielleicht … nun, ich sage es nicht gerne, weil die arme Frau nichts dafür kann … aber ich bin mir nicht sicher, ob du dort hingehen solltest, wenn es ihr … nicht gut geht. Leute in diesem Zustand können gefährlich sein. Ich weiß, das sind nur die extremen Fälle, aber vor nicht allzu langer Zeit habe ich einen Artikel über jemanden mit dieser Krankheit gelesen. Er hat seine Medikamente nicht mehr genommen, ist Amok gelaufen und hat in einem Einkaufszentrum vier Leute getötet –« Plötzlich verstummte sie und schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh nein! Was ist, wenn sie … oh mein Gott!«
»Sei nicht albern, Mum. Sie ist höchstens 1,50 Meter groß. Als ob sie Steven Carlisle den Schädel hätte einschlagen können.«
»Aber wenn sie wütend war, könnte sie stärker gewesen sein, als du denkst. Das kommt vom Adrenalin –«
»Das ist kompletter Schwachsinn und total übertrieben!«
Mum presste die Lippen zusammen. »Nun, vielleicht hast du recht, aber du solltest dich jetzt erst mal beruhigen. Ich gehe so lange nach unten. Trotzdem besuchst du sie nicht mehr, bis wir das endgültig geklärt haben. Ich möchte Ryans Mutter kennenlernen, bevor ich dich wieder bedenkenlos dort hingehen lasse. Sie tut mir leid, aber du bist meine Tochter, und ich will dich beschützen.«
»Und das ist dir ja bisher ganz fantastisch gelungen!«, schrie ich ihr hinterher, als sie die Treppe hinuntereilte. »Geh schon und erzähl ihm die Neuigkeiten, dann kann er sich darüber auch noch aufregen.«
Ich suchte nach irgendwas, das ich werfen konnte, doch da war nur Barney. Stattdessen brach ich in Tränen aus.
Hör auf, du dämliche, plärrende Kuh. Reiß dich zusammen. Wie muss er sich nach diesem Rauswurf erst fühlen? Mach irgendwas.
Ich wischte mir mit dem Ärmel das Gesicht ab und schlich mich in die Küche, um mein Handy zu holen – keine Nachrichten. Schnell tippte ich eine SMS.
»Sorry. Ich liebe dich XXX.«
Er musste schon gewartet haben, sofort kam eine SMS zurück.
»Alles ok?«
»Ja + bei dir?«
»Ja. Melde mich morgen.«
Ich schickte ihm noch eine SMS und füllte das Display mit lauter X.
Als ich aufsah, stand Charlie in der Tür. Er grinste. »Du hast ja mächtig Ärger.«
»Halt den Mund!«
Er schlenderte in die Küche. »Du solltest besser nett zu mir sein. Als Erstes könntest du mir einen Milchshake machen.«
»Mach dir selbst einen.«
Es streckte mir die Zunge raus. »Wenn nicht, erzähle ich Dad, dass du die ganze Nacht mit Ryan draußen warst, und dann –«
Als er mein Gesicht sah, verstummte er. Charlie drehte sich um … und sah Dad an, der hinter ihm in der Tür stand.
»Charlie, geh nach oben.«
Mein Bruder warf mir einen »Tut mir leid«-Blick zu und schlich dann aus der Küche.
Dad war kreidebleich. »Also?«, sagte er, und es klang, als ob es ihn fast umbrachte, mit mir zu sprechen.
»Es stimmt nicht –«
»Natürlich, war klar, dass du das sagst.«
Ich presste die Zähne aufeinander. »Ist aber so. An einem Morgen habe ich mich mal mit Ryan getroffen, bevor er zur Arbeit gegangen ist. Und Charlie hat gesehen, wie ich wieder zurückgekommen bin. Das ist alles.«
»Und du erwartest, dass ich das glaube?«
»Dann frag doch seine Mutter! Sie wird es dir bestätigen – er war die ganze Nacht über bei ihr.« Das würde sie doch, oder? Sie hatte ja schon der Polizei gegenüber gelogen, was diese Nacht betraf.
»Sie ist wohl kaum vertrauenswürdig.« An seinem Kieferknochen zuckte ein Muskel.
»Sie hat Depressionen, aber sie ist kein Psycho!«
»Ich sage das nur ein Mal, Jenna, und es ist mein voller Ernst: Du wirst diesen Jungen nicht mehr wiedersehen. Du wirst weder zu ihm noch zu seiner Mutter Kontakt haben. Ich erlaube es nicht.« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte ins Wohnzimmer.
Ich stürmte hinter ihm her. »Glaub, was du willst. Aber du wirst mich nicht davon abhalten, Ryan zu sehen. Dazu hast du kein Recht!«
Er saß auf dem Sofa und starrte auf den stumm geschalteten Fernseher. Ich wartete einen Moment. Mum beachtete mich gar nicht. Dann stapfte ich nach oben, damit sie nicht sahen, dass ich weinte.