8_Ryan
Am Montagmorgen schnappte ich mir mein Fahrrad. Mir klingelten immer noch die Ohren vom dem Krach, den Mum beim Herumpoltern in der Küche gemacht hatte. Seit dem Aufstehen hatte sie kein Wort mit mir geredet, nicht mal, als sie mir eine Schüssel Hafergrütze mit Sojamilch vor die Nase geknallt und mir eine Tupperdose mit Salat in den Rucksack geschoben hatte. Ich radelte die dreizehn Kilometer bis Whitmere, raste im Freilauf den langen Berg runter zur Stadt und hoppelte das letzte Stück über Kopfsteinpflaster. Als ob meine Nerven eine weitere Erschütterung gebrauchen konnten.
Zehn vor neun. Ich war früh dran.
Pete streckte den Kopf aus dem Container, in dem sein Büro untergebracht war. »Morgen. Und ein ungemütlicher noch dazu. Komm rein und trink einen Tee, bevor wir loslegen.«
Ich stellte mein Fahrrad an der Seite des Containers ab. Als ich ins Büro kam, gab Pete mir einen Becher Tee. Bill nickte mir zu, zog an seiner Pfeife und stieß eine blaue Rauchwolke aus.
»Siehst du das Hausboot da drüben?« Pete zeigte aus dem Fenster.
Ich schaute nach draußen auf das gelb-schwarze Boot, das im Trockendock lag. »Ja.«
»Es muss überholt werden, übernimm du das. Wie sieht es mit deinen Malerfähigkeiten aus?«
»Ganz gut.«
»Traust du dir auch die künstlerische Richtung zu?«
Ich nickte.
»Gut, ich kann das nämlich nicht. Normalerweise erledigt Bill diese Sachen, aber er hat noch eine Menge zu tun. Und ruf mich regelmäßig, damit ich mir angucke, was du gemacht hast. Ich kann es mir nicht leisten, dass du Mist baust.«
Ich ging zur Spüle, schüttete den heißen Tee in mich rein und nickte.
Pete warf einen belustigten Blick zur Decke. »Setz dich hin und trink in Ruhe aus, Junge. Du machst Bill nervös.«
Ich schlurfte hinüber zu dem freien Stuhl. Bill und nervös? Kaum vorstellbar. Ich hatte noch niemanden gesehen, der weniger nervös wirkte als er.
Um Petes Mund herum zuckte es. »Anfänger-Lampenfieber, was? Ich erinnere mich noch an meinen ersten Arbeitstag als Lehrling in einem Autowerk in den Midlands. Hab mir vor Angst fast in die Hose gemacht.«
Bill lachte rasselnd. »Ja, ja«, sagte er und streckte die Beine aus. »Ich war Elektriker. Großer Betrieb nördlich von hier. Sie haben uns Frischlinge so richtig schikaniert.« Er starrte mich an, und als er an seiner Pfeife zog, wurden die Augen in seinem wettergegerbten Gesicht schmal. »Dann hoffen wir mal, dass der hier besser ist als der Letzte, Pete. Der hat nichts als Ärger gemacht.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und beugte sich näher zu mir. »Der hat es nämlich immer schlimmer und schlimmer getrieben, so lange, bis wir es nicht mehr aushalten konnten. Wir mussten einfach was unternehmen! Und dann haben wir ihn unter dem Lagerschuppen vergraben«, sagte er in heiserem Flüsterton. »Seine Knochen liegen da immer noch.«
Mir klappte die Kinnlade runter – bis ich sah, wie sich Lachfältchen um seine Augen bildeten. Ich bekam meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. Bill zwinkerte mir zu.
Pete schlug mit der Hand auf den Schreibtisch und brach in lautes Gelächter aus. »Dein Gesicht … unbezahlbar!«
Bill kam langsam auf die Beine und legte mir seine schwere Hand auf die Schulter, als er seinen Becher zur Spüle brachte. »Du machst das schon, Junge. Keine Sorge.«
Trotzdem war es ein anstrengender Vormittag. Ich versuchte verzweifelt, alles richtig zu machen und ihnen nicht auf die Nerven zu gehen. Andauernd dachte ich an Cole. Wahrscheinlich, weil ich mit Pete und Bill zusammen war. Sie erinnerten mich irgendwie an ihn und seine Kumpel. Und außerdem liebten sie Boote. Cole liebte sein Motorrad.
Nachdem er zu uns auf das Hausboot gezogen war, fuhr er rüber nach Shrewsbury und nahm mich mit. Eigentlich durfte ich noch nicht mitfahren, doch solche Sachen interessierten ihn nicht, und Mum war so verliebt, dass Cole sie überreden konnte. Er versprach ihr, langsam zu fahren. Vielleicht war es langsam für Cole, aber mir kam es vor, als wolle er die Schallmauer durchbrechen. Er steckte mich in seine alten Lederklamotten, damit ich für einen auf der Lauer liegenden Streifenpolizisten weniger nach Kind aussah. Viele Kilometer rasten wir über die Landstraßen; um nicht runterzufallen, schlang ich die Arme um seine Taille. Ich lernte, zu welcher Seite ich mich in den Kurven neigen musste und wie weit ich mich hinauslehnen durfte.
Wir hielten vor einem Gemeindebauernhof außerhalb von Shrewsbury. »Hier wohnt Jeff«, sagte Cole und hielt die Maschine fest, damit ich absteigen konnte. »Jeff!«, rief er dem kleinen Mann zu, der vorm Haus an einem Motorradmotor herumfummelte.
Der Mann kam zu uns. »Cole, alter Kumpel, wie geht’s?«
Sie klopften sich gegenseitig auf die Schulter und unterhielten sich ein paar Minuten lang über Leute, die ich nicht kannte, bis Jeff fragte: »Tja, und wer ist das hier?«
Cole legte einen Arm um meine Schulter. »Das ist Ryan. Seine Mutter und ich haben uns verliebt und sind jetzt zusammen. Sie lebt auf einem Boot und zieht durch die Gegend.«
»Aha!«, sagte Jeff, und ich verstand nicht, warum seine Stimme so mitfühlend klang. »Wie viel willst du haben?«
»Nichts, Mann, gar nichts. Ich will nur, dass du dich um sie kümmerst. Sie mal ausführst. Sie am Laufen hältst.« Er machte ein Gesicht, wie jemand, der seinen Hund ein letztes Mal zum Tierarzt bringt.
»Cole, was hast du vor?«, fragte ich.
»Muss eine ganz besondere Frau sein«, sagte Jeff.
Coles Griff um meine Schulter wurde ein bisschen fester. »Ja, das ist sie, stimmt’s, Ryan?«
»Äh, ja, stimmt, klar. Aber was hast du vor?«
»Ich kann meine Harley nicht mit aufs Boot nehmen, Junge.«
»Du willst sie hierlassen … Nein, das kannst du nicht …«
»Jeff ist ein alter Kumpel. Ich würde sie keinem anderen geben.«
Jeff schob die Harley zur Garage. »Falls du in der Gegend bist, komm vorbei und dreh eine Runde. Sie gehört immer noch dir. Und wenn du sie zurückwillst …«
Cole hob warnend eine Hand.
»Oh, ja«, sagte Jeff und warf mir einen Blick zu. »Natürlich willst du das nicht.«
»Bist du dir sicher?«, fragte ich.
Er lächelte kurz. »Es ist nur ein Motorrad, Junge.«
Ich hatte trotzdem das Gefühl, dass er einen Teil von sich in dieser Garage zurückließ. Ich hoffe, er hat ihn sich wiedergeholt, nachdem er uns verlassen hatte.
Am Mittag schickte Pete mich in eine Bäckerei in der Stadt. Er sagte, ich solle auch was für mich mitbringen, es war also völlig ausgeschlossen, dass ich die Tupperdose mit Quinoa und Linsensalat in Petes und Bills Gegenwart aus meinem Rucksack holte. Tut mir leid, Mum …
Sie hatte nicht mehr richtig mit mir gesprochen, seit ich ihr von dem Job erzählt habe. Das Einzige, was sie sagte, war, dass sie mich nicht dazu erzogen hätte, »Teil des Systems« zu werden. Doch das war mir egal. Ich wollte endlich eine Erfahrung mit dem »echten Leben« machen.
Irgendwie fühlte ich mich wie ein Rebell. Vor allem, als ich der Frau dabei zusah, wie sie fettigen Speck auf die weißen Sandwichhälften legte. Ich hatte schon mal Fleisch gegessen, aber nicht mehr, seit Cole weg war. Ab und zu verließ er die veganen Pfade und nahm mich mit in einen Burgerladen. An meinen Geburtstagen ging er mit mir zum Essen in den Pub. Auf dem Heimweg teilten wir uns dann eine Rolle Pfefferminz, damit Mum nichts merkte.
Als ich mit dem Essen zurückkam, nahm Pete das Wechselgeld, ohne nachzuzählen, entgegen und stopfte es in seine Hosentasche. Ich fragte mich, ob er es später kontrollieren würde, wenn ich es nicht sah. »Dein Tee steht da drüben, Junge.«
Diesmal setzte ich mich ohne Aufforderung hin.
»Ihr wohnt also auf einem Boot und zieht umher«, sagte Bill und leckte sich die Finger, als er sein Sandwich aufgegessen hatte.
»Äh, ja.«
Er füllte seine Pfeife mit Tabak aus einem rissigen Lederbeutel. »Alle Bootsleute haben das früher so gemacht«, bemerkte er. »Die Lastschifffahrer transportierten auf den Kanälen Waren durchs ganze Land. Sie lebten mit ihren Familien auf den Schiffen und alle halfen mit. Früher gab es ja noch keine Motoren und die Lastschiffe wurden von Pferden gezogen. Wenn sie also an einen Tunnel kamen, konnte das Pferd sie nicht durchziehen. Eins der kleineren Kinder führte das Tier dann um den Tunnel herum. Die anderen lagen zusammen mit ihrem Vater zu beiden Seiten des Bootes auf dem Rücken und stießen sich mit den Füßen an den Tunnelwänden ab. Auf diese Weise schoben sie das Schiff durch den Tunnel. Verdammt harte Arbeit. Mein Großvater ist auf so einem Kahn groß geworden. Hat mir ein paar nette Geschichten von damals erzählt.« Er lächelte. »Tja, alle Bootsleute sind früher mal rumgezogen.«
Als ich mit eingezogenem Kopf durch die Tür kam und dann die hölzernen Stufen der Freiheit hinabstieg, machte Mum ein Gesicht, als ob sie auf einer ranzigen Nuss rumkaute. Sie sagte kein Wort.
»Hey, du warst ja richtig produktiv!«
Sie hatte jede Menge fertiger Halsketten, Ohrringe und Armbänder auf dem Klapptisch ausgelegt. Darunter auch ein ganzer Stapel von diesen Drachen-Armreifen. Wahrscheinlich hatte sie den ganzen Tag ohne Pause daran gesessen. Mich durchzuckte es. Das war kein gutes Zeichen …
»Ich musste mich ja irgendwie beschäftigen, anstatt nur rumzusitzen und mir Sorgen um dich zu machen«, blaffte sie.
Ich dachte an das Essen, das sie mir mitgegeben hatte und das ich unterwegs am Straßenrand für die Vögel ausgekippt habe. Sie war den ganzen Tag über allein gewesen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann das zum letzten Mal der Fall war – jedenfalls nicht, seitdem Cole uns verlassen hatte. Ich dachte daran, wie sehr es mich einengte, immer für sie da zu sein, und wie frei ich mich heute gefühlt hatte. Wie es ihr wohl damit gegangen war, den ganzen Tag hier zu sitzen und Steine zu polieren, bis ich endlich nach Hause kam?
Voller Schuldgefühle setzte ich mich neben sie.
»Es ist alles prima gelaufen heute. Und es bringt uns ein bisschen extra Geld ein. Mann, deine Sachen sind echt klasse. Wirklich schön. Brauchst du Hilfe bei irgendwas?«
Sie holte tief Luft und fuhr sich mit den Fingern durch ihre wirren Haare, um sie zurückzustreichen. »Ich mache jetzt Abendessen. Räum für mich auf und pack die fertigen Sachen in Tütchen.«
»Soll ich die Preisschilder dranmachen?«
»Ja … ja … okay.« Sie zögerte und rang sich ein Lächeln ab. »Es war komisch heute ohne dich.«
Ich griff in meine Hosentasche und zog den Busfahrplan heraus, den ich auf dem Heimweg von Withmere mitgenommen hatte. »Den habe ich dir mitgebracht. Es gibt einen Bus, der hier im Dorf hält. Vielleicht hast du Lust, morgen in die Stadt zu fahren und mal bei den Läden vorbeizuschauen, von denen ich dir erzählt habe. Du könntest rausfinden, wann Markt ist. Und vielleicht ein bisschen shoppen gehen?«
Sie nickte und heftete den Fahrplan an die Pinnwand.
»Die Stadt ist ganz okay«, sagte ich, als sie die Pfanne vom Regal und die Zutaten aus dem Kühlschrank holte. Es gab wohl wieder Tofu und ich schauderte. »Man kann jede Menge entdecken, und ich glaube, dass dir einige Läden gut gefallen werden. Ich wette, es gibt sogar ein Geschäft, in dem du dir neue Materialien besorgen kannst …«
Ich redete weiter, während sie das Abendessen zubereitete. Je mehr ich redete, desto mehr entspannte sie sich, und schließlich plapperte ich einfach vor mich hin, nur um ihr das Schweigen des Tages zu vertreiben.