54_Ryan

Ich musste schließlich doch eingeschlafen sein, denn das Scheppern der Zellentür weckte mich auf.

»Los, komm, Junge. Steh auf.« Es war der Kommissar, der mich verhört hatte.

»Haben Sie die Flasche gefunden? Wie spät ist es?«

»Es ist nach Mitternacht. Und ja, wir haben die Flasche gefunden. Schon vor einer Weile.« Er reichte mir einen Becher Kaffee. »Trink das. Wir haben sogar noch mehr gefunden. Tut mir leid, dass wir dich so lange ohne Nachricht haben warten lassen, aber wir sind auf etwas gestoßen, und ich wurde weggerufen.« Er sah erschöpft aus, seine Augen waren blutunterlaufen.

»Und was ist jetzt?« Ich trank einen Schluck Kaffee, um einen klaren Kopf zu kriegen.

»Du kannst gehen.«

Ich prustete in den Becher. »Aber –«

»Ein Streifenwagen bringt dich und deine Eltern nach Hause.« Er lächelte entschuldigend. »Wir wissen, wer es getan hat, und haben ein volles Geständnis.«

»Wer?« Ich konnte es immer noch nicht glauben – ich durfte nach Hause?

»Der Nachbar der Reeds, John Norman. Seine Tochter starb bei dem Autounfall, den Carlisle verursacht hat.«

Lindsays Vater … »Wie haben Sie es herausgefunden?«

»Charlie Reed hat gesehen, wie er die Kleider vergrub, die er anhatte, als er Carlisle getötet hat. Er hat nichts davon erzählt, bis er herausfand, dass wir den Falschen verhaftet hatten.« Der Kommissar zuckte mit den Achseln. »Er ist noch ein Kind, und er mochte den Mann – er hat nicht begriffen, dass er es jemandem hätte erzählen sollen. Wir mussten Mr Norman nicht mal verhören. Als wir ihm mitteilten, dass wir bereits jemanden verhaftet hatten, ist er mit allem rausgerückt. Ich wollte es dir selbst sagen. Du bist frei, und da draußen warten zwei Leute verzweifelt darauf, dich mit nach Hause nehmen zu dürfen. Also lass uns nachsehen, ob der Streifenwagen schon da ist, einverstanden?«

Als ich das nächste Mal aufwachte, lag ich in meinem eigenen Bett. Ich rieb mir die Augen und griff nach meinem Handy.

Eine neue Nachricht.

»XXX Ruf mich an, wenn du wach bist. Gehe heut nicht zur Schule.«

Das Letzte, was ich gemacht hatte, bevor ich nachts um halb zwei ins Bett gefallen war, war, eine SMS an Jenna zu schicken.

Ich kroch unter der Bettdecke hervor, mein Mund und meine Kehle waren trocken.

»Hey, wie fühlst du dich?«, fragte Cole, als ich auf den Wasserkocher zustolperte. Er und Mum saßen am Tisch und hatten eine Karte vor sich ausgebreitet.

»Ich brauch einen Tee«, ächzte ich und stellte den Wasserkocher an.

Mum sprang auf. »Ich mach das. Setz dich. Ich wärme auch ein bisschen Suppe auf.«

»Danke. Wozu die Landkarte?«

Cole blickte zur Seite. »Ich mach den Tee«, sagte er zu Mum. »Du sagst es ihm.«

 

Später traf ich Jenna auf der Koppel. Sie rannte über das Feld und schlang ihre Arme um meinen Hals. »Geht es dir gut? War es schlimm? Zum Glück bist du wieder draußen. Es ist vorbei. Hast du das mit Mr Norman gehört?«

»Die Polizei hat es mir erzählt.« Für einen Moment hielt ich sie ganz fest, dann schluckte ich schwer und schob sie von mir weg. »Ich muss dir etwas sagen.«

Sie sah zu mir hoch, ihre großen Augen blickten verwirrt. »Was ist los?«

»Wir gehen weg.« Es tut mir leid … Es tut mir leid … Ich will das nicht …

Ihr Kopf zuckte, als ob ich sie geschlagen hätte. »W-was?«

»Mum will weiterziehen.« Ich habe es versucht … habe rumgebrüllt … gekämpft … wir haben uns zwei Stunden lang angeschrien.

»Wann?« Aber sie wusste es schon, das sah ich ihr an.

»Heute. Schon bald. Sie will nicht mehr warten. Nicht nach dem, was passiert ist. Sie will weg von hier.« Ich habe es mit allen erdenklichen Drohungen und Bestechungsversuchen probiert, aber sie hat nicht mal zugehört. »Ich wusste, dass das irgendwann passiert. I-ich hatte nicht gedacht, dass es so schnell geht. Ich dachte, uns würde mehr Zeit bleiben, sonst hätte ich niemals … Deswegen lasse ich mich nie auf eine ernsthafte Beziehung ein. Wir ziehen immer weiter.« Ich wischte ihre Träne mit meinem Hemdärmel weg, doch eine weitere fiel herab und dann noch eine. »Nein, bitte nicht. Es tut mir leid. Ich hätte niemals was mit dir anfangen dürfen, aber ich hatte geglaubt, dass es diesmal anders werden könnte. Ich habe mich geirrt.«

Jenna vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter und ich umarmte sie so fest ich konnte.

»Was soll ich denn ohne dich machen?«, murmelte sie.

»Du unternimmst was mit deinen Freunden. Du wirst glücklich sein. Du wirst du selbst sein. Und du wirst immer daran denken, dass es dir egal sein kann, was die anderen von dir halten – außer den Menschen, die dir etwas bedeuten.« Ich streichelte ihr Haar – ein letztes Mal –, glänzende weizenfarbene Seide.

»Ohne dich kann ich das nicht«, schniefte sie, und ihre Finger verknoteten sich in meinem Hemd.

»Doch. Ich weiß, dass du es kannst.« Ich hob ihr Gesicht zwischen meine Hände und küsste es – küsste es überall.

»Das ist nicht fair«, sagte sie. »Warum tut sie dir das an? Wo bleibst du dabei? Du hast einen Job und –«

»Sie ist krank. So ist es nun mal. Ich kann nicht immer tun, was ich gerade will. Sie braucht mich.«

»Ich brauche dich!« Die Tränen liefen jetzt schneller über ihr Gesicht.

»Mach es nicht noch schwerer. Ich will nicht weg, aber ich muss. Ich habe es versucht, aber …« Bitte nicht, oder du bringst mich auch zum Weinen, und dann wird es nur noch schlimmer.

Sie holte tief Luft, einmal, zweimal. »Ich werde dich nicht vergessen.«

Ich hatte das Gefühl, als steckte ein Messer in meinen Eingeweiden, das sich drehte und mich aufschlitzte. Ich küsste sie ein letztes Mal. »Ich will, dass du mich vergisst.« Ich werde dich nie vergessen. Ich trat einen Schritt zurück. »Ich muss los. Wir legen bald ab. Sie will noch ein bisschen Strecke machen, bevor es dunkel wird.«

Jenna wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

»Ruf nicht an«, sagte ich und wusste nicht, wie ich es geschafft hatte, die Worte auszusprechen. »Das macht es nur schwerer.«

Als ich beim Wäldchen angekommen war, blickte ich noch einmal zurück. Ich befahl mir, es nicht zu tun, doch ich konnte nicht anders. Sie stand noch an derselben Stelle und sah zu, wie ich davonging.

 

Cole stand am Ruder und steuerte das Boot durch den Kanal, weg von Strenton. Ich saß neben ihm, lehnte mich an die Tür und beobachtete, wie das Wäldchen in der Ferne verschwand.

Ich habe vergessen, Danke zu sagen. Dass du mir die ganze Zeit über geglaubt hast. Dass du zur Polizei gegangen und für mich eingetreten bist. Das hätte ich dir sagen sollen.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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