26_Ryan
Die nächste Woche verging wie im Flug. Als ich am Freitagabend von der Arbeit nach Hause kam, hörte ich Mum im Badezimmer singen. Ich guckte auf mein Handy, aber Jenna hatte mir keine SMS geschickt. Wahrscheinlich war sie noch nicht vom Einkaufen zurück. Vielleicht rief sie später an. Und vielleicht könnten wir morgen nach der Arbeit was unternehmen. Irgendwas ganz Normales und nur sie und ich.
Mum tänzelte in ein Handtuch gewickelt aus dem Badezimmer. Ihr Blick war glasig. Ich wusste, was das bedeutete.
»Du gehst aus?«, fragte ich, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand.
»Ja«, erwiderte sie und machte die Tür hinter sich zu.
Ich marschierte zurück zum Schaukelstuhl, setzte mich hin und wartete.
Eine Stunde später kam sie wieder raus, ihr Gesicht war geschminkt und sie roch nach irgendeinem parfümierten Hautöl.
»Wo gehst du hin?«
»In die Stadt. Der Bus fährt in fünfzehn Minuten.«
»In einen Pub?«
»Ja, Ryan, in einen Pub.«
Ihr Blick signalisierte mir, dass ich besser still sein sollte, doch ich schaffte es nicht. »Wahrscheinlich, um mal wieder einen Typen aufzureißen.«
»Was kümmert dich das?« Ihre Stimme zitterte vor Wut. »Was ich tue, geht dich überhaupt nichts an. Kein Mann kontrolliert mich und mein eigenes Kind schon gar nicht.«
»Und was, wenn du dir irgendeinen schrägen Typen angelst? Da draußen gibt’s genug Verrückte. Du kannst nicht immer so weitermachen, Mum. Es ist gefährlich.«
»Dieses Argument benutzen Männer schon seit Jahrzehnten, um ihre Frauen unter Kontrolle zu halten. Seit Jahrhunderten: ›Ihr seid schwach. Ihr braucht uns, damit wir euch beschützen. Geht zurück nach Hause, wo ihr nicht unsere primitive Idee von Männlichkeit bedroht.‹ Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?« Ihre Hände wedelten wie verrückt durch die Luft, ich sollte sie wirklich lieber in Ruhe lassen.
»Was ist daran falsch, wenn ich mir Sorgen mache, dass dir jemand was tut?« Ich wollte gar nicht so aggressiv klingen, aber ich war müde. Ihr Hin- und Hergerenne auf dem Boot und ihr lautes Herumgeklappere mit irgendwelchen Sachen hatten mich fast die ganze letzte Nacht wach gehalten.
Sie lachte. »Tja, wenn du so um meine Sicherheit besorgt bist, dann komm doch mit, setz dich in eine Ecke und geh mir auf dem Heimweg hinterher. Und wenn mir bis dahin noch keiner was angetan hat, kannst du dich selbst ins Bett bringen und dich um deinen eigenen Scheißkram kümmern.«
»Meinst du das ernst? Du willst, dass ich mich da hinsetze, während du irgendeinen Kerl aufreißt?«
Sie stürmte auf mich zu und gab mir einen Stoß. »Warum nicht? Wenn du so um meine Sicherheit besorgt bist. Das ist nämlich totaler Schwachsinn! Du willst mich kontrollieren. Mein Gott, Ryan, ich hab es bei dir versucht. Ich habe es wirklich versucht, aber du bist trotzdem wie all die anderen. Du bist eine Enttäuschung für mich. Mein riesengroßes Versagen. Mein –«
»Mum, du bist krank. Ich sollte dir doch sagen, wenn das passiert. Du weißt, dass ich das soll. Das war abgemacht.«
»Oh, ich bin also verrückt? Weil ich ausgehen und mich flachlegen lassen will?« Ich wich zurück und ihre Lippen kräuselten sich vor Verachtung. »Das kannst du wohl nicht ertragen, was? Weil ich nämlich schön zu Hause bleiben soll, darum geht es doch, oder? Es steht dir ins Gesicht geschrieben.«
»Nein! Du bist meine Mutter und … und … Mütter reden nicht so mit ihren Kindern. Es ist einfach … nicht richtig …«
»Nicht richtig? Frauen haben ein Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität –«
»Mum, wirklich, du bist krank. Du hast nicht geschlafen, und du weißt, was das bedeutet.«
»Dann werde ich umso besser schlafen, wenn ich Sex hatte!« Sie kicherte, und mir wurde ganz übel, weil ihr Gesicht gleichzeitig rot vor Zorn war.
»So warst du auch zu Cole, wenn es dir schlecht ging. Du hast ihn angebrüllt, ihm die Schuld für irgendwas gegeben. Hast behauptet, er würde dich nicht respektieren.«
»Ach, Cole, immer wieder dieser bescheuerte Cole. Du hattest da wohl die absurde Idee, dass er dein Vater werden könnte und wir drei so eine lächerliche Bilderbuchfamilie? Ich will dir was sagen über die Art Familie, die du dir wünschst. Nach außen ist so eine Familie wie ein blitzsauberes weißes Leinentuch, doch wenn du genauer hinschaust, dann ist das Tuch dreckig und voller Flecken und es stinkt.«
»Er hat dir gutgetan. Und er musste sehr viel einstecken. Er hat dich geliebt.«
Sie breitete beide Arme aus. »Siehst du ihn hier irgendwo? Ich nicht. Er war genauso wie die anderen. Ein verlogener Mistkerl, der abgehauen ist, nachdem er bekommen hatte, was er wollte.«
»Du hast ihn doch rausgeekelt!«
»Ich habe ihn geliebt, du dämlicher kleiner Scheißer!«
Ich hatte das Gefühl, als ob sich der Boden des Bootes unter meinen Füßen auftat und ich ins Wasser stürzte. Und ertrank. Nie … noch nie hatte sie das gesagt … ich hatte es nicht gewusst …
Sie schubste mich wieder, sodass ich rückwärts stolperte. »Und er kommt nicht zurück, also solltest du ihn besser vergessen. Er hat mich nicht geliebt. Und er hat dich nicht geliebt. Alles Lügen. Alles nur verdammte Lügen. Hast du mich verstanden? Er hat dich nicht geliebt. Du hast ihm nichts bedeutet. Er war nur nett zu dir, um mich bei Laune zu halten. Und deshalb, Ryan, benutze ich sie! Ich benutze sie, bevor sie mich benutzen. Und jetzt verschwinde!« Wieder stieß sie mich in Richtung Tür. »Hau ab! Hau ab! Ich ertrage es nicht, dich anzusehen!« Sie packte den Arbeitstisch und warf ihn mir vor die Füße. Ein Bein brach ab und erwischte mich an der Kniescheibe. »Hau ab, du gemeiner –«
Ich lief los. Ich hielt es nicht länger aus, ihr zuzuhören. Sie würde nicht von mir ablassen, wenn sie in dieser Stimmung war. Und was sie über Cole gesagt hatte … hatte sie ihm gestanden, dass sie ihn liebte, und er hatte sie trotzdem verlassen? Ich rannte so schnell den Pfad hinauf – im Dunkeln stolperte ich immer wieder – und dann die Straßen entlang, dass mir davon übel wurde. Irgendwann konnte ich nicht mehr, brach auf dem Grünstreifen zusammen und übergab mich, bis ich wieder Luft bekam.
Nicht mehr nach Hause. Nicht mehr zu all dem zurück. Ich kann einfach nicht.
Ich lag da, mein Gesicht gegen das nasse Gras gepresst, und dachte an den letzten Streit, bevor er ging. An den schlimmen Streit.
»Warum bleibst du bei ihr?«, fragte ich ihn danach, als Mum außer Hörweite war.
»Willst du das wirklich wissen? Sie ist gut im Bett, das ist der Grund.« Ich blickte zur Seite. »Tut mir leid, Junge. Das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist nur, tja, es ist manchmal ganz schön schwer, mit Karen zusammen zu sein.«
Ich nickte und starrte aus dem Fenster. Er würde bald ausziehen. Ich kannte die Anzeichen.
Er war länger geblieben als der Rest.
Als er uns verließ, weinte ich, das Gesicht im Kissen vergraben, damit Mum es nicht sah, falls sie reinkam.
Ich griff in meine Hosentasche. Ich hatte mein Portemonnaie dabei und genug Geld, um mich zu besaufen. Genau das würde ich jetzt tun. Um ihr Gesicht und ihre Worte aus meinem Kopf zu kriegen. Ich lief bis ins Dorfzentrum. Der Laden war noch auf, ich ging rein und nahm mir eine Flasche Wodka. Die Frau an der Kasse musterte mich. »Wie alt bist du?«
»Neunzehn.« Ich knallte die Flasche so fest auf die Theke, dass sie fast kaputtgegangen wäre.
Sie ließ mich bezahlen. Sie hatte Angst allein mit mir im Laden und verschloss die Tür, sobald ich draußen war. Es war mir egal. Ich ging zurück die Straße runter, aber ich kam nur ein paar Schritte weit, weil sich von hinten jemand auf mich stürzte. Ich fiel der Länge nach auf den Rasen. Als ich mich umdrehte, um mich zu wehren, erhaschte ich einen Blick auf ein blasses Gesicht – Steven Carlisle. Na toll. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Er schlug mir mit der Faust ins Gesicht, und ich fühlte, wie mir ein Ring die Wange aufriss. Ich wehrte seinen nächsten Schlag ab und wand mich unter ihm, um freizukommen. Als ich mich aufgerappelt hatte, war auch er wieder auf den Beinen. Er kam auf mich zu und holte zum Schlag aus. Ich riss ihn zu Boden. Wir fielen rückwärts über eine niedrige Hecke und landeten in einem Vorgarten. Drinnen im Haus bellte ein Hund.
Wir rangen miteinander, packten uns gegenseitig an den Armen, ohne ein Wort, in stiller Wut. Voller Hass. Er versuchte, mir eine Hand um die Kehle zu legen, und ich rammte ihm mein Knie genau zwischen die Beine. Carlisle gab einen erstickten Schrei von sich und fiel auf den Rücken.
Hinter uns ging die Tür auf und Licht flutete in den Vorgarten. Eine Frau schrie.
»Aufhören, sofort aufhören oder ich rufe die Polizei!« Und dann rief sie zurück ins Haus: »George, komm schnell!«
Carlisle stand schwankend auf und rannte – gekrümmt vor Schmerzen – den Weg zurück, den er gekommen war. Nein, er würde hier nicht rumstehen, bis die Polizei kam und ihn mitnahm. Ich hatte auch keine Lust, auf die Wache gebracht zu werden … oder gar nach Hause. Ich sprang auf und setzte über die Hecke, bevor George, wer immer das war, hier sein würde. Meine Wodkaflasche glitzerte auf dem Rasen gegenüber, ich hob sie auf und lief in entgegengesetzter Richtung davon.
Als ich in Sicherheit war, blieb ich stehen und nahm einen langen Schluck. Mir fiel nur ein Ort ein, wo ich jetzt hinkonnte, und ich machte mich auf den Weg. Den Wodka schüttete ich einfach in mich rein.