40_Ryan

Am nächsten Tag spazierten wir auf den Hügel oberhalb des Dorfes und setzten uns oben auf der Kuppe auf die frei liegenden Wurzeln der Eiche. Zu unseren Füßen lag Strenton, sonntäglich-beschaulich wie auf einer Postkarte. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen den Stamm und hielt Jenna fest umschlungen, um sie zu wärmen.

»Da unten sieht alles so friedlich aus«, sagte sie. »Wie früher.«

»Mmmh.«

»Manchmal habe ich den Eindruck, man kann die Angst förmlich spüren – als ob jeder nur darauf wartet, dass sich der Psychomörder auf ihn stürzt, sobald er einen Fuß vor die Tür setzt.«

Ich wickelte eine Strähne ihres Haars um meinen Finger. »Ich hätte nicht gedacht, dass deine Mum dich heute gehen lässt.«

»Ich auch nicht.«

»Glauben sie immer noch, dass es jemand von außerhalb war? Die Leute aus dem Dorf, meine ich.«

Sie nickte. »Es kann keiner von hier gewesen sein. Das ist einfach unmöglich. Ich meine … das wüssten wir doch. Oder?«

»Keine Ahnung. Vielleicht. Schätze schon.«

Wir sahen ein paar Vögeln zu, die über uns aufstiegen und davonflatterten, um sich dann in der Weißdornhecke auf der Wiese niederzulassen. Raggs wurde langsam müde und legte sich hin.

Ein Blatt schwebte herab und landete auf uns. Jenna nahm es in die Hand. Es wellte sich an den Rändern, war gelb und vertrocknet. Jenna drehte es zwischen ihren Fingern, die in Wollhandschuhen steckten.

»Wenn wir hier lange genug liegen, würde uns dann der Rest der Blätter wie eine Daunendecke zudecken?«

Ich schaute hoch zu den kahlen Ästen. »Dafür sind nicht mehr genug da.«

»Als ich klein war, hat mir Mum immer eine Geschichte über Feen vorgelesen. Sie haben Blätter zusammengenäht und daraus Decken für Betten gemacht, die sie aus Zweigen gebaut hatten.«

»Waren das liebe Feen?«

»Ja, warum?«

»Meine Mum hat mir auch davon erzählt. Aber die Feen aus ihren Geschichten hießen Fey. Es waren schöne Frauen, die Männer in die Berge lockten und ihnen den Verstand aussaugten, sodass ihre leeren Hüllen verloren in der Wildnis umherirrten.«

»Pfui!«

Ich grinste. »Sie hatte immer Probleme mit der Unterdrückung der Frau im Märchen. Als ich herausfand, dass Schneewittchen eine böse Stiefmutter hat, war ich richtig geschockt. In ihrer Version des Märchens hatte sie einen kapitalistischen Stiefvater.«

»Gab es einen Prinzen oder hat Schneewittchen mit den Zwergen eine Hippiekommune gegründet?«

»Ach was, sie hat die Zwerge als Sklaven verkauft und ist mit ihrem Geld abgehauen.«

Jenna sah mich stirnrunzelnd an. »Das hat Karen doch bestimmt nicht …« Sie fing an zu lachen und gab mir einen Klaps. »Lügner!«

Eine Weile küssten wir uns, dann bekamen wir Hunger und aßen das Picknick, das ihre Mum uns gemacht hatte. Raggs schnappte uns Sandwich-Stückchen und Trauben aus den Fingern.

Jenna bürstete die Krümel zur Seite und sah auf die Uhr. »Ich muss zurück. Ich will, dass du mitkommst und meinen Dad kennenlernst.«

»Puuh … ich weiß nicht …«

»Er wird dich schon nicht mit der Forke jagen, du Angsthase.«

»Ich bin kein Angsthase!«

Jenna sprang auf und streckte mir die Hand hin. »Dann beweise es.«

Ich lief neben ihr den Hügel hinab und summte den Trauermarsch, während sie so tat, als lachte sie mich nicht aus.

Sie zog mich durch die Hintertür ins Haus und rief: »Dad.« Der Mann, der in die Küche kam, sah so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: ziemlich groß, mit Cordhosen und kariertem Hemd – der typische Besitzer eines Einfamilienhauses auf dem Land. Bei meinem Anblick verfinsterte sich sein Gesicht.

»Dad, das hier ist Ryan.«

Jenna hielt immer noch meine Hand, und ich sah, wie ihr Vater die Schultern straffte.

Ich ließ sie los und streckte meine Rechte aus. »Guten Tag.«

Wir gaben uns die Hand. Ich hoffte, dass meine nicht feucht war, mein Nacken war jedenfalls völlig verschwitzt.

»Guten Tag«, sagte er.

Hätten wir in einem Jahrhundert gelebt, wo es üblich war, den Freund der Tochter mit einer Schrotflinte zu bedrohen und ihn aus dem Haus zu jagen, hätte er – seinem zusammengepressten Kiefer nach zu urteilen – jetzt genau das getan.

»Wir waren spazieren, aber Mum meinte, wir sollten nicht zu lange wegbleiben«, sagte Jenna und brachte ihre Mutter ohne jeden Skrupel in Bedrängnis. »Läuft was im Fernsehen?«

Mrs Reed erschien in der Tür, offenbar witterte sie, dass Ärger in der Luft lag. »Hallo, Ryan. Danke, dass du Jenna begleitet hast. Ihr habt doch keine Fremden gesehen, oder?«

»Wir haben überhaupt niemanden gesehen.«

»Bleibst du noch?«

Jenna mischte sich ein. »Können wir fernsehen?«

»Natürlich. Geht schon rein. Ich mache heißen Kakao. Willst du auch, Ryan?«

»Ja, bitte«, sagte ich und eilte hinter Jenna her.

Als wir schon halb durch die Diele waren, hörte ich eine wütende Stimme. »Wer zum Teufel ist das, Tanya?«

»Ihr Freund. Sei vernünftig und brüll hier nicht rum. Sie hat ihn mitgebracht, damit du ihn kennenlernst. Wir sprechen später darüber.«

Jenna machte die Wohnzimmertür hinter uns zu. »Das überlassen wir Mum«, flüsterte sie und schaltete den Fernseher ein.

Keine Ahnung, was Jennas Mum zu ihm gesagt hatte, doch als sie mit einem Tablett mit heißem Kakao das Wohnzimmer betraten, sah Mr Reed viel freundlicher aus. Sie riefen Charlie, und er kam die Treppe heruntergepoltert, riss die Fernbedienung an sich und wollte Zeichentrickfilme sehen. Seine Mutter regte sich auf und sagte, er sei unhöflich, also fragte er mich, ob ich was dagegen hätte. Ich sagte Nein – das war die Wahrheit. In seinem Alter hatte ich nie die Gelegenheit, mir diese Sachen anzusehen, und deshalb einigen Nachholbedarf.

Wir sahen fern, bis irgendeine Sendung für Mädchen kam und Charlie anfing herumzuzappeln. »Spielst du Fußball?«, fragte er mich. »Lust auf ein Spiel?« Ich nickte und er stand auf. »Bei mir steht Dad im Tor. Du kannst Jenna haben. Sie ist allerdings zu nichts nütze.«

»Ich wette, das stimmt nicht«, sagte ich. Vielleicht war es wirklich so, aber das konnte man doch nicht sagen. Immerhin brachte es Charlie zum Lächeln. Aber ihr Vater verdrehte die Augen.

Ich half Charlie, die Tore aufzustellen, und wir kickten eine halbe Stunde lang. Dann beschloss ich, zu Mum zurückzukehren.

Als ich mich verabschiedete, erlaubte Jennas Dad sogar, dass sie mich bis zum Gatter begleitete.

»Er beruhigt sich schon wieder«, sagte sie grinsend und verabschiedete mich mit einem Kuss.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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