41_Jenna
Am Montag holte mich Mum wie geplant zur Mittagszeit von der Schule ab. Ich warf meine Schultasche auf die Rückbank und ließ mich neben sie auf den Beifahrersitz fallen. »Wir haben noch genug Zeit, um was zu essen«, sagte sie. »Dein Termin ist erst um halb drei.«
»Prima«, sagte ich und versuchte zurückzulächeln. Ich war nicht gerade begeistert über diesen Termin, aber genauso wenig begeisterte ich mich für Spliss. Und meine Haare mussten wirklich dringend geschnitten werden.
»Willst du noch? Lorna meinte, wenn du es nicht schaffst, kann sie auch wieder zu uns nach Hause kommen.«
»Es wird schon gehen«, sagte ich und hoffte, dass das stimmte. Wenn heute im Laden nicht viel los war, würde es vielleicht ganz okay sein. Die Schule zu schwänzen, um montagnachmittags zum Friseur zu gehen – das hätte Mum letztes Jahr bestimmt nicht erlaubt.
Wir aßen im Lemon Tree zu Mittag. »Ist Dad ausgeflippt wegen Ryan?«, fragte ich, um mich von dem bevorstehenden Martyrium abzulenken.
»Nur ein bisschen.« Mum nippte an ihrem Kaffee. »Er hat es ganz gut aufgenommen.«
Ich schnaubte. »Du meinst, du hast nur eine statt zwei Stunden gebraucht, um ihn zu beruhigen.«
»So ungefähr«, sagte sie und lachte. »Es ist schwierig für ihn, verstehst du. Du warst immer sein kleines Mädchen, und es ist hart für ihn, dass du erwachsen wirst.«
»Mann! Charlie wird es viel einfacher haben als ich. Das ist nicht gerecht.«
Mum schauderte. »Sag das nicht. Ich fürchte mich schon davor, dass Charlie irgendwann anfängt, sich für Mädchen zu interessieren.«
Es fiel mir schwer, mir meinen kleinen Bruder als Teenager vorzustellen – und besonders mit einem Mädchen. »Keine Sorge, er findet nie eine Freundin. Das interessiert ihn gar nicht, es sei denn, sie sieht aus wie ein Fußball.«
»Das wird sich schon noch ändern, Jenna«, sagte Mum.
»Na schön, lass uns wetten. Ich glaube, er wird … hmm, mindestens neunzehn sein, bevor er irgendein armes Mädchen dazu überreden kann, mit ihm auszugehen. Was meinst du?«
»Fünfzehn«, sagte sie düster. »Direkt vor den Abschlussprüfungen, anders kann es gar nicht sein.«
Ich lachte und wechselte das Thema. »Was hältst du von Ryan?« Die Frage brannte mir die ganze Zeit schon auf der Seele, aber ich hatte sie immer wieder hinausgeschoben. Weil von ihrer Antwort alles abhing.
Sie überlegte einen Augenblick. »Ich habe ihn natürlich erst ein paarmal gesehen, aber …«
Ich legte die Gabel weg und wartete mit angehaltenem Atem.
»Ich finde, für sein Alter ist er schon ziemlich erwachsen. Er hat sehr gute Manieren. Aber es erstaunt mich, dass er arbeitet und nicht aufs College geht. Er scheint intelligent zu sein …«
»Ich glaube nicht, dass er schon darüber nachgedacht hat.«
»Das verstehe ich nicht. Nach dem, was du gesagt hast, ist seine Mutter doch offensichtlich eine gebildete Frau. Ich begreife also nicht, warum sie ihn nicht ermutigt.« Sie musterte mich einen Moment lang. »Außerdem ist er sehr attraktiv.«
Ich konnte mir gerade noch ein Lächeln verkneifen. »Ist er das? Ist mir gar nicht aufgefallen.«
Mum verdrehte ihre Augen. »Ja, das glaube ich dir aufs Wort. Wie auch immer, ich wollte dich eigentlich was fragen. Vielleicht ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt … wie ich schon sagte, er scheint reifer zu sein als die meisten Jungen in seinem Alter. Er ist aber nicht … ach, wie soll ich sagen … er erwartet hoffentlich nicht von dir … äh …«
»Du lieber Himmel, Mum! Nein, er drängt mich zu gar nichts.«
»Du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich dich danach frage. Er ist schließlich älter als du.«
»Ja, das weiß ich.«
»Habt ihr schon darüber gesprochen?«
Ich fühlte, wie ich rot wurde. »Nein. Wir sind doch erst seit ein paar Wochen richtig zusammen. Vorher waren wir nur Freunde.«
»Es ist nur so, falls du darüber nachdenkst, wäre es mir lieb, du würdest vorher mit mir reden. Einverstanden?«
»Ja, okay, okay, aber … ich hab noch nicht … ich meine, ich fühle mich noch nicht bereit …« Nicht dass ich noch nicht darüber nachgedacht hatte, aber es lag für mich noch in weiter Ferne – unklar und rätselhaft und auch Angst einflößend. Ein Schritt, der mir zu groß und zu unmöglich erschien, um mir vorzustellen, ihn wirklich zu gehen.
»Wahrscheinlich weiß er, dass du noch nicht bereit bist, und respektiert das.«
Ich dachte über ihre Worte nach. »Ja, ich glaube, so ist es. Es ist ganz komisch bei ihm – er errät viele Dinge, ohne dass man sie aussprechen muss.« Ich hielt inne und nahm all meinen Mut zusammen. »Aber … er ist vor mir schon mit ziemlich vielen Mädchen zusammen gewesen … mit älteren Mädchen, verstehst du. Manchmal mache ich mir Gedanken darüber, weil … ach, ich weiß auch nicht …«
»Weiß er, dass du vor ihm noch keinen Freund hattest? War ihm das klar, bevor ihr zusammengekommen seid?«
Ich kicherte. »Ja. Als ich mal mit ein paar Leuten aus der Schule ausgegangen war, dachte er, es wäre eine Verabredung – war es aber gar nicht. Er hat mir einen Vortrag darüber gehalten, dass ich nicht zu weit gehen soll. Er hat sich angehört wie Dad!«
»Na, da wäre ich ja nur zu gerne dabei gewesen«, sagte Mum und lächelte. »Aber dann ist doch alles klar – es stört ihn offensichtlich nicht. Man soll schließlich keine Probleme herbeireden. Du kennst doch sicher den Lieblingsspruch deiner Großmutter …«
»Ich habe mir über so viele Dinge Sorgen gemacht und die meisten davon sind nie passiert«, sagte ich mit ihr im Chor. Ich streckte ihr die Zunge heraus. »Das trifft genauso gut auf dich und deine Ängste wegen Charlie zu.«
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Bei jeder Regel gibt es eine Ausnahme und diese Ausnahme heißt Charlie. Ich muss ihm nur eine Sekunde den Rücken zudrehen und schon hat er sich irgendwas gebrochen oder sich geschnitten. Er zieht das Unglück magisch an.« Sie sah auf die Uhr. »Oh, iss schnell auf. Wir müssen rüber zu Lorna.«
Die Türglocke klingelte und verkündete unsere Ankunft im Friseursalon. Ich schlich hinter Mum her und seufzte vor Erleichterung beim Anblick der leeren Sessel. Aber dann schluckte ich – die leeren Sessel standen direkt vor einer Reihe von … Spiegeln.
Mum umarmte mich kurz und Lorna eilte mit einem schwarzen Nylonumhang auf mich zu.
Sie führte mich zu einem Sessel. »Was soll ich machen? Nur nachschneiden oder eine neue Frisur?«
Ich schaute in den Spiegel und konzentrierte mich auf ihr Gesicht, nicht auf meins. »Nur nachschneiden. Die Haare sollten lang bleiben, aber vielleicht ein bisschen gestuft?«
Sie hob meine Haare hoch und fummelte daran herum. »Wie wäre es mit ein paar Stufen, die dein Gesicht umrahmen? Das würde deinem Haar mehr Form geben und es etwas frischer aussehen lassen. Ungefähr so.« Sie deutete auf ein Foto an der Wand.
Ich wollte Mum fragen, ob mir das stehen würde, doch ich hatte einfach nicht den Mut dazu. Denn vielleicht käme Lorna dann in den Kopf, dass etwas mehr als nur ein paar Stufen nötig waren, damit ich gut aussah. Also stimmte ich einfach zu, sodass ich zu den Waschbecken hinübergehen konnte, wo ich mein Spiegelbild nicht sehen musste.
Sobald Lorna anfing, mir die Haare zu schneiden, hatte ich eine gute Entschuldigung, die Augen zu schließen. All das spiegelnde Glas erinnerte mich zu sehr an den Tag, an dem ich aus dem Krankenhaus kam. Ich war nach oben gegangen, um mir vor dem Schlafengehen die Zähne zu putzen. Ich hatte die Maske abgenommen und mich zum Waschbecken gedreht … hatte mich im Spiegel gesehen …
… die Masse runzliger, geröteter Haut begann unter meinem Auge und zog sich über meinen gesamten Hals, die transplantierte Haut verheilte gerade erst, es sah roh und wie zerfetzt aus …
… einfach grässlich. Dann hatte ich den Spiegel zerschlagen.
»Ich puste dir gerade mal mit dem Föhn die Härchen von der Nase«, unterbrach Lorna meine Gedanken. Ich fühlte einen kurzen Schwall warmer Luft auf meinem Gesicht. »So, fertig. Jetzt muss ich dir nur noch die Haare föhnen.«
Es gab keine Entschuldigung dafür, die Augen länger geschlossen zu halten, und ich suchte nach irgendeiner Erinnerung, die mir genügend Mut verlieh, um sie zu öffnen.
Es gab eine, die erst ein paar Tage alt war. Die mich zum Lächeln brachte. Ryan hatte mir die Haare hinter die Ohren geschoben, mein Kinn angehoben und mich angeschaut. »Was machst du da?«, hatte ich ihn gefragt.
»Ich versuche, mich zu entscheiden, welchen Teil ich zuerst küssen soll.« Er sagte es so, als müsste er sich zwischen Schokoladenkuchen und Sahneeis entscheiden. »Irgendwo muss ich ja anfangen, aber ich will am liebsten alles gleichzeitig. Hmmm, dann nehmen wir mal … diese Stelle hier!« Er stürzte sich auf mich und gab mir einen Schmatzer auf den rechten Wangenknochen, wo die Narben anfingen.
Wenn er jetzt hier wäre, würde er mich so lange anstupsen und kitzeln, bis ich die Augen aufmachte, deshalb atmete ich kurz ein und schaute in den Spiegel.
Es war nicht so schlimm wie damals. Die Zeit und die Maske hatten das Narbengewebe verblassen lassen und es geglättet. Ich fand, ich sah … menschlich aus. Voller Narben, aber menschlich. Ich konnte fast hören, wie Ryan mit selbstzufriedener Stimme verkündete: »Hab ich doch gesagt.«
Mum akzeptierte, dass ich auf dem Weg zum Auto schwieg. Wahrscheinlich war sie froh, dass ich es so gut durchgestanden hatte, und mehr erwartete sie nicht. Als wir kurz vor dem Parkplatz waren, überraschte ich uns beide.
Ich blieb vor einem Küchen- und Bad-Studio stehen. »Mum, meinst du, die haben hier Badezimmerspiegel?« Sie starrte mich an. »Ich brauche doch einen neuen.«
Ihr Gesicht hellte sich auf.
Im Laden bekam sie den Anruf. Sie ging ans Handy, hörte kurz zu, und dann brach sie in Tränen aus.
»Mum? Mum, was ist passiert?« Hatte es einen Unfall gegeben? Dad? Charlie?
Sie legte die Arme um mich. »Es ist alles gut, Liebes. Das war dein Dad. Das Testergebnis liegt endlich vor. Sie haben ihren Verdacht gegen ihn fallen gelassen.«