1_Jenna
Hässliche Menschen haben keine Gefühle. Sie sind nicht wie alle anderen. Sie merken gar nicht, wenn du sie auf der Straße anstarrst und dann plötzlich wegschaust. Und wenn sie es doch merken, dann macht es ihnen nichts aus. Sie sind ja keine echten Menschen.
So in der Art habe ich früher gedacht.
Als ich jünger war.
Bevor ich es besser wusste.
Als ich noch klein war, bin ich immer mit meiner Mutter einkaufen gegangen. Donnerstags ist Markttag in Whitmere und wir haben dort an einem Biostand Obst und Gemüse besorgt. Der Standbesitzer hatte ein rötlich-violettes Feuermal, das sich über sein ganzes Gesicht und über seinen Mund zog. Es ließ seine Unterlippe hervorstehen, sodass sie geschwollen und feucht wie eine herausgestreckte Zunge aussah. Damals wünschte ich, meine Mutter würde unser Essen bei jemand anderem kaufen. Jedes Mal, wenn ich das Gemüse auf meinem Teller sah oder mir einen Apfel nahm, musste ich mich anstrengen, sein Gesicht zu vergessen.
Er konnte auch nicht besonders gut sprechen, und ich nahm an, dass er nicht ganz richtig war. Weil er nicht wie alle anderen aussah, dachte ich irgendwie, er hätte nicht alle Tassen im Schrank. Ich konnte einfach nicht aufhören, ihn anzustarren. Ich war ganz fasziniert davon, wie sich mir der Magen umdrehte und mir Schauer über den Rücken liefen, wenn er seine wabbelige Unterlippe einsaugte. Das war ein nervöser Tick von ihm, und immer wenn Mum mich beim Starren erwischte, sagte sie mir, ich solle es lassen. Sie dachte wahrscheinlich, ich wollte ihr helfen, wenn ich zu Hause das Obst und Gemüse gründlich wusch. Und ich habe mich nie getraut, ihr zu sagen, dass ich ihn davon abwaschen wollte.
Einmal fragte ich Mum, ob wir unser Zeug nicht an einem anderen Stand kaufen könnten. Warum mussten wir immer da hingehen? Sie erklärte mir, was bio bedeutet, erzählte was von Pestiziden, Düngemitteln und der Natur. Und zum Schluss sagte sie: »Außerdem brauchen manche Leute unsere Unterstützung mehr als andere.« Ich habe nie wieder gefragt, aber ich fand ihre Begründung blöd, schließlich dachte ich ja, dass hässliche Menschen keine Gefühle haben.
Jetzt weiß ich es besser.
Deswegen war ich an diesem warmen Tag Anfang September nicht bei den Aufnahmen für das Schulfoto. Stattdessen saß ich auf einer Bank am Kanal. Wir nannten ihn Rostfluss – wegen der Eisenablagerungen im Erdreich, die ausschwemmten und dem Wasser eine trübe rostbraune Färbung verliehen.
Zum ersten Mal in meinem Leben schwänzte ich die Schule. Mum hätte mir sicher eine Entschuldigung geschrieben, wenn ich sie darum gebeten hätte – aber dann hätte ich es ihr erklären müssen. Da wäre der verständnisvolle Blick in ihren Augen gewesen. Und ihr Blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten.
Ich schaute auf die Uhr. Die Mädchen waren jetzt bestimmt in den Waschräumen, um sich die Haare zu kämmen und Make-up aufzutragen. Und sicher beschwerten sie sich darüber, wie furchtbar sie aussehen. Als ob das wirklich so wäre. Gleich würden sie sich auf dem Podest in der Aula aufstellen und mit ihrem Sonntagsgesicht vor der Kamera posieren.
Oh, natürlich würden sie merken, dass ich nicht dabei war. Aber niemand würde fragen, warum. Die Lehrer wären wahrscheinlich erleichtert, weil ein Gesicht fehlt, wenn sie das Foto im Schulfoyer aufhängen. Ich wette, dass sie sogar »vergessen«, mich nach einer Entschuldigung zu fragen.
Hässliche Menschen haben keine Gefühle. Wir sind nicht wie alle anderen.