17_Jenna
Ich hatte eigentlich keine Lust, darüber zu reden, aber er war dermaßen hartnäckig, und ich wollte nicht so unhöflich sein, wie es nötig gewesen wäre, um ihm das abzuschlagen. Nicht, nachdem er Prügel bekommen hatte, weil er sich für mich eingesetzt hatte.
»Seit ich mit sieben nach Strenton gezogen bin, war Lindz meine beste Freundin. Wir haben alles zusammen gemacht. Sie war ein Jahr älter als ich und der temperamentvollste Mensch, den ich je getroffen habe. Nie ging sie irgendwohin, immer rannte sie. Als sie zwölf war, ist ihre Mum ausgezogen. Im Dorf war es das Thema, weil alle dachten, sie wären die perfekte Familie. Lindz’ Dad organisierte sämtliche Dorfveranstaltungen und ihre Mum kannte jeden und kümmerte sich immer um die Partys. Doch eines Tages ist Mrs Norman einfach mit einem Mann durchgebrannt, den sie schon seit einem Jahr traf. Keiner hatte auch nur den leisesten Verdacht gehabt. Lindz sollte mitkommen, wollte aber nicht umziehen und ihr Pony und all ihre Freunde aufgeben.«
Ryan trank einen großen Schluck Kaffee und nickte mir zu. Entweder konnte er es gut vortäuschen oder es interessierte ihn wirklich.
»Danach ist sie ein bisschen durchgedreht. Ich meine Lindz. Irgendwie aus der Spur geraten. Sie hing mit einem Haufen Jungs rum und trank. Und weil sie schon ein Jahr älter war als ich …«
»Hast du dich ausgeschlossen gefühlt?«
»Ein wenig. Letztes Jahr ist sie dann mit Steven Carlisle zusammengekommen, nachdem er von der Schule geflogen war. Sie war verrückt nach ihm und ich sah sie kaum noch. Sie hat mir gefehlt, weil wir uns immer alles erzählt haben.« Ich schwieg und dachte an früher. »Wir haben sogar Blutsbrüderschaft geschlossen. Haben uns mit einem Küchenmesser in die Hand geschnitten und unser Blut vermischt wie die Indianer. Einen Pakt geschlossen, den niemand mehr auflösen sollte. Die Narbe habe ich immer noch.« Ich hielt meine Handfläche hoch, sodass er die schmale blasse Linie sehen konnte.
»Kurz nach Weihnachten, nachdem Steven zum achtzehnten Geburtstag dieses protzige Auto bekommen hatte, fragte sie mich, ob ich mit ihnen eine kleine Spritztour machen wolle, und ich sagte Ja.«
Ich holte tief Luft und fühlte, wie sich mir die Brust zuschnürte. »Ich wollte ihr wieder nah sein. Es waren noch zwei andere Mädchen dabei. Charlotte, die auch aus Strenton kam, und Sarah, aber die kannte ich kaum.«
Wieder nickte er.
»Steven hatte seinen Freund Rob mitgenommen. Die beiden saßen vorne und wir Mädchen hinten. Sie haben Cidre und einen Joint rumgereicht und wir waren alle ein wenig benebelt.«
»Carlisle auch?«
»Mmh, und er fuhr sehr schnell. Zu schnell, weil er angeben wollte.«
Das Sprechen fiel mir jetzt sehr schwer, Ryan senkte den Kopf und sah mir in die Augen. »Alles in Ordnung mit dir?« Er reichte mir den Kaffeebecher und ich trank ein paar Schlucke.
»Danke.«
Ich fummelte am Becher herum, drehte ihn in meinen Händen. Irgendwie half mir das. »Viel mehr gibt es eigentlich nicht zu erzählen. Steven hat die Kontrolle verloren und ist mit dem Auto von der Straße abgekommen. Sarah war angeschnallt und ist glimpflich davongekommen. Die Jungs auch. Charlotte und Lindz waren tot. Man hat mir erzählt, dass sich das Auto ein paarmal überschlagen hat. Dann hat es angefangen zu brennen. Rob hat mich rausgezogen, aber da war das schon passiert.« Ich deutete auf meine rechte Wange. »Der Wagen ist explodiert. Ich … ich … habe immer noch Albträume, dass ich nicht rechtzeitig rauskomme und noch drin bin, wenn er in die Luft fliegt.« Ich kratzte mich an den Händen und konnte nicht mehr damit aufhören. »Keine Ahnung, warum ich dir das alles erzähle.«
Er streckte die Hand nach meinen Haaren aus und wickelte sich eine Strähne um den Finger.
»Und keine Ahnung, warum du dir das anhörst.«
»Was ist dann passiert? Wieso hat Steven es auf dich abgesehen?«, fragte er, als ob er mich gar nicht gehört hätte.
»Er wurde wegen leichtsinnigen Fahrverhaltens unter Drogen- und Alkoholeinfluss angeklagt. Sein Dad hat einen sehr guten Anwalt angeheuert und Steven hat nur eine Bewährungsstrafe bekommen. Die Leute im Dorf waren richtig wütend. Mein Dad hat eine Aktionsgruppe gegründet, die relativ schnell viel Zulauf erhalten hat. Leute aus Whitmere und anderen Dörfern sind jetzt auch dabei.«
»Und was ist mit dir passiert?«
»Mit mir? Krankenhaus, Hauttransplantationen, Operationen, Therapie. Um den Heilungsprozess zu fördern, musste ich nach der letzten Transplantation sechs Monate lang eine Kompressionsmaske tragen.« Ich stellte die Füße auf die Bank und legte die Arme um meine Beine. »Eigentlich soll ich weiter zur Therapie gehen, aber nicht mal die besten Seelenklempner der Welt können das wieder in Ordnung bringen. Sie sagen immer: ›Jenna, du musst lernen, damit zu leben.‹ Aber das geht nicht. Ich kann es nicht! Und ich bin verdammt wütend. So unglaublich wütend, und muss trotzdem so tun, als wäre nichts, weil alle wollen, dass es mir besser geht. Aber es ist nicht ihr Gesicht, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht.« Und seine Augen ruhten auf meinem Gesicht, als ob er genau verstand, was ich meinte.