18_Ryan
Jenna atmete so schnell wie nach einem Dauerlauf. Und sie sah aus, als wären ihr die Worte und die Energie ausgegangen – kleiner und blasser als vor ein paar Minuten. Sie hatte sich auf der Bank zusammengekauert. Ich hätte sie gerne umarmt, aber ich wusste nicht, ob sie es zulassen würde.
Ach, Scheiß drauf! Ich kann doch nicht einfach nur so rumsitzen.
Ich legte beide Arme um Jenna und zog sie fast bis auf meinen Schoß. Sie war extrem angespannt.
»Was tust du da?«, quiekte sie.
»Ich umarme dich, verdammt noch mal, weil du das jetzt nötig hast. Was glaubst du denn?«
Sie schlug mir gegen die Brust und lachte halbherzig. »Ich weiß nicht. Du hast bestimmt was Besseres zu tun, als hier mit mir zu sitzen.«
»Einen Moment, ich denk kurz drüber nach … äh … äh … nein. Mir fällt nichts ein.«
»Glaube ich dir nicht.«
»Hey, schließlich begegne ich nicht jeden Tag jemandem, der mich in die Pferdescheiße befördert hat.«
Das brachte sie zum Lachen. Erst nur ein bisschen, aber dann richtig. »Ich versteh dich nicht«, sagte sie.
»Dann bist du in guter Gesellschaft. Ich verstehe mich selbst nicht.« Himmel noch mal, das stimmte sogar! Wie hatte sie mich dazu gebracht, das zu sagen? Dann fiel mir etwas ein. »Deine Freundin hat doch behauptet, du würdest nie mit jemandem reden?« Sie hörte auf zu lächeln. »Mit mir hast du geredet. Oder etwa nicht?«
Sie verzog das Gesicht. »Mmh.«
»Wenn du so guckst, kräuselt sich deine Nase. Wie bei einem Kaninchen.« Ich grinste. »Oder wie bei einem Schwein.«
Sofort ließ sie es bleiben. »Das Schwein bist du … Du liebe Zeit! Beth! Ich wollte sie noch mal anrufen wegen später.« Sie wühlte in ihrer Tasche nach dem Handy.
»Willst du mit ihr nach Hause fahren oder sollen deine Eltern dich abholen?«
»Ich weiß nicht.« Sie klopfte mit ihren Fingern auf dem Handy herum. »Ich habe keine Lust, Beth zu sehen, weil sie wieder so … mitfühlend sein wird.« Sie sagte das voller Verachtung. »Aber Dad … ach, ich hab keine Ahnung.«
Ich leerte den Inhalt meiner Taschen auf den Tisch. »Für ein Taxi reicht es nicht mehr.«
»Hier gibt es sowieso keine.«
»Ich würde dich ja nach Hause begleiten, aber es ist so weit. Mit diesen Absätzen schaffst du doch gerade mal ein paar Hundert Meter.«
»Du würdest mich zu Fuß nach Hause bringen?«
»Natürlich.« So ein verrücktes Mädchen, als ob ich das nicht tun würde! »He, kannst du Fahrrad fahren?«
»Klar, warum fragst du?«
»Weil ich eine Idee habe. Ich bringe dich mit meinem Rad nach Hause. Ruf deine Freundin an und erklär es ihr.«
Ich verstand, warum sie ihrem Vater nichts erzählen mochte. Ich wollte genauso wenig, dass Mum erfuhr, dass ich von irgendeinem Typen aus der Stadt verdroschen worden war.
Sie wählte eine Nummer. »Beth, ich bin’s noch mal. Hör zu, bitte entschuldige mich bei deinem Vater. Ich kann mit jemandem aus Strenton mitfahren. Okay, ich ruf dich an, wenn ich zu Hause bin, damit du weißt, dass alles in Ordnung ist … Nein, ich bin nicht in zweifelhafter Gesellschaft.« Ich grinste und sie schlug nach mir und versuchte, nicht zu lachen. »Wir reden später. Tschüs.« Sie legte das Handy weg. »Nun, was hast du für eine Idee?«
»Ich habe – Autsch!« Sie hatte nach meiner Hand gegriffen.
»Ach, du liebe Zeit, Ryan, warum hast du denn nichts gesagt?« Sie starrte auf meine verletzten Fingerknöchel.
»Das ist doch nichts. Stört mich gar nicht.«
Jenna schob sich an mir vorbei und marschierte zur Theke. Ich hörte, wie sie zwei Kaffee bestellte und um einen Becher mit Eiswürfeln bat. Sie kam mit einem Haufen Papierservietten zurück, faltete ein paar auf dem Tisch auseinander und tat Eiswürfel darauf. Dann rollte sie die Servietten zusammen. »Leg das auf deine Hand. Ich fühl mich total schlecht, weil ich es nicht gleich bemerkt habe. Brauchst du auch was für dein Gesicht?«
»Ach was, alles halb so wild. Er hat mich gar nicht richtig getroffen.«
»Machst du das immer so?«, wollte sie wissen.
»Was denn?«
»Die Leute dazu bringen, dir ihren ganzen Mist zu erzählen, aber wenn es um dich geht, ist alles nur ›halb so wild‹.«
»Keine Ahnung.« War das so?
Sie warf mir ein Zuckertütchen für den Kaffee zu. »Jetzt bist du dran.«
»Was?«
»Du bist an der Reihe. Eben musste ich dir alles erzählen. Jetzt musst du.«
»Ich hab nichts zu erzählen. Ich bin langweilig.« Auf gar keinen Fall würde ich irgendwas von mir preisgeben.
Jenna seufzte verzweifelt. »Du regst mich echt auf. Mehr noch als Charlie, und ich dachte, das geht gar nicht. Das ist total unfair.«
»Ich rede nicht mit Mädchen.«
Wieder machte sie diese Kaninchennase. »Was tust du sonst mit ihnen?«
Sie war mir in die Falle getappt. Ich lehnte mich zurück, hob die Augenbrauen und wartete, bis sie es kapiert hatte. Sie wurde rot und fummelte an ihrem Kaffeebecher rum. »Und was ist mit deinen Freundinnen? Mit denen musst du doch reden.«
»Ich habe keine Freundinnen. Nur Mädchen, mit denen ich, äh, manchmal abhänge.«
»Mann! Das nenne ich eine zeitgemäße Einstellung.«
»Ach ja? Immer noch besser, als so verdammt sensibel zu sein.«
Jenna blinzelte. »Wie bitte?«
»Schon gut«, sagte ich, streute Zucker in meinen Kaffee und rührte heftig um. »Egal, ich dachte, du wärst immer nur still und schüchtern und –«
Sie schnaubte. »Du wolltest, dass ich rede. Es ist deine Schuld.«
»Hilfe! Ich habe ein Monster geschaffen.«
Jenna sprang auf, als ob ich sie geschlagen hätte. Einen Augenblick lang kapierte ich gar nichts, bis sie mit der Hand ihre Wange bedeckte. »Hey, verdammt noch mal, so habe ich es nicht gemeint. Sei nicht blöd.«
Aber sie griff schon nach ihrer Tasche, schob sich ohne ein Wort an mir vorbei und stürmte hinaus.
Ich warf mir meine Jacke über den Arm, schnappte mir die Kaffeebecher und lief ihr hinterher. Sie stand auf der Straße und überlegte, in welche Richtung sie gehen sollte.
»Wag es ja nicht wegzulaufen! Ich hole dich sowieso ein«, blaffte ich sie an. »Du hast total überreagiert. Du weißt ganz genau, dass ich es nicht so gemeint habe.«
Sie ließ den Kopf hängen. »Tut mir leid«, murmelte sie.
Ich meinte, ein Schniefen zu hören, und fühlte mich beschissen, weil ich sie angebrüllt hatte.
»Halt mal den Kaffee.« Es war echt nicht leicht mit ihr. Ich drückte ihr die Becher in die Hand und legte ihr meine Jacke um die Schultern. »So, jetzt gib sie mir zurück und zieh die Jacke an. Es ist kalt.«
»Aber dann ist dir ja –«
»Mach es einfach, Jenna.« Ich riss ihr die Becher wieder aus der Hand. »Los, wir gehen jetzt nach Hause.«
Sie trottete hinter mir her und schob ihre Arme in die Jackenärmel. Als sie fertig war, blieb ich stehen und gab ihr den Kaffeebecher zurück. »Danke«, sagte sie. Sie hielt den Kopf immer noch gesenkt und wir gingen schweigend weiter.
Ich hatte eine verrückte Idee. Auf einmal wusste ich, wie ich sie überzeugen konnte, dass der Kerl im Rugbyklub ein Scheißtyp und sie nicht abstoßend war. Es stimmte, die Narben sahen übel aus, aber nach einer Weile gewöhnte man sich daran, und der Rest ihres Gesichts war hübsch. Sie hatte dieses seltsame Lächeln, schüchtern und frech zugleich. Es machte mich irgendwie an. Und diese großen blauen Augen. Außerdem war mein Arm wie dafür gemacht, sie zu umschlingen.
Ich musste sie nur küssen, das würde alles wegwischen. Ich hatte schon einen Haufen Mädchen geküsst und war sozusagen ein Profi.
Dämliche Idee. Jenna war nicht wie die anderen. Man konnte sie nicht küssen und einfach abhauen. Sie würde es nicht verstehen.
Sie zog mich am Ärmel. »Ryan, tut mir leid. Es war nicht deine Schuld. Es war meine.«
Ich setzte mich auf eine Gartenmauer. »Was war bloß los?«
Sie schniefte und rieb sich die Nase. »Shrek.«
»Hä?«
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass in Filmen Leute mit Narben immer die Schurken sind? Sie sind böse – wie Joker in Batman oder Scar im König der Löwen. Vor dem Unfall habe ich das nie bemerkt.«
»Ist mir noch nicht aufgefallen, wir haben auch keinen Fernseher.«
Sie starrte mich an. »Habt ihr nicht? Echt, das ist ja verrückt.«
Ich seufzte – war nicht alles, was mit mir zu tun hatte, verrückt? »Schon okay, ich hab’s trotzdem verstanden, aber du kannst nicht erwarten, dass alle dich immer nur in Watte packen. Wenn jemand es nicht so meint, dann fass es auch nicht so auf.«
Sie setzte sich neben mich. »Noch mal: Es tut mir leid. Ich weiß, dass du recht hast.«
Ich legte ihr den Arm um die Schultern. »Sind wir Freunde?«
»Willst du das denn?« Sie starrte auf ihre Füße und ich verkniff mir ein Lächeln.
»Klar! Und du?«
Sie nickte
»Okay, dann sind wir welche.« Ich umarmte sie kurz. »Jetzt leg los – ich beantworte drei Fragen. Und damit hat sich’s.«
Sie nippte an ihrem Kaffee. Ich suchte in ihrem Gesicht nach einem Hinweis, dass sie sich freute, mich dazu gekriegt zu haben. Aber ich fand keinen.
»Na schön, hier kommt die erste. Was wolltest du auf der Party? Du spielst sicher nicht Rugby. Warst du mit dem Mädchen da, das nicht deine Freundin ist?«
»Ich hab ein paarmal mit ihr abgehangen und sie hatte noch eine Karte übrig. Sie hat so lange gedrängelt, bis ich mitgekommen bin. Ihrem Vater gehört die Bootswerft, auf der ich arbeite, ich hoffe, sie versaut mir das jetzt nicht.«
Jenna stöhnte. »Siehst du, ich hab’s dir doch gesagt, ich bringe alles durcheinander.«
Ich stupste sie mit der Schulter an. »Nein, tust du nicht. Pete würde total durchdrehen, wenn er wüsste, dass ich mich mit ihr treffe, also hast du mir eher Ärger vom Hals geschafft, statt mich reinzureiten.«
»Aber mochtest du sie denn, Ryan? Richtig?«
Ich überlegte. »Nein. Es war nur Sex.« Sie blickte schnell zu Boden. »Hey, sie mochte mich auch nicht wirklich. Sie hat gekriegt, was sie wollte. Und sie hat nur das in mir gesehen, was sie wollte. Wenn sie die Wahrheit gekannt hätte, hätte sie mich sofort fallen gelassen.«
»Was ist ›die Wahrheit‹?«
Ich kratzte mich am Hals. »Ach, so Sachen halt.«
»Na los, du hast gesagt, ich hätte drei Fragen.«
»Das waren schon drei.«
»Und du musst sie beantworten. Komm schon!«
Hastig nahm ich einen Schluck Kaffee und verbrannte mir die Zunge. Sie wartete. »Meine Mum. Manchmal geht es ihr nicht besonders gut.«
»Oh. Musst du dich um sie kümmern?«
»Ja.«
»Was hat sie denn?«
»Ich will nicht darüber reden.«
Zu meiner Überraschung legte sie ihre Hand auf meine. Sie passte auf, meine verletzten Fingerknöchel nicht zu berühren. Schmale, kleine Finger, die kaum Kraft hatten. Sie sagte nichts, sondern saß einfach nur da und sah den vorbeifahrenden Autos hinterher. Und wartete.
»Weißt du, was eine bipolare Störung ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Manisch-depressiv?«
»Hab ich schon mal gehört, aber ich weiß nicht wirklich was darüber.«
»Es ist eine psychische Erkrankung. Die Leute, die darunter leiden, haben Phasen, in denen es ihnen sehr schlecht geht, und dann wieder welche, in denen sie mehr als gut drauf sind. Keine normalen Stimmungsschwankungen. Sie sind total extrem, und wenn sie in einer der Phasen sind, haben sie sich nicht mehr unter Kontrolle. Dann machen sie seltsame Dinge.«
»Und deine Mum hat das?«
»Hm.«
»Ist es … ist sie …«
»Ob sie gefährlich ist, oder was?« Wut stieg in mir hoch und schnürte mir die Kehle zu. »Nein!«
»Ich wollte eigentlich fragen, ob es heilbar ist«, sagte Jenna leise.
Jetzt musste ich auf meine Füße starren. Sie steckten in diesen dämlichen Schuhen, die ich mir für die Hochzeit von Coles Freund im letzten Jahr gekauft hatte. Sie waren ein bisschen eng; ich war schon wieder gewachsen.
»Nein«, sagte ich schließlich. »Es ist nicht heilbar. Die meiste Zeit hat sie alles unter Kontrolle. Aber manchmal muss man auf sie aufpassen. Dann verliert sie sich irgendwie selbst und tut Dinge, die sie in gesundem Zustand nicht machen würde. Aber sie ist nicht gefährlich.«
Jenna griff jetzt richtig nach meiner Hand. »Wir müssen nicht weiter darüber reden, wenn du nicht willst. Das ist okay.«
»Es macht mir nichts aus«, erwiderte ich, und das stimmte. Ich wusste nicht, warum, denn normalerweise machte es mir sehr wohl etwas aus. »Aber ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.«
»Wie lange ist sie schon krank?«
»Schon immer. Schon bevor ich geboren wurde.«
»Und dein Vater? Kann er nicht helfen?«
Ich zuckte mit den Schultern »Den kenne ich nicht. Er war nur irgendein Typ, mit dem sie eine Zeit lang was laufen hatte. Wie immer in ihren manischen Phasen. Sie geht aus, schnappt sich einen Kerl und fängt was mit ihm an. Irgendwann hat er dann die Nase voll und haut ab. Damals wollte sie unbedingt ein Baby, also ließ sie sich schwängern, bevor er abhaute.« Ich blickte auf, und Jenna versuchte, ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu kriegen, aber es gelang ihr nicht schnell genug. »Weißt du, ich liebe meine Mum! Sie ist eine gute Mutter. Sie kann nichts dafür, dass sie krank ist. Sie ist nicht verrückt. Sie hat in Oxford einen Abschluss in Philosophie gemacht. Sie hat mich zu Hause unterrichtet. Sie hat mir jede Menge beigebracht. Sie ist keine Schnorrerin oder so was. Sie verdient Geld und sie kümmert sich um mich und –«
»Ryan –«
»Und die Leute blicken auf sie herab, obwohl sie keinem was tut. Sie lebt, wie sie es für richtig hält. Und das geht keinen was an. Wenn ich was verbocke, ist das nicht ihre Schuld. Sie würde mich umbringen, wenn sie auch nur das Geringste davon wüsste –«
»Ryan, sei still.«
Jenna sah jetzt überhaupt nicht mehr entsetzt aus. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, aber sie hielt meine Hand fest zwischen ihren Händen. Zitternd holte ich Luft. »Tut mir leid, ich weiß nicht, wieso das jetzt aus mir rausbricht.«
»Ich glaube, du hast es unterdrückt«, erwiderte sie. »Wann hast du das letzte Mal mit jemandem darüber geredet?«
»Weiß nicht genau. Irgendwann im letzten Jahr. Bevor Cole ausgezogen ist.«
»Wer ist Cole?«
»Meine Mutter war mit ihm zusammen. Er ist ein paar Jahre bei uns geblieben.«
»Und du mochtest ihn.«
»Woher weißt du das?«
Sie lächelte. »Das sehe ich dir an. Vermisst du ihn?«
»Glaub schon. Er war anders. Wir haben viel zusammen unternommen. Ausflüge, wie bei einer richtigen Familie. Ich wünschte, er wäre noch bei uns. Manchmal würde ich gerne mit ihm reden.«
»Hört sich an, als ob ihr euch sehr nahegestanden hättet.«
»Ja, wahrscheinlich. Er hat mir total geholfen.«
»Wobei?«
Sie hatte schon viel mehr als drei Fragen gestellt, sodass ich den Überblick verloren hatte. Aber meine Antworten kamen irgendwie von selbst heraus, als ob ich sie nicht rechtzeitig zurückhalten konnte. »Bei einer ganzen Menge von Dingen. Als ich noch jünger war und die anderen Kinder es immer auf mich abgesehen hatten, sagte er mir, dass alles nur eine Frage der Haltung sei. ›Wenn jemand Streit sucht, dann sei der Erste. Schlag schnell und hart zu. Lass sie nicht merken, dass du Angst hast, dann geben sie auf.‹ Er hat mir beigebracht, wie man sich verteidigt.«
Jenna lächelte. »Er hat seine Sache wohl sehr gut gemacht, wenn du jetzt rumläufst und dich mit Kerlen anlegst, die doppelt so breit sind wie du.« Ich lachte. Sie hielt immer noch meine Hand. Ich glaube, es gefiel mir. Fühlte sich gut an.
»Los, ich bringe dich jetzt besser nach Hause. Ich will nicht, dass du Ärger kriegst, weil du zu spät bist.«
Sie wartete, bis ich mein Fahrrad aus dem Gebüsch neben dem Rugbyklub geholt hatte.
»Steig auf.« Ich deutete mit dem Kopf auf den Sattel und sie setzte sich.
»Aber wie willst du dann … oh!«
Ich hob das Bein über die Querstange, sprang auf die Pedale und fuhr los, bevor ich das Gleichgewicht verlieren konnte. »Halt dich fest.«
»Hm … und wo?«
Ich wandte den Kopf nach hinten. Selbst im Licht der Straßenlaternen war die unversehrte Hälfte ihres Gesichts knallrot. Ich trat in die Pedale und mein Hintern wackelte hin und her. »Wo immer du kannst! Nicht dass du runterfällst.«
Sie legte mir die Hände auf die Hüften und wurde still. Ich konzentrierte mich auf die Straße. Es war ziemlich anstrengend, mit der Extralast den Hügel rauf nach Strenton zu fahren, und meine Oberschenkel schmerzten. Als wir im Dorf ankamen, stieg ich vom Fahrrad und schob es, Jenna saß immer noch drauf. Es fing leicht zu regnen an und im Lichtstrahl meiner Fahrradlampe sah man die herabfallenden Tropfen.
»Sah mein Hintern so spektakulär aus, dass es dir die Sprache verschlagen hat?«
Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Du bist so was von eingebildet.«
»Wir sind da.« Ich blieb stehen. Sie wollte meine Jacke ausziehen. »Gib sie mir morgen zurück, du wirst sonst bloß nass.«
Sie nickte und stieg vom Fahrrad. »Danke«, sagte sie, scharrte mit den Füßen und blickte zu Boden. »Für alles, meine ich.«
»Gern geschehen. Falls so was noch mal passiert, sag mir einfach Bescheid, und ich schlag ihnen jeden Zahn einzeln aus. Man fühlt sich gleich besser, wenn der Feind blutend am Boden liegt.«
»Darin bist du echt gut, oder?«
»Worin? Beim Sex? Ja, ich bin absolut großartig!«
Sie schnaubte empört und schlug nach mir, aber ich wich ihr aus, und sie lachte. Mir gefiel es, sie zum Lachen zu bringen. Vielleicht lachte sie einfach nicht oft genug, deshalb war es wie ein kleiner Sieg, wenn es mir gelang.
»Nein, Ryan. Darin, dich um Leute zu kümmern.«
Das überraschte mich. War das so?
»In jedem Fall vielen Dank«, sagte sie schnell und lief um die eine Seite des Hauses herum.
Ich wartete, bis die Tür aufging und ich Stimmen hörte, dann schob ich mein Fahrrad die Straße runter zur Kanalbrücke. Es war irgendwie seltsam, aber ich fand es schön, mit ihr zusammen zu sein.
War vielleicht doch keine so blöde Idee, Jenna zu küssen. Es hätte ihr bestimmt gefallen. Erstens wusste ich, wie ich es machen musste, damit es ihr gefiel. Zweitens hatte Jenna was übrig für mich, auch wenn sie zu schüchtern war, um das zu zeigen – was ich gut verstehen konnte. Und irgendwie süß fand. Ich bedauerte, dass ich es nicht getan hatte. Der Gedanke daran, ihr zu zeigen, wie Küssen sich eigentlich anfühlen sollte … es wäre bestimmt schön: Sie würde das Gleiche erwarten wie bei diesem Idioten, aber es würde ganz anders kommen … und die Überraschung auf ihrem Gesicht, wenn sie das merkte …
Aber ich konnte es nicht. Sie war einfach zu jung und es würde sie ganz durcheinanderbringen. Das war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Trotzdem schade, weil … ich mir vorstellte, wie sich ihre kleinen Finger um meinen Hals legten. Nein, nein, Schluss jetzt. Sie hatte auch ohne mich genug Probleme, mit denen sie fertigwerden musste. Trotzdem wollte ich sie wiedersehen, wollte einfach mit ihr zusammen sein und mit ihr reden. Es tat gut, sich mit jemandem zu unterhalten, der mich nicht bewertete. Jemand, der mich völlig in Ordnung fand. Mich, nicht den Sex, sondern mich.
Was für eine verrückte Nacht.