13_Jenna

Ich warf einen Haufen Kleider aufs Bett, bis ich mich endlich entscheiden konnte, was ich anziehen wollte. Als ich mich hinsetzte, um meine Haare mit dem Glätteisen zu bearbeiten, verzichtete ich auf den Spiegel. Darin war ich mittlerweile ziemlich gut. Doch schließlich konnte ich es nicht länger hinauszögern und kramte den Handspiegel aus dem Schrank.

Es war das erste Mal, dass ich das Make-up auftrug, wie ich es im Krankenhaus geübt hatte, nachdem ich die Maske los war. Ich versuchte, mich genau daran zu erinnern, wie man welches Kosmetikprodukt anwandte.

»Zuerst trägst du die Feuchtigkeitslotion auf und lässt sie ein paar Minuten einwirken«, hatte die Schwester gesagt. »Die hier ist viel leichter als deine Massagecreme.« Sie verteilte etwas davon auf meinem Gesicht und es fühlte sich leicht und kühl an.

Sie stellte ein paar Tiegel vor mich auf den Tisch. »Das Make-up wird in drei Schichten aufgetragen. Wir fangen mit der Abdeckcreme an. Am besten nimmst du dir immer nur ein kleines Stück vor, und wenn du dein Gesicht dann ganz im Spiegel anschaust, um die Grundierung aufzutragen, sieht es schon viel besser aus.« Ich schluckte und hielt die Augen auf die Tiegel gerichtet. Sie tätschelte meine Hand. »Einigen Patienten hilft das. Ich fange an und dann versuchst du es.«

»Okay«, murmelte ich. Was ich wirklich wollte, war aufstehen und wegrennen. Der Gedanke daran, meine Haut auf diese Weise zu berühren, ihr so viel Aufmerksamkeit zu schenken, drehte mir den Magen um. Es war schon schlimm genug, dass ich sie zweimal am Tag massieren musste, aber dazu brauchte ich wenigstens keinen Spiegel, und die dicke Schicht Creme unter meinen Fingern sorgte dafür, dass ich die Haut in meinem Gesicht gar nicht richtig fühlen konnte.

Sie tauchte ihren Finger in den Tiegel und verteilte ein paar gelbliche Kleckse auf meinem Gesicht. Ich sah zu, wie sie ihren Finger auf meinen Narben hin- und herbewegte. »Das nennt man Tupfentechnik, und es sorgt dafür, dass die Abdeckcreme überall gleichmäßig verteilt wird.« Ich versuchte es auch, mit weniger gutem Ergebnis. Sie befeuchtete einen Schwamm. »Jetzt ist die Grundierung an der Reihe. Sie ist viel flüssiger, deshalb tragen wir sie mit klopfenden Bewegungen auf deinem Gesicht auf, nämlich so. Pass auf, dass du nicht an der Haut reibst, sonst geht die Abdeckcreme wieder ab.« Sie nahm einen weiteren Tiegel und reichte ihn mir. »Letzte Schicht. Ein anderer Farbton und dickflüssiger. Du trägst es nur dort auf, wo du es brauchst. Ich finde es am besten, wenn man beide Grundierungen vermischt. Dadurch bekommt man ein tolles Ergebnis.« Sie nickte zustimmend, während ich die Creme auftrug, und zeigte mir die Stellen, an denen ich etwas vergessen hatte. »Jetzt mach die Augen zu. Ich will ein bisschen Puder über dein Gesicht verteilen, damit es nicht so glänzt … okay, jetzt guck mal in den Spiegel.«

Ich öffnete die Augen. Es sah ein bisschen besser aus, aber meine rechte Gesichtshälfte erinnerte mich noch immer an verschrumpelte Fingerspitzen nach einem langen Bad. Nicht mal ein Berg Make-up konnte das verschwinden lassen.

 

Zwei Monate später betrachtete ich wieder mein geschminktes Gesicht im Spiegel. Ich hatte es ganz gut hingekriegt. Ich steckte mir silberne Kreolen in die Ohren, dann ging ich ein letztes Mal mit dem Glätteisen durch meine Haare. Parfüm war nicht drin, weil es die Haut an meinem Hals reizte, aber das war nicht schlimm, denn ich hatte nach dem Duschen jede Menge Bodylotion aufgetragen.

Ich hörte das Knirschen von Autoreifen auf Kies, als ein Wagen in die Auffahrt einbog, und rannte nach unten. Auf der untersten Stufe zog ich meine Schuhe an. Mum kam mit meinem Mantel.

»Den brauche ich nicht. Wir fahren doch mit dem Auto.«

»Du siehst toll aus. Ich wünsch dir viel Spaß«, sagte sie und zupfte an dem dünnen Schal, der die Narben an meinem Hals bedeckte.

Dad kam in den Flur. »Wenn es Alkohol gibt, denk dran, dass du nicht –«

»Clive, das weiß sie. Sie geht zum ersten Mal seit Monaten aus. Lass sie in Ruhe. Außerdem werden heute nur alkoholfreie Getränke ausgeschenkt, das habe ich dir doch gesagt.«

»Und wenn da was mit Drogen läuft«, fuhr er fort, ohne sie zu beachten, »dann rufst du mich an, und ich hole dich ab. Hast du dein Handy? Ist es aufgeladen?«

»Ja«, zischte ich und meine Nerven fuhren Achterbahn. Bevor ich der Versuchung nachgab, nach oben zu fliehen und mich in meinem Zimmer einzuschließen, lief ich zur Haustür hinaus.

»Ich bringe sie um halb elf zurück«, rief Beths Dad, als ich ins Auto stieg.

 

Der Rugbyklub von Whitmere veranstaltete oft Feste, aber das war das erste für unter Achtzehnjährige. Der heutige Abend war Teil der Zwanzig-Jahr-Feierlichkeiten und Max hatte Karten für uns besorgt. Er und Beth waren in der Woche zuvor beim Herbstball gewesen und nun offiziell zusammen. Das war für Beth eine gute Gelegenheit, mich aus dem Haus zu locken. »Du musst Max doch kennenlernen«, sagte sie, als ich meine Einwände vorbrachte und sie abwimmeln wollte. Normalerweise gab sie auf, wenn ich ihr absagte, doch dieses Mal bedrängte sie mich so lange, bis ich zustimmte.

Als wir beim Klubhaus ankamen, sah Beth auf ihr Handy. »Eine SMS von Max. Er ist schon da und wartet an der Bar auf uns.« Sie beugte sich vor und küsste ihren Vater auf die Wange. »Tschüs, bis später.« Sie sah gut aus heute Abend – sie trug die neuen Kontaktlinsen und hatte ihre Haare so frisiert, dass sie sich schön lockten.

Die Veranda vor dem Klubhaus war schon voller Leute. Jungs reichten Flaschen herum, die sie nach dem Trinken in den Blumentöpfen versteckten. Die Mädchen verglichen ihre Outfits. Ein paar von ihnen kannte ich aus der Schule.

Wir gingen an einem Pärchen vorbei, das auf einer Bank neben der Tür saß. Das Mädchen erregte meine Aufmerksamkeit, weil es das kürzeste und engste weiße Kleid trug, das ich jemals gesehen hatte. Dazu hohe weiße Plateauschuhe mit Bändern, die sich überkreuzten und bis hinauf zu ihren Knien wanden. Der Junge, mit dem sie da saß, hatte den Arm um sie gelegt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ihre Hand ruhte besitzergreifend auf seinem Bein. Sie war hübsch, aber mit etwas weniger Schmuck und Selbstbräuner wäre sie noch hübscher gewesen. So sah sie billig aus.

Ich stockte, als ich in das Gesicht des Jungen schaute.

Ryan?

Es war ein paar Wochen her, seit ich ihn das letzte Mal getroffen hatte. Er kam mir irgendwie verändert vor. Vielleicht waren es die schicken Klamotten – eine schwarze Hose und ein enges schwarzes Hemd mit feinen weißen Nadelstreifen. Aber auch sein Gesicht wirkte anders, während er mit dem Mädchen sprach. Es hatte einen härteren Ausdruck, der ihn älter erscheinen ließ und … auch ein bisschen Angst einflößend.

Er blickte auf, als er hörte, wie mein Absatz über den Boden schrammte. Seine Augen weiteten sich und er lächelte. »Hi«, sagte er lautlos. Das Mädchen blickte mich finster an, bis sie mein Gesicht besser sehen konnte. Dann entspannte sie sich.

Nein, ich bin keine Bedrohung für dich, was?

»Kennst du ihn?«, flüsterte Beth.

»Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Wieso?«

»Ist er nett?«

»Ja, warum?« Sie konnte mich doch nicht ernsthaft verkuppeln wollen?

»Weil das Mädchen, mit dem er da sitzt, eine Schlampe erster Güte ist. Sie hat mit der halben Stadt geschlafen. Sie heißt Sadie. Meine Cousine hat es mir erzählt. Sie ist die beste Freundin von Sadies kleiner Schwester. Du solltest ihn warnen.«

»So gut kenne ich ihn auch wieder nicht.«

Toller Vorschlag, Beth. Ich konnte es mir lebhaft vorstellen: »Ich denke, ich sollte dir sagen, dass deine Freundin eine Schlampe ist. Natürlich ganz ohne Hintergedanken.« Er würde mir bestimmt jedes Wort glauben.

»Oh, schau mal, da hinten ist Max!« Beth deutete auf einen Jungen an der Bar.

Bevor er uns entdeckt hatte, blieb mir genügend Zeit, ihn genauer zu mustern. Ich war positiv überrascht. In meinem Kopf hatte ich ein Schreckensbild entworfen, das ihn wie eine Mischung zwischen einem Gnom und Lee West aus dem Jahrgang über uns (er hatte so viele Pickel, dass sein Gesicht glatt ein Punktebild abgeben könnte) aussehen ließ. Aber Max war weitgehend pickelfrei und er war weder besonders hässlich noch besonders attraktiv. Er sah aus wie jeder andere durchschnittlich hübsche Junge. Ich atmete auf – ich musste Beth nicht anlügen. »Der in dem blauen Hemd? Er sieht doch viel besser aus, als du gesagt hast.«

Beth glühte. »Komm, ich stell dich vor.«

Max’ Gesicht hellte sich auf, als er Beth entdeckte. Er schlang seinen Arm um sie und küsste sie auf die Wange. Eifersucht durchzuckte mich. Was hätte ich dafür gegeben, dass ein Junge mich so ansah! Beth machte uns bekannt: Max, sein älterer Bruder und zwei andere Jungs, mit denen sie befreundet waren. Alle waren vorgewarnt, das merkte ich daran, wie ihre Blicke über mein Gesicht glitten und auf sichererem Terrain hängen blieben, und an der Mühe, die sie sich gaben, um mich nicht anzustarren.

Max kaufte mir eine Cola. Sein Bruder und die beiden anderen Jungs redeten über Rugby. Beth und Max unterhielten sich über die historischen Rollenspiele und versuchten, mich durch gelegentliche Kommentare einzubeziehen. »Du hättest sein Gesicht sehen sollen, Jenna, es war so witzig!« Sie wollten einfach nur nett sein. Jeder konnte sehen, dass die beiden sich nur füreinander interessierten, und ich verstand weder, worüber sie sprachen, noch konnte ich mich dafür begeistern. Ich stand da, lächelte abwesend, drehte das Colaglas in meinen Fingern und wünschte, ich wäre nie hierhergekommen.

Ich flüchtete mich in eine Traumwelt, in der ich auf einer einsamen Insel lebte, auf der es keine Menschen, sondern nur Hunde und Pferde gab. Keine Schule, in die man gehen musste, keine Eltern, die sich schuldig fühlten, wenn sie mich ansahen, keine angewiderten Blicke, kein Gekicher hinter meinem Rücken. Nur Sonne, Meer, endloser weißer Strand, Schatten spendende Palmen, alles ganz für mich allein …

Plötzlich zuckte Beth zurück und ihr Mund öffnete sich vor Überraschung. Ihre Augen blitzten mich an, und ich wirbelte herum, bevor sie die Hand ausstrecken konnte, um mich daran zu hindern.

Steven Carlisle.

Er stand in der Tür, mit einem Mädchen im Arm. Eine schlanke Blonde in einem wunderschönen grünen Kleid. Eine, mit der jede andere im Raum gern tauschen würde.

Beth packte mich am Arm. »Jenna – du lieber Himmel, es tut mir leid. Daran habe ich nicht gedacht. Aber er ist über achtzehn, er sollte eigentlich nicht hier sein.«

»Er gehört zur Mannschaft. Sein Dad unterstützt den Klub«, antwortete ich matt. »Er kann wahrscheinlich machen, was er will.«

Steven schlenderte durch den Raum, seine neue Freundin trippelte ihm bewundernd hinterher. Er ging an ein paar Grüppchen vorbei und blieb einige Male stehen, um mit ausgewählten Leuten zu reden. Dann kam er an die Bar.

Wo er mich entdeckte.

Er starrte mich an.

Seine Lippen verzogen sich, als ob er etwas Weißes, Glibberiges unter einem Stein erblickt hätte.

Und er wandte mir ganz bewusst den Rücken zu.

Er beugte den Kopf, um das Mädchen besser zu verstehen, und lachte laut.

Beth zog mich am Arm. »Jenna, komm weg hier.« Ich ließ mich von ihr in das nächste Zimmer ziehen, in dem es ruhiger war.

»Er sollte tot sein«, zischte ich. »Er. Nicht Lindz. Und nicht Charlotte.«

»Jen, hör auf. Er ist es nicht wert.«

»Aber Lindz ist es.«

Max kam eilig zu uns. »Ist alles in Ordnung? Er ist auf der Veranda beim Rest der Mannschaft. Ich nehme an, er bleibt die meiste Zeit dort. Wir gehen ihm einfach aus dem Weg.«

Der DJ drehte die Musik lauter und eine Gruppe von Leuten stürmte auf die Tanzfläche. »Komm, lass uns tanzen«, sagte Beth – mehr, um mich abzulenken, als dass sie wirklich Lust dazu hatte. Ich ließ mich überreden. Max wackelte teilnahmslos hin und her, wie alle Jungs, die nicht sicher waren, was sie mit ihren Armen und Beinen anstellen sollten. Als die Tanzfläche immer voller und es unter den Scheinwerfern sehr heiß wurde, fing ich an, mir Sorgen zu machen, dass sich die dicken Make-up-Schichten auflösen und über mein Gesicht laufen könnten. Ich rief Beth zu, dass ich eine Abkühlung brauchte, und zog mich an einen Tisch neben einem offenen Fenster zurück, wo sie mich sehen konnte.

Ein R&B-Song dröhnte aus den Lautsprechern und das Mädchen im weißen Kleid kam durch die Verandatür. Sie zog Ryan hinter sich her. Ich machte mich so klein wie möglich und beugte den Kopf über mein Glas. Als ich verstohlen aufblickte, sah ich sie miteinander tanzen. Seine Hände lagen auf ihren Hüften und sie bewegte sich zwischen seinen Beinen und presste sich an ihn. Sie konnte gut tanzen. Als das Lied zu Ende war, nahm er ihre Hand und führte sie wieder nach draußen.

Ich lehnte mich zurück und sah zu, wie sich die Discokugel über der Tanzfläche drehte. Von den anderen Tischen und durch das offene Fenster wehte Gelächter zu mir herüber. Beth winkte mir zu, und ich winkte zurück, aber ich wünschte, sie würde mich in Ruhe lassen. Ich sah auf die Uhr an der Wand. Die Minuten verstrichen qualvoll langsam, und ich versuchte, den Zeiger dazu zu bringen, sich schneller zu bewegen.

»Hi.« Ein Junge setzte sich direkt neben mich. »Warum tanzt du nicht?«

»Ich mach ’ne Pause.«

»Ich auch.« Er beugte sich vor, damit ich ihn trotz der Musik hören konnte, sein Atem roch nach Cidre.

»Wie heißt du?«

»Jenna.«

»Hey, ich bin Ed. Bist du mit deinem Freund hier?«

Wie viel hatte der denn getrunken? Konnte er nicht mehr klar sehen? »Nein, mit ein paar Freunden.« Ich deutete mit einer unbestimmten Geste auf die Tanzfläche.

»Dein Freund ist nicht hier?«

»Ich hab keinen.«

»Das kann doch gar nicht sein. Offenbar hast du nur noch nicht den richtigen Jungen getroffen.« Er grinste, als ob er etwas wirklich Witziges gesagt hätte. Er sah aus, wie Jungen in der Pubertät eben aussahen. Vor den Sommerferien waren sie noch süß und kindlich wie Charlie und danach sahen sie schon fast erwachsen aus. Aber ihr Gesicht wirkte irgendwie unfertig – wie im Kino, wenn sich ein Werwolf verwandelte. Die Nase passte nicht zum Rest und der Kiefer hatte auch eine andere Form. Aber ich konnte mir wirklich nicht leisten, wählerisch zu sein, und außerdem sollte ich es besser wissen.

»Offenbar nicht«, sagte ich und zwang mich, ihn anzulächeln.

Er gehörte dem Rugbyteam der unter Fünfzehnjährigen an. Und er erzählte mir alles darüber, ging die ganze Saison durch, Spiel für Spiel. Ich nickte interessiert, hatte aber keine Ahnung, wovon er sprach. In allen Zeitschriften stand, dass Jungs gern über sich redeten und dass Mädchen sie dazu ermutigen sollten. Das tat ich. Er stellte mir keine einzige Frage, sondern prahlte nur mit seinen Rugby-Erfolgen. Mir kam der Gedanke, dass er mich beeindrucken wollte, aber das war einfach zu abwegig.

»Willst du ein bisschen frische Luft schnappen?«, fragte er. »Hier drin ist es stickig.«

In diesem Augenblick tauchte Steven Carlisle auf und schaute zur Tanzfläche, deshalb nickte ich ganz automatisch und folgte Ed nach draußen. Beth reckte erfreut die Daumen hoch.

»Hier lang«, sagte er. »Da ist es ruhiger.« Ed ging zur Rückseite des Klubhauses. Nach der Hitze drinnen stach mir die kalte Luft ins Gesicht und von der lauten Musik klingelten mir die Ohren. Die plötzliche Kälte und die Dunkelheit machten mich schwindelig. Ich lehnte mich an die Wand und schloss die Augen, damit mein Kopf aufhörte, sich zu drehen.

»Hey«, sagte Ed dicht vor mir. Als ich alarmiert die Augen öffnete, war er nur noch zehn Zentimeter entfernt.

»Was –«, fing ich an, doch da presste sich sein Mund schon auf meinen. Wenn im Film ein Junge ein Mädchen küsst, berührt er ihr Gesicht. Ed tat das nicht. Sein Cidre-Atem roch abgestanden und sauer und mir wurde schlecht. Er steckte mir die Zunge in den Mund, rammte sie richtig hinein, nass und glitschig … einfach widerlich.

So sollte es sich nicht anfühlen. Ich sollte es doch gut finden. Was stimmte denn nicht mit mir?

Er grunzte und lehnte sich an mich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also stand ich mit offenem Mund und herabhängenden Armen da. Seine Hände fummelten am Saum meines Tops herum und dann glitten sie darunter. Er packte meine Brüste und drückte sie, während er mir die Zunge noch tiefer in den Mund schob. Der Beat der Musik drang durch die Wand in meinen Hinterkopf ein, und Ed machte seltsame, keuchende Geräusche. Als er anfing, sich an mir zu reiben, konnte ich es nicht länger ertragen.

Ich stieß ihn heftig weg. Es kam so unerwartet für ihn, dass er aus dem Gleichgewicht geriet. Ich konnte mich von ihm losmachen und weglaufen. Ich wollte nicht stehen bleiben, um ihm irgendwas zu erklären. Was hätte ich auch sagen sollen? Frigide, so nannte man das. Vielleicht hatte Steven mehr als nur mein Gesicht zerstört. Vielleicht war in meinem Kopf auch was kaputtgegangen. Ein Narbenmonster. Ein frigides Narbenmonster.

Beth war nicht mehr auf der Tanzfläche. Ich schob mich durch die Menge und suchte nach ihr, weil ich nicht allein sein wollte, wenn Ed wieder reinkam. Die Leute murrten verärgert, als ich mich an ihnen vorbeiquetschte, ohne darauf zu warten, dass sie mir Platz machten.

Ich hörte Beth, bevor ich sie sah. Sie stand an der Bar und redete mit Max. »Sie hat sich so verändert. Sie geht nicht aus und macht gar nichts mehr. Sie glaubt, jeder starrt sie an.«

»Aber das stimmt doch«, erwiderte Max.

»Die würden sich schon daran gewöhnen. Aber sie gibt ihnen gar keine Chance. In der Schule redet sie kaum mit den anderen. Als ob sie vergessen hätte, wie das geht. Selbst wenn sie mit mir zusammen ist, ist sie nicht mehr dieselbe.«

Nicht mehr dieselbe? Natürlich bin ich nicht mehr dieselbe! Versuch du doch mal, so rumzulaufen, dann siehst du, wie normal du dann noch bist, du dämliche fette Kuh!

Tränen brannten in meinen Augen. Beth war meine Freundin, und nun erzählte sie einem Typen, der mich nicht mal kannte, solche persönlichen Sachen über mich.

Steven Carlisles hasserfülltes Gelächter schallte durch den Raum, und da stand er, den Arm um das Mädchen gelegt, wie früher bei Lindz.

Ich musste hier raus.

Wieder drängte ich mich durch die Menge, bis zur Veranda, aber dort stand Ed mit seinen Kumpeln. Ich blieb stehen, weil ich nicht wusste, wohin.

»Los, du schuldest mir einen Zwanziger«, sagte Ed lachend zu einem der anderen Jungen.

»Was denn, du hast es wirklich getan? Sie geküsst?«

Mir stockte der Atem.

»Genau, also her mit dem Geld. Und gib mir was zu trinken. Das kann ich jetzt wirklich gebrauchen.«

Der andere Junge zog ein paar Geldscheine aus seinem Portemonnaie. »Erzähl mal, wie war’s?«

»Ekelhaft. Aber sie ist total darauf abgefahren. Ich dachte, die will mir das ganze Gesicht ablecken!«

Sein Kumpel lachte. »Dann hast du dir das Geld ja mehr als verdient! Wie konntest du dich überhaupt überwinden?«

»Ich hab die Augen zugemacht, du Idiot, was denkst du denn?«

Ich taumelte von der Tür weg und stürzte auf den Haupteingang zu. Die Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Ich wusste nicht, wo ich hingehen oder was ich tun sollte, aber ich musste weg. Meine Absätze rutschten über die Stufen, als ich nach draußen rannte, und ich fiel fast hin – gerade noch bekam ich das Geländer zu fassen.

Das Gelächter und die Musik schallten hinter mir her, während ich den Weg entlangstolperte.

»Hey!«, rief jemand hinter mir, als ich schneller rannte, blind vor Tränen und weil meine Augen sich noch nicht an die Dunkelheit draußen gewöhnt hatten.

Du albernes, dämliches Monster. Natürlich würde dich niemand küssen, es sei denn, er wird dafür bezahlt.

»Hey!«, rief die Stimme wieder. Eine männliche Stimme. Und dann: »Warte, Jenna!«

Ich lief weiter

»Jenna, bleib stehen.« Die Stimme war nun ganz nah, eine Sekunde später hatte der Junge mich überholt und tauchte vor mir auf. Ich versuchte, zur Seite auszuweichen, aber er packte mich an den Armen. »Jenna, was ist passiert?«

Ryan.

»Was ist los?«

»W-w-w…« Ich bekam kein Wort heraus.

Er zog mich an sich und legte seine Arme um mich. Meine Nase wurde gegen seine Schulter gepresst. »Schsch, schsch.«

Er war groß, warm und stark, und ich hatte nicht genug Kraft, um mich zu wehren, also lehnte ich mich an ihn und schluchzte.

Er streichelte mein Haar. »Jenna, sag mir doch, was los ist? Hat dir irgendjemand was getan?«

»W-wer w-würde schon w-was mit mir t-tun wollen?«, stotterte ich.

Er umarmte mich noch fester. »Das ist doch Quatsch. Sag mir, was passiert ist.« Er beugte seinen Kopf zu mir herab und hob meinen hoch. »War es der Kerl vom Unfall? Er ist hier, oder? Jemand hat ihn mir gezeigt.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das hat nichts mit ihm zu tun. Bitte lass mich. Ich will nach Hause.«

»Nicht, bevor du mir erzählt hast, was passiert ist.« Mit seinem Ärmel tupfte er mir die Tränen vom Gesicht. »Ich will wissen, wer dich so aus der Fassung gebracht hat.«

»Ich kann nicht …«

»Doch, du kannst«, sagte er bestimmt, »und du wirst.«

Ich fing wieder an zu weinen. Wie konnte ich ihm das erzählen?

Er nahm mein Gesicht in seine Hände … Er nahm mein Gesicht … »Du erzählst es mir jetzt auf der Stelle! Guck nicht so. Erzähl es mir einfach – los, raus damit.«

Du berührst mein Gesicht.

»Jenna!«

»Ein Junge da drin …«

»Ja?«

»Er hat mich angesprochen und dann sind wir raus und …«

»Und?«

»Er hat mich geküsst.«

»Das kann nicht alles sein. Was hat er noch gemacht?«

Ich verzog das Gesicht. »Er hat seine Hände auf meine … meine …«

Er umarmte mich wieder. »Okay, nicht weinen. Ich hab schon verstanden. Und dann?«

»Ich habe ihn weggestoßen und bin reingegangen. Und dann habe ich gehört, wie er seinen Freunden davon erzählt hat. Den Rest kann ich dir nicht sagen.«

»Natürlich kannst du das. Hat er behauptet, es wäre mehr gelaufen?«

»Ja.«

»Arschloch.« Er rieb mir eine Weile den Rücken, dann lehnte er sich zurück. »Was hast du mir noch nicht erzählt?«

Er würde immer weiterbohren und mir fiel nichts anderes ein als die Wahrheit. »Es war eine Wette. Für zwanzig Pfund hat er es gemacht. Weil ich ein … ein …«

Ryan hielt mich auf Armeslänge von sich weg. »Was? Was hat der Typ gemacht? Wie heißt er?«

»Ed. Wieso fragst du?«

»Welche Farbe hat sein Hemd?«

»Es ist blau-weiß kariert. Ryan, was –«

»Du wartest hier. Hast du drinnen noch einen Mantel?«

»Nein …«

»Warte – ich bin in einer Minute wieder da.«

Er rannte zum Klubhaus. Ich hörte eine schrille Mädchenstimme: »Ryan, was hast du vor? Komm sofort her. Du kannst mich nicht einfach hier stehen lassen!«

Ich zog meine Schuhe aus und rannte durchs Gras. Als ich um das Gebäude schlich, sah ich, wie das Mädchen im weißen Kleid Ryans Arm packte. Doch er schüttelte sie ab und sprang über das Geländer der Veranda. Ein paar Mädchen kreischten und wichen zurück.

Ryan ging zu einer Gruppe Jungen, in deren Mitte die Gestalt mit dem blau-weiß karierten Hemd stand. »Bist du Ed?«

In die Gruppe kam Bewegung und Ed nickte. »Ja, wieso?«

Ryans Faust landete mit Wucht in seinem Gesicht und Ed ging krachend zu Boden.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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