9_Jenna

Donnerstags hatte Charlie abends Fußballtraining, also kam ich allein von der Schule nach Hause. Ich hob die Briefe von der Fußmatte auf und ging zum Tisch im Flur, um sie dort abzulegen. Ein in der Mitte geknicktes DIN-A4-Blatt erregte meine Aufmerksamkeit. Dunkle Buchstaben schimmerten durch das Papier. Ich faltete es auseinander.

Aus einer Zeitung ausgeschnittene Buchstaben waren zu einer Botschaft zusammengeklebt worden:

 

DU BIST EIN TOTER MANN

 

Steven – ich wusste, dass er das war. Schnell ging ich zum Sessel im Flur, bevor meine Beine unter mir nachgaben. Jetzt reagier nicht über – das ist doch typisch für ihn. Der ist eben ein totales Großmaul. Das hat nichts zu bedeuten, sagte ich mir, um mich zu beruhigen. Er versuchte nur, uns Angst zu machen, mehr nicht. Auch wenn Steven Carlisle sich für einen tollen Typen und nicht für einen dummen Jungen hielt – nachdem das Auto verunglückt war, lag er flennend im Gras. Rob White hatte mich und Sarah aus dem Wagen gezogen, während er nur gewimmert und gar nichts getan hatte. Er würde niemals den Mumm haben, Dad etwas anzutun, ganz egal, wie sehr er uns hasste.

Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken und mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Wenn Dad nur mit dieser dämlichen Kampagne aufhören würde. Sie hatte fast das ganze Dorf gegen die Carlisles aufgebracht. Es interessierte mich zwar nicht das kleinste bisschen, ob das Steven etwas ausmachte, aber es interessierte mich sehr wohl, ob die Leute weiterhin über den Unfall sprachen. Ich wünschte mir, dass man ihn vergessen würde – obwohl es sehr unwahrscheinlich war, dass die Leute jemals den Tod von Lindz und Charlotte vergessen würden.

Ich habe nie verstanden, was Lindz an Steven fand, abgesehen von den neidischen Blicken, natürlich. Er dachte, dass die Welt sich nur um ihn drehen würde, und behandelte jeden anderen, als ob er das auch so sehen müsste.

Das Geräusch des Schlüssels in der Haustür zeigte an, dass Dad nach Hause kam. Ich rannte die Treppe runter. Mum war bei ihm. Ich gab ihm das Blatt Papier. Er las es und reichte es an Mum weiter. Sein Gesicht war starr. Er griff sich das Telefon vom Flurtisch.

Mum schlug eine Hand vor den Mund, während sie den Brief las. »Clive, was hast du vor?«

»Ich rufe die Polizei. Ich lasse nicht zu, dass dieser kleine Scheißer uns bedroht.«

»Hältst du das für eine gute Idee? Vielleicht wäre es besser, ihn einfach nicht zu beachten?«

»Dad, lass es sein, bitte.«

Er tippte die Nummer der Polizeiwache ein und ging mit dem Telefon ins Arbeitszimmer.

»Komm, wir gehen raus und pflücken ein paar Äpfel«, sagte Mum. Ich wusste, dass sie nur versuchte, mich abzulenken. Aber ich hatte nichts dagegen, jetzt abgelenkt zu werden.

Wir gingen durch den Garten zu den beiden Apfelbäumen neben unserem Gemüsebeet. Mum hielt den Korb, während ich mich reckte und die reifen Äpfel von den niedrig hängenden Zweigen pflückte.

»Nimm den da. Nein, da oben –« Mum verstummte plötzlich.

Ich folgte mit den Augen ihrem Blick über die Hecke und in den Garten nebenan. Lindz’ Dad stand dort und starrte ins Leere. Wir beobachteten ihn eine Weile, aber er schien wie versteinert zu sein. Mum legte mir den Arm um die Schultern.

»Komm mit rein«, flüsterte sie.

»Sollten wir nicht Hallo sagen?«, flüsterte ich zurück.

Sie schüttelte unsicher den Kopf. »Das lassen wir lieber, Jen. Das letzte Mal, als Dad und ich mit ihm reden wollten, wurde er sehr traurig. Ich glaube nicht, dass es ihm jetzt besser geht. Er soll sich unseretwegen nicht noch schlechter fühlen.«

Vielleicht war es mit mir genauso wie mit Lindz’ Pony – er konnte meinen Anblick nicht ertragen. Irgendwie verstand ich das. Wahrscheinlich sogar besser als jeder andere.

 

Die Mutter von Charlies Freund brachte ihn nach dem Fußballtraining nach Hause und er marschierte völlig schlammverkrustet in mein Zimmer.

»Ich bin fürs nächste Spiel aus der Mannschaft geflogen«, sagte er und schmiss sich auf mein Bett. Normalerweise hätte ich ihn dafür angeschrien, dass er meine Bettdecke zerwühlte, aber er sah so unglücklich aus.

»Warum?«

»Pah – jemand war besser als ich.«

Ich legte meine Hausaufgaben beiseite. Das hier würde eine Weile dauern. »Du hast doch so hart trainiert. Vielleicht hattest du einfach einen schlechten Tag.«

Er pikte meinem Teddybären mit dem Finger ins Auge. »Ich war schlechter als schlecht und sowieso ist es jetzt nicht mehr dasselbe.«

»Lass Barney in Ruhe. Es ist nicht seine Schuld. Warum ist es jetzt nicht mehr dasselbe?«

»Früher bist du immer für mich ins Tor gegangen, damit ich besser trainieren konnte.«

»Du hast gesagt, ich wäre total grottig im Tor!«

»Warst du ja auch, aber es ist trotzdem einfacher, wenn man einen Torwart hat, selbst wenn es ein schlechter ist.« Wieder versetzte er Barney einen heftigen Stoß. »Jetzt machst du gar nichts mehr mit mir.«

Das stimmte. Seit dem Unfall hatte ich kaum Zeit mit ihm verbracht. »Ich wollte den Ball nicht ins Gesicht kriegen.«

Er zog einen Schmollmund. »Aber jetzt ist es schon viel besser, und du unternimmst trotzdem nichts mit mir, auch nichts anderes, wie wir es früher gemacht haben.«

Mir war gar nicht klar, dass er das vermisste. Vielleicht war ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Die meisten kleinen Brüder wären total beleidigt wegen der ganzen Aufmerksamkeit, die ich in den letzten Monaten bekommen hatte. Charlie nicht. »Okay, wenn du morgen Abend nach Hause kommst, trainieren wir Torschüsse. Wie wäre das? Und wir üben so lange, bis du so gut bist, dass sie es kaum abwarten können, dich zurück in die Mannschaft zu holen.«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Danke, Jen! Vielleicht bist du doch nicht die blödeste Schwester aller Zeiten.«

»Ich danke dir, Charlie. Deine Komplimente sind wirklich super«, lachte ich und schubste ihn von der Bettdecke. »Jetzt geh duschen – du stinkst.«

Er streckte mir die Zunge raus und versuchte, sein verschwitztes, dreckiges Trikot an mir abzuwischen. Dann trottete er davon, um sich zu waschen.

Als er weg war, machte ich meine Hausaufgaben fertig und nahm ein langes Bad, bevor ich ins Bett ging. Ich schlief fast augenblicklich ein.

Ein paar Stunden später wachte ich ganz plötzlich auf. Im Flur brannte Licht, das unter meiner Tür durchschien. Dad brüllte: »Bleibt im Bett. Ich regele das.« Er polterte die Treppe runter, fluchte kurz und stieß die Haustür auf. Mum rief: »Clive, geh ja nicht raus«, und dann hörte ich das Knirschen seiner Schritte auf unserer Kiesauffahrt. Und Mum, die auch die Stufen runterrannte. Als ich oben an die Treppe schlich und runterschaute, sah ich, dass der Flurteppich voller Glasscherben war. Ein Stein lag auf dem Boden vor Mums Füßen und das Fenster neben der Haustür war zerbrochen.

Dad kam zurück. »Keine Spur von ihnen. Und keine Spur von einem Auto. Das beweist, dass es jemand aus der Gegend war.« Er schnappte sich das Telefon. »Ich rufe noch mal die Polizei an. ›Sprechen Sie ihn freundlich darauf an‹, haben sie gesagt. ›Warnen Sie ihn.‹ Als ob das was nützen würde. Er muss hinter Gitter.«

»Ich gehe hoch und sehe nach den Kindern«, sagte Mum. »Die Polizei soll die Sirene ausschalten, wenn sie herkommt. Morgen ist Schule.«

Ich rannte zurück in mein Zimmer. Charlie hatte von all dem nichts mitbekommen. Selbst wenn das Dach explodierte, würde er nicht aufwachen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und tat, als ob ich schliefe, weil ich zu wütend war, um mit Mum zu sprechen. Wütend auf Steven Carlisle, diesen Abschaum auf zwei Beinen, und wütend auf Dad, weil er uns das hier eingebrockt hatte. Die Polizei würde keinen Hinweis finden, dass Steven daran beteiligt war – er hatte ganz bestimmt ein Alibi.

Mum blieb ein paar Minuten im Türrahmen stehen. Ich spürte, dass mein Täuschungsmanöver sie nicht überzeugte. Trotzdem schloss sie schließlich leise die Tür und ließ mich allein.

Ich vergrub meinen Kopf im Kissen.

 

Das Motorengeräusch eines Hubschraubers dröhnte laut in meinen Ohren. Lindz lachte. »Komm schon, tu es! Tu es!«

Ich hatte diesen Traum schon oft gehabt. Immer den gleichen. Immer lachte sie. Immer lief sie mit einem breiten Grinsen zur geöffneten Hubschraubertür und stürzte sich nach draußen. Und während sie fiel, rief sie: »Komm schon!«

Und immer folgte ich ihr. Mir war schlecht, meine Knie zitterten, aber ich folgte ihr.

Wir stürzten zusammen durch den Himmel und zogen zur gleichen Zeit an der Leine unserer Fallschirme. Ihrer öffnete sich nie, doch sie grinste genauso wild wie zuvor, während sie auf den einsamen Wald unter uns zuschoss. Die Kronen der Bäume wirkten wie ein sich kräuselndes grünes Meer.

Es sah friedlich aus. Das dachte ich jedes Mal.

Bis Lindz auf den ersten Baum prallte. Sie starb jedes Mal auf eine andere Art. Manchmal schlug sie mit dem Kopf auf. Manchmal fiel sie mit den Füßen voran. Dieses Mal kippte ihr Hals nach hinten wie bei einer zerbrochenen Puppe, als sie zwischen die Bäume stürzte und verschwand.

Ich schwebte hinter ihr her, bis sich mein Fallschirm in den Zweigen verfing und ich in den Gurten hängen blieb. Der Baumwipfel über mir schnellte wieder an seinen Platz zurück – aus der Luft würde mich niemand mehr sehen.

Unter mir, weit unter mir, lag Lindsays Leichnam auf dem Boden. Und ich baumelte dort. Verborgen in den Bäumen, wo mich niemals jemand finden würde.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
titlepage.xhtml
part0001.html
part0002.html
part0003_split_000.html
part0003_split_001.html
part0004_split_000.html
part0004_split_001.html
part0005_split_000.html
part0005_split_001.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0009_split_000.html
part0009_split_001.html
part0010_split_000.html
part0010_split_001.html
part0011_split_000.html
part0011_split_001.html
part0012_split_000.html
part0012_split_001.html
part0013_split_000.html
part0013_split_001.html
part0014_split_000.html
part0014_split_001.html
part0015_split_000.html
part0015_split_001.html
part0016_split_000.html
part0016_split_001.html
part0017_split_000.html
part0017_split_001.html
part0018_split_000.html
part0018_split_001.html
part0019_split_000.html
part0019_split_001.html
part0020_split_000.html
part0020_split_001.html
part0021_split_000.html
part0021_split_001.html
part0022_split_000.html
part0022_split_001.html
part0023_split_000.html
part0023_split_001.html
part0024_split_000.html
part0024_split_001.html
part0025_split_000.html
part0025_split_001.html
part0026_split_000.html
part0026_split_001.html
part0027_split_000.html
part0027_split_001.html
part0028_split_000.html
part0028_split_001.html
part0029_split_000.html
part0029_split_001.html
part0030_split_000.html
part0030_split_001.html
part0031_split_000.html
part0031_split_001.html
part0032_split_000.html
part0032_split_001.html
part0033_split_000.html
part0033_split_001.html
part0034_split_000.html
part0034_split_001.html
part0035_split_000.html
part0035_split_001.html
part0036_split_000.html
part0036_split_001.html
part0037_split_000.html
part0037_split_001.html
part0038_split_000.html
part0038_split_001.html
part0039_split_000.html
part0039_split_001.html
part0040_split_000.html
part0040_split_001.html
part0041_split_000.html
part0041_split_001.html
part0042_split_000.html
part0042_split_001.html
part0043_split_000.html
part0043_split_001.html
part0044_split_000.html
part0044_split_001.html
part0045_split_000.html
part0045_split_001.html
part0046_split_000.html
part0046_split_001.html
part0047_split_000.html
part0047_split_001.html
part0048_split_000.html
part0048_split_001.html
part0049_split_000.html
part0049_split_001.html
part0050_split_000.html
part0050_split_001.html
part0051_split_000.html
part0051_split_001.html
part0052_split_000.html
part0052_split_001.html
part0053_split_000.html
part0053_split_001.html
part0054_split_000.html
part0054_split_001.html
part0055_split_000.html
part0055_split_001.html
part0056_split_000.html
part0056_split_001.html
part0057_split_000.html
part0057_split_001.html
part0058_split_000.html
part0058_split_001.html
part0059_split_000.html
part0059_split_001.html
part0060_split_000.html
part0060_split_001.html
part0061_split_000.html
part0061_split_001.html
part0062_split_000.html
part0062_split_001.html
part0063_split_000.html
part0063_split_001.html
part0064.html
part0065_split_000.html
part0065_split_001.html
part0066.html