Zweite Theorie:

Mord

5 U.S. Route 53, Minnesota

Donnerstag, 13. September

»Glauben Sie, wir werden miteinander vögeln? Das soll kein Angebot sein. Ich will bloß Ihre Meinung hören.«

Ich fahre.

»Sind Sie betrunken?«

Über ihre Sonnenbrille hinweg: »Nein, bin ich nicht, vielen Dank, Herr Doktor.«

Vielleicht ist sie wirklich nicht betrunken. Als Duluth hinter uns lag, das sich als ein Gewirr von Autobahnkreuzen zwischen neuen Papierfabriken entpuppte, deren Schornsteine große, dunkle Rauchwolken ausstießen, haben wir an einem Dairy Queen gehalten, um etwas zu essen. Violet hat an der Tankstelle nebenan zwei Bier besorgt, und da ich keins haben wollte, hat sie beide getrunken. Aber das ist schon eine Stunde her.

»Dann wahrscheinlich schon«, sage ich.

»Was fällt Ihnen ein! Und warum?«

»Wir kennen uns nicht, wir verbringen ein paar Tage an einem fremden Ort. Nichts klingt so erotisch wie ›Nach nächster Woche wirst du mich nie wiedersehen‹.«

»Haben Sie das auf Kreuzfahrtschiffen gelernt?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das schon vorher wusste.«

»Aus Ihrer Zeit als männliche Schlampe?«

»Wir bevorzugen das Wort ›Herzensbrecher‹.«[18]

»Scharf. Nicht so scharf wie ›Nach nächster Woche wirst du mich nie wiedersehen‹, aber immerhin.«

»Sie meinen, das stimmt nicht?«

»Ich denke, das Ganze ist eine U-förmige Kurve. Mit manchen Leuten will man vögeln, wenn man ihnen begegnet, weil sie versponnen und geheimnisvoll sind, dann hat man keine Lust mehr drauf, weil man von ihnen genug hat, und irgendwann will man’s wieder. Weil man sie richtig kennt.«

»Muss schön sein.«

»Ich hab nicht gesagt, dass das auf meiner Erfahrung beruht. Aber was soll’s? Die Stringtheorie beruht auch nicht auf meiner Erfahrung.«

»Ich glaube nicht an die Stringtheorie.«

»Ich auch nicht. Obwohl ich glaube, die Stringtheorie ist wahrscheinlicher, als dass ich mit jemandem zusammen bin, der sich nicht als Trottel erweist.«

»Irgendwas am Laufen in letzter Zeit?«

Das sind genau die Themen, die ich besser meiden sollte. Ich habe nicht vor, Violet Hurst irgendwas Richtiges über mich zu erzählen, warum sollte ich ihr dann Fragen stellen? Aber ich habe nicht besonders viel Zeit mit Frauen verbracht, die wie Wonder Woman aussehen und im Auto betrunken auf mich einreden.

Vielleicht sollte ich öfter fahren.

»Sogar in allerletzter Zeit«, sagt sie.

»Und läuft es noch?«

Oder an einer Talkshow teilnehmen.

»Ich weiß es nicht mal. Es ist bloß wieder das übliche männliche Fluchtverhalten, das auf heftiges Interesse folgt. Das nach einer Weile schal wird. Okay, jetzt halten Sie mich für eine Schlampe, weil ich gern flirte, obwohl ich so was wie einen Freund habe.«

»Jetzt halten Sie mich aber für voreingenommen.«

Sie mustert mich. »Sie sind ein bisschen intelligenter, als Sie aussehen.«

»Es ist eine U-förmige Kurve. Fünf Minuten später wirke ich wieder strohdumm.«

»Ha. Also, ich bin keine Schlampe. Jedenfalls nicht in üblem Sinn. Ich tue bloß gern so, als hätte ich einen Freund, und muss wirklich lernen, dass das nicht stimmt. Soll ich noch mehr beschissene Seiten meines Lebens vor Ihnen ausbreiten?«

Ja, aber ich bin so klug, das Ganze abzubrechen. Oder so eifersüchtig.

Es muss nicht unbedingt stimmen, dass da draußen irgendein Volltrottel eine Chance bei ihr hat und zu feige ist, sie zu ergreifen. Vielleicht stellt sich ja, wenn man mit ihr zusammen ist, nach drei Tagen heraus, dass sie nicht zu ertragen ist.

Das werde ich nie erfahren.

»Ich weiß nicht genau. Kommt drauf an, was im Radio läuft«, sage ich.

»Wenn Sie nicht reden, sind Sie witziger.«

Ich muss lachen.

»Lachen mitgerechnet. Und überhaupt, wie ist es denn um Ihr Liebesleben bestellt?«

Sehen Sie? Man sollte niemals mit jemandem reden.

»Das existiert nicht.«

»Seit wann?«

»Schon lange.«

»Und warum?«

»Ich dachte, es geht darum, geheimnisvoll zu sein«, sage ich.

»Geheimnisvoll und gruselig ausweichend ist nicht dasselbe.«

»Hey, zumindest bin ich nicht für Rec Bill auf paläontologischer Geheimmission.«

»Außer diesmal.«

»Gutes Argument.«

»Danke. Was haben Sie vor der Arbeit auf Kreuzfahrtschiffen gemacht?«

»Medizin studiert und so was.«

»In Mexiko. Ich hab Sie gegoogelt. Warum gerade da?«

»Hab in den Vereinigten Staaten keinen Studienplatz bekommen. Wollte aber trotzdem Arzt werden.«

»Waren sie ein ungezogener Junge?«

»Ein ungezogener Was-nicht-alles.«

»Wie war das?«

»Gut.«

Sie seufzt. »Ihnen muss man aber auch alles aus der Nase ziehen.«

»Ich muss auf den Kreuzfahrtschiffen immer Zähne ziehen.«

»Wirklich?«

»Das gehört zu meinem Job.«

Nichts kann ein Gespräch so entgleisen lassen wie medizinische Absurditäten.

»Woher stammen Sie?«, frage ich.

»Wechseln Sie nicht das Thema.«

»Welches Thema?«

»Sie.«

Doch wir wissen beide, dass ich sie zermürbt habe. Sowas kann ich wirklich gut.

 

»Ach du meine Scheiße«, sagt Violet.

Seit dem Gespräch sind ein paar Stunden verstrichen, und wir fahren die Hauptstraße von Ford entlang. Nicht dieselbe Highwayabfahrt wie CFS Outfitters & Lodge, wo wir morgen erwartet werden, sondern die Abfahrt davor. Das eigentliche Ford.

Das eigentliche Ford sieht aus, als wollte jemand damit die Marktfähigkeit der Apokalypse testen. Alles – die Häuser, die Halle der Veteranenvereinigung, die Einkaufszeilen, die niedrigen Bürogebäude aus Backstein – ist mit Brettern vernagelt, eingestürzt oder zugewuchert. Die einzigen Leute, die wir sehen, sind ein paar mit Daunenwesten und Baseballkappen bekleidete Untote, die, als sie uns sehen, ihre Zigaretten fallen lassen und in verschiedene Richtungen davontorkeln.

Ich habe dieselben Vorurteile gegen die Landbevölkerung wie die meisten amerikanischen Städter[19], aber diesen Ort hat sich niemand ausgesucht. Als wir einen Mann Mitte zwanzig auf einem Fahrrad überholen, kommt er uns ziemlich sportlich vor, doch dann fällt mir die Zweiliterflasche Pepsi auf, die auf seinem Hinterreifen auf und ab hüpft, und ich begreife, dass er sich eine Ladung Meth reinzieht.

»Das ist ja schrecklich«, sagt Violet.

»Ich dachte, Sie stammen aus Kansas.«

»Scheiße, ich stamme aus Lawrence. Das ist hiermit überhaupt nicht zu vergleichen.«

»Dabei war ich schon fast beeindruckt.«

»Sie kommen bestimmt drüber weg. Aber hier sollte es auch nicht so aussehen. Bob Dylan stammt aus dieser Gegend.«

»Das ist lange her.«[20]

»Und hier wurde Al Franken gewählt, mehr oder weniger.«

»Und Michele Bachmann.«

»Die Leute hier haben nichts mit Michele Bachmann zu tun. Ihr Wahlbezirk liegt ein ganzes Stück südlich von Ford.«

Wenigstens die Gemischtwarenhandlung mit den Zapfsäulen davor hat geöffnet. Ich erkenne sie aus dem Dokumentarfilm wieder, der Rec Bill zugeschickt wurde. Im Schaufenster hängt immer noch das leuchtend orangefarbene Budweiser-Plakat mit einem Wapiti im Fadenkreuz. Und zwei Straßen weiter sehe ich einen Wagen vor einem Lokal namens Debbie’s stehen.

Ich biege auf den Parkplatz. Vielleicht hat Debbie’s auch geöffnet.

 

Als Violet und ich die Tür öffnen, deren Glasscheibe zerbrochen ist und durch eine Sperrholzplatte an ihrem Platz gehalten wird, ertönen Katzenglöckchen. Das Lokal ist leer, doch die Neonbeleuchtung ist an, und im Fenster steht ein Schild mit der Aufschrift »GEÖFFNET«.

»Hallo?«, ruft Violet.

Auf der anderen Seite des Raumes streckt eine Blondine in weißem T-Shirt den Kopf aus der Küche. Fünfundvierzig und hartgesotten.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Äh … gibt’s bei Ihnen was zu essen?«, fragt Violet.

Die Frau starrt uns beängstigend lange an. »Das hier ist ein Restaurant, Schätzchen. Sie können sich hinsetzen, wo Sie wollen. Ich bin gleich wieder da. Die Speisekarten sind auf dem Tisch.«

Wir entscheiden uns für eine Nische vorn an der Tür. Wir haben so lange nebeneinander gesessen, dass es faszinierend ist, ihr in die Augen zu schauen.

»Was ist?«, fragt sie. »Hab ich irgendwas im Gesicht?«

»Nein.«

Trotzdem mustert sie sich im Spiegel. Um sie nicht länger anzusehen, nehme ich mir eine der Speisekarten. Sie ist klebrig, als wäre sie mit zerstäubtem Sirup besprüht worden.

Aus der Küche hören wir, wie etwas Metallenes gegen etwas anderes scheppert. Dann hören wir eine Frau, vermutlich dieselbe wie eben, brüllen: »IHR MÜSST LERNEN, DAS VERDAMMTE SCHILD UMZUDREHEN

»Huh«, sagt Violet. »Meinen Sie, wir sollten lieber gehen?«

»Wahrscheinlich schon. Aber ich hätte nichts dagegen, noch kurz zu bleiben.«

Ganz ausgelassen und aufgeregt reißt sie die Augen auf. »Sie meinen, im Zuge unserer Nachforschungen

Die Tür zur Küche schwingt so heftig auf, dass man befürchtet, die Scheibe des Bullauges würde es nicht überstehen – vielleicht ist mit der Eingangstür dasselbe passiert –, und die Frau kommt zu unserem Tisch marschiert, als hätte sie vor, uns zu ohrfeigen.

»Haben Sie sich entschieden?«, fragt sie.

»Sind Sie sicher, dass Sie geöffnet haben?«, erkundigt sich Violet.

»Steht doch auf dem Schild.«

»Stimmt, aber wir können …«

Die Frau lächelt grimmig. »Was wollen Sie haben, Schätzchen?«

»French Toast, bitte«, sagt Violet.

»Einen Hamburger und einen Schokoladen-Milchshake«, füge ich hinzu.

»Bei uns gibt’s keine Milchshakes«, erwidert die Frau.

»Sie sind doch kein Fünfjähriger«, hält Violet mir vor und fragt dann die Kellnerin: »Haben Sie Bier?«

»Pabst und Michelob Light. Das Pabst könnte aus sein.«

»Dann zwei Michelob Light.«

»Wollen Sie den Hamburger noch haben?«

»Klar, danke.«

»Hey, sind Sie Debbie?«, erkundigt sich Violet.

»Niemand kann was dafür, wer er ist.«

Auf dem Weg zurück in die Küche bleibt sie vor einer Kühltruhe an der Wand stehen. Holt einen in Zellophan verpackten Fertigtoast raus. Violet sieht nichts davon.

Es ist interessant. Ich war schon öfter in solch unfreundlichen Restaurants, aber die meisten davon waren in Brooklyn südlich der Fünfundsechzigsten Straße oder in Queens östlich vom Cross Bay Boulevard und dienten anderen Zwecken, als Speisen anzubieten.[21] Für dieses Lokal hier gilt das nicht unbedingt – die Welt ist mit Sicherheit voller Restaurants, die sich ihren beschissenen Zustand auf ehrliche Weise verdienen – trotzdem ist das Ganze ziemlich seltsam.

»Sehen Sie nur«, sagt Violet.

Ich folge ihrem Blick zu einem Schild an der Wand: »BESCHWEREN SIE SICH RUHIG WEITER. WENN DAS LICHT AUSGEHT, WEISS ICH, WO ICH HINZIELEN MUSS

»Was zum Teufel ist bloß mit diesem Laden los?«, fragt Violet.