Erste Theorie:
Schwindel
1 Karibisches Meer hundert Meilen östlich von Belize
Donnerstag, 19. Juli
Auf dem Telegramm steht bloß: »ISMAEL – RUF MICH AN«, aber als es unter der Tür durchgeschoben wird, bin ich gerade damit beschäftigt, einem armen Teufel mit einer Zange ein paar Zähne zu ziehen, deshalb lese ich es erst später.
Der Typ ist ein Huaorani-Indianer aus dem Amazonasgebiet in Ecuador, totaler Beatlemania-Haarschnitt und so, obwohl er die weiße Wäscherei-Uniform trägt.
Natürlich sind auf dem Schiff alle Uniformen weiß.
Ich klopfe vorsichtig gegen seinen nächsten Backenzahn und frage: »¿Seguro?«
»Nein«, sagt er.
»¿Verdad?«
»Alles in Ordnung.«
Vielleicht stimmt es ja. Nach allem, was ich über Zahnmedizin weiß – zugegebenermaßen beruht dieses Wissen nur auf ungefähr drei Stunden Demonstrationsvideos bei YouTube –, betäubt eine Lidocain-Injektion in den hinteren oberen Alveolarnerv bei etwa zwei Dritteln aller Menschen den dritten Backenzahn. Die anderen brauchen eine zweite Injektion in den mittleren oberen Alveolar, sonst spüren sie alles.
Jeder richtige Zahnarzt würde vermutlich beide Spritzen geben. Aber genau diese Vorgehensweise hat dazu geführt, dass ich das gesamte Lidocain in der Mannschaftsklinik schon aufgebraucht habe, und auch fast alles, was ich aus der Passagierklinik stehlen konnte. Deshalb muss ich jetzt an die Zähne klopfen und fragen. Und viele meiner Patienten sind zu viril oder bloß zu höflich, um einzugestehen, dass sie noch etwas spüren.
Tja, was soll’s. Spar dir das Lido für jemanden auf, der zu viel Angst hat, um zu lügen.
Ich drehe den Backenzahn so schnell und sanft wie möglich heraus. Trotzdem zerbröckelt er in der Zange zu schwarzem Gries. Rasch fange ich die Bröckchen mit der behandschuhten Hand, bevor sie die Uniform des Mannes beschmutzen können.
Ich habe den Eindruck, dass ich im Speicher noch mal einen Vortrag über Mundhygiene halten sollte. Der letzte hat anscheinend nichts gebracht, aber während meiner Rede gab’s dort wenigstens nicht so viele Messerstechereien.
Ich streife die Handschuhe über dem Waschbecken ab. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass dem Mann Tränen übers Gesicht laufen.
Feuerdeck 40 ist eine Metallplattform zwischen zwei Schornsteinen – soweit ich weiß, der höchste Punkt des Schiffes, an dem man stehen kann. Weiß der Geier, was das Ganze mit Feuer zu tun hat.
Sonnenuntergang, der Wind so heiß wie aus einem Fön. Am Horizont türmt sich parallel zum Schiff eine riesige Wolkenwand. Schillernde Rot- und Grautöne, die sich überlappen wie Eingeweide.
Ich ertrage das verdammte Meer nicht. Auch in physiologischem Sinne, wie sich herausgestellt hat. Auf dem Meer kann ich nicht richtig schlafen, bin nervös und anfällig für Flashbacks. Auch deshalb ist der Job als stellvertretender Arzt auf einem Kreuzfahrtschiff genau das, was ich verdient habe.
Nicht, dass ich wahnsinnig viele Möglichkeiten gehabt hätte. Falls es eine andere Branche gibt, die so viele Ärzte einstellt, ohne sich darum zu scheren, ob ihr Diplom – in meinem Fall von der Universität Zihutanejo, unter dem Namen »Lionel Azimuth« – echt oder bloß von handelsüblichen Unterlagen abgekupfert ist, dann ist mir das bisher entgangen. Und obendrein eine Branche, die kaum von der Mafia infiltriert ist.[1]
Die Luke in der Wand neben einem der Schornsteine öffnet sich knarrend, und ein Schwarzer in der langärmeligen (weißen) Uniform der stellvertretenden untersten Deckaufsicht erscheint.
»Dr. Azimuth«, sagt er.
»Mr Ngunde.«[2]
Mr Ngunde starrt mich an. »Doktor, Ihr Hemd steht offen.«
Das stimmt. Obwohl ich ein weißes Unterhemd trage, lasse ich mein weißes kurzärmeliges Uniformhemd mit den goldenen Epauletten offen. Auf die Art komme ich mir vor wie der betrunkene Pilot einer Fluglinie.
»Ich glaube, daran stört sich niemand«, sage ich und blicke über den Rand der Plattform.
Von hier aus betrachtet, scheint das Schiff, das doppelt so breit und dreimal so lang ist wie die Titanic, hauptsächlich aus weißen Dächern und Telekommunikationsanlagen zu bestehen, doch man kann auch ein paar arme Teufel sehen, die die Aufgabe haben, Ausschau nach Piraten zu halten. Die Passagierbereiche, die ich überblicke, wie den Nintendo-Dom und den hintersten Indoor/Outdoor-Pool, sind garantiert leer, denn in den fünf großen Restaurants des Schiffes wird seit einer halben Stunde das Abendessen serviert.
Mr Ngunde kommt nicht zu mir rüber. Das ruft mir ins Gedächtnis, dass er Höhenangst hat, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil er bis hier raufkommen musste, um mich zu finden. Und weil ich ihn leichtfertig zu einem Verstoß gegen die Vorschriften verleitet habe, für den man ihn feuern und im nächsten Hafen von Bord schicken würde – wohingegen ich, betrunken und von dem brennenden Wunsch beseelt, gefeuert zu werden, anscheinend aus der Kabine kommen und einen Sicherheitsbediensteten umrennen kann, und der sich sogar noch entschuldigt. Sofern Mr Ngunde keiner speziellen Aufgabe wie dem Fahren der Eisglättmaschine nachgeht, darf er sich nirgends aufhalten, wo er von den Passagieren gesehen werden könnte. Ganz egal, wie sein Hemd aussieht.
Da ich gerade an die Eisglättmaschine denke, frage ich: »Wie geht’s Ihrem Arm?«
»Sehr gut, Doktor.«
Das kommt mir unwahrscheinlich vor. Am linken Unterarm hat Mr Ngunde eine große, vom Ärmel verdeckte Brandwunde, weil er versucht hat, bei heißem Motor Lenkflüssigkeit in die Maschine nachzufüllen. Ich konnte auf dem ganzen Schiff keinen Tetanusimpfstoff finden. Und ich habe auch noch nicht oft genug Tetanus gesehen, um zu wissen, wie besorgt ich deswegen sein müsste.
»Und der Durchfall?«, fragt Mr Ngunde.
»Ist zurückgegangen. Essen Sie einfach nichts von dem Eintopf.«
»Danke, Doktor. Viele Untersuchungen heute Nachmittag?«
»Geht so.«
»Irgendwas Interessantes?«
»Nein.«
Mr Ngunde will wissen, ob einer meiner Patienten so unzufrieden war, dass er es einem der Abteilungschefs melden müsste. Ich nehme ihm das nicht übel. Irgendwann in den nächsten vierundzwanzig Stunden wird mich ein Vorgesetzter von Mr Ngunde ganz beiläufig fragen, ob Mr Ngunde vor kurzem mit mir gesprochen und dabei irgendwas Interessantes gesagt hat.
Trotzdem ist es saublöd, denn es ruft mir ins Gedächtnis, dass ich bei einer Kreuzfahrtlinie angestellt bin. Mein eigener Job strotzt vor Privilegien: Ich habe meine eigene Kabine, ich brauche in den meisten Restaurants nichts zu bezahlen und habe – wie der Erste Schiffsarzt – einen Platz im Rettungsboot Nr. 1, dem des Kapitäns.[3] Aber die meisten meiner Patienten wünschen sich, sie hätten ihre dreckigen Slums und Dörfer nie verlassen. Sie verdienen etwa sechshundert Dollar im Monat, und davon müssen sie die Bestechungsgelder für neue Arbeitsutensilien bezahlen, das Geld für eine Vertretung, wenn sie mal schlafen wollen, die Zinsen für die Darlehen, die sie aufgenommen haben, um herkommen zu können, und die teuren Überweisungen, die verhindern sollen, dass ihre Kinder – da sei Gott vor – je auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten müssen. Ob das, was ich tue, ihr Leben verbessert oder bloß zu ihrer Ausbeutung beiträgt, wird für immer ein Geheimnis bleiben.[4]
»Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Doktor.«
»Natürlich, Mr Ngunde. Tut mir leid.« Er schwitzt.
Als er die Luke hinter sich zuzieht, fällt mir das Telegramm ein, das ich vom Klinikfußboden aufgehoben habe. Hole es raus und lese es.
»ISMAEL. RUF MICH AN.«
Interessant.
Ismael war mein Deckname bei WITSEC, dem nationalen Zeugenschutzprogramm, doch der einzige Mensch, der mich wirklich so nannte, war Professor Marmoset. Der mich in WITSEC unterbrachte und mir dann ein Medizinstudium ermöglichte. Und mich später, als ich in Schwierigkeiten steckte, aus New York City rausholte.
Marmoset redet nicht viel. Er meldet sich auch nicht oft. Wenn doch, dann ist es ernst. Es könnte bedeuten, dass irgendwo ein Job wartet. Vielleicht sogar als Arzt.
Vielleicht sogar an Land.
Doch ohne weitere Informationen sollte man gar nicht erst darüber nachdenken. Der Job, den ich im Moment habe, ist schon beschissen genug, wenn man sich nicht vorstellt, man könnte was anderes tun.
Also konzentrier dich auf das Schwanken des Schiffes. Spür, wie dich die Übelkeit überkommt.
Du findest die Antwort noch früh genug raus.